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Europa ist nicht genug

Die deutsch geführte EU geht in die weltpolitische Offensive. Sie begibt sich damit in wachsende Konkurrenz zu den USA

Von Jörg Kronauer *

Willkommen in der Wirklichkeit!« Michael Gahler, CDU-Europaabgeordneter und sicherheitspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion im Europaparlament, applaudierte begeistert. Soeben hat die Bundesregierung klargestellt, daß sie eine Ausdehnung der Bundeswehreinsätze in afrikanischen Ländern anstrebt, zunächst in Mali und vermutlich in der Zentralafrikanischen Republik. Das sei endlich einmal ein »Beleg dafür«, meinte Gahler in einer Presseerklärung vom 20. Januar, »daß die neue Bundesregierung sich von einer Position verabschiedet, die in Deutschland als ›Kultur der Zurückhaltung‹ bezeichnet wurde«. Kultur der Zurückhaltung? Knapp 5000 deutsche Soldaten sind Mitte Januar 2014 in elf Staaten auf drei Kontinenten in Einsatz, zwar mit aktuell rückläufiger Tendenz, dies aber nur deshalb, weil die Bundeswehr nach gut 13 Jahren Besatzung weitgehend aus Afghanistan abgezogen wird. Wenn das Zurückhaltung sein soll, dann kann man ahnen, was das militärpolitische Establishment der Bundesrepublik in Zukunft mit den Truppen anstellen will, die nach dem Rückzug vom Hindukusch frei werden: Sie stehen für die militärische Offensive der EU bereit, für die Berlin seit letztem Herbst lautstark trommelt.

Aus der Sicht des CDU/CSU-SPD-Kabinetts ist die Zeit reif für noch ausgreiferende Einmischungen. Der Grund ist simpel: Die Euro-Krise hat die Machtverhältnisse in Europa eindeutig geklärt. Traditionell war die Außenpolitik das Feld, auf dem Frankreich seinen wirtschaftlichen Rückstand gegenüber der Bundesrepublik wettzumachen suchte – durchaus auch mit Gewalt. Die französischen Kriege in Afrika zeigten das immer wieder. Im Frühjahr 2011 etwa intervenierte Paris in der Côte d’Ivoire und manifestierte damit seine Rolle als »Ordnungsmacht« in der afrikanischen Frankophonie. Das kam auch der französischen Wirtschaft zugute: »Der neue Präsident Ouattara«, den man ins Amt gebombt hatte, öffne »französischen Konzernen Tür und Tor«, resümierte die FAZ am 12.12.2013. Durch die Krise gerät dieses Modell jedoch ins Wanken. Paris, ökonomisch stark angeschlagen, sucht die EU für seine militärischen Vorhaben zu Hilfe zu nehmen und deren Truppen nach Afrika zu schicken. Lange hat Berlin das verhindert, weil es nur für deutsche Ziele Krieg führen will. Inzwischen aber haben sich die Dinge geändert. Denn die Chancen, sich außen- und militärpolitisch im direkten Machtkampf gegen Frankreich durchzusetzen, stehen gut.

Kanzlerin der EU

Berlin kann die Dominanz, die ihm sein ökonomischer Durchmarsch in der Krise verschafft hat, heute offen einsetzen. Schon im Januar 2011 hatte die Fachzeitschrift Internationale Politik einen Beitrag online gestellt, in dem es hieß, Angela Merkel sei »längst nicht mehr nur Deutschlands, sondern auch ›EU-Kanzlerin‹«. Dies sichere ihr eine Art »Richtlinienkompetenz«, die sie jederzeit nutzen könne. Frankreichs damaliger Präsident Nicolas Sarkozy hingegen, der im Vorjahr die Machtkämpfe um die EU-Krisenstrategie gegen die Deutschen mit ihren Austeritätsdiktaten verloren hatte, müsse sich mit der »Rolle des Vizekanzlers« zufriedengeben. Was damals noch ein wenig provozierte, konnte von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Ende Oktober 2013 analytisch kühl wiederholt werden. In der EU finde »gegenwärtig eine größere Machtumverteilung statt«, hieß es in einer Stellungnahme aus dem Thinktank. »Das relative Gewicht Deutschlands nimmt zu«; demgegenüber seien »Frankreich und die Staaten des Südens (…) stärker von der Schuldenkrise betroffen und verlieren dadurch an Einfluß«. In der Tat steht damit der »deutschen Führung«, wie man das im offiziellen Jargon nennt, auch in der Außenpolitik nichts mehr im Wege.

Entsprechend hat Berlin unmittelbar nach der Bundestagswahl eine neue weltpolitische Offensive gestartet, für die es selbstverständlich auch die Instrumente der EU zu nutzen gedenkt. Den Startschuß gab Bundespräsident Joachim Gauck. In seiner Rede zum Nationalfeiertag 2013 behauptete er, es mehrten sich »Stimmen innerhalb und außerhalb unseres Landes, die von Deutschland mehr Engagement in der internationalen Politik« forderten. Es gehe nicht mehr an, »daß Deutschland sich klein macht«, er, Gauck, betrachte vielmehr »unser Land als Nation, die … ›ja‹ sagt zu sich selbst«. Die Bundesrepublik sei »keine Insel«, sie müsse sich zukünftig noch stärker als bisher an der »Lösung« globaler Konflikte, auch militärischer, beteiligen. Auch über den Rahmen, in dem dies geschehen solle, äußerte sich der Bundespräsident unter Bezugnahme auf eine der erwähnten »Stimmen«: »Einer meiner Vorgänger, Richard von Weizsäcker, ermuntert Deutschland, sich stärker einzubringen für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik.«

Noch im selben Monat veröffentlichte die SWP unter dem programmatischen Titel »Neue Macht. Neue Verantwortung« ein Grundsatzpapier zur künftigen deutschen Außen- und Militärpolitik. Das Dokument ist aus mehreren Gründen von erheblichem Interesse. Zum einen markiert es klar und deutlich den Anspruch Berlins, weltpolitisch offensiver aufzutreten. Deutschland besitze heute »mehr Macht und Einfluß als jedes demokratische Deutschland« zuvor, heißt es in dem Papier; seine »gewachsene Kraft« verleihe ihm »heute neue Einflußmöglichkeiten«. In den vergangenen Jahren habe es aber, »zumindest im Verhältnis zu seiner Wirtschaftskraft, seinem geopolitischen Gewicht und seinem internationalen Ansehen, eher selektiv und zögerlich Gestaltungsangebote gemacht«. Die Bundesrepublik gebe sich noch als »eine Gestaltungsmacht im Wartestand«. Dies müsse sich nun jedoch ändern: »Deutschland wird künftig öfter und entschiedener führen müssen.«

Von Bedeutung ist die Ausarbeitung nicht nur wegen der offensiven Zielsetzung, sondern auch wegen des soziopolitischen Hintergrundes. Es ist das Resultat eines Projekts, das die – vom Kanzleramt finanzierte – SWP und der German Marshall Fund of the United States gemeinsam im November 2012 starteten und im September 2013 zu Ende brachten. Gefördert wurde dies vom Planungsstab des Auswärtigen Amts, dessen Leiter zu den über 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Projektes gehörte. Das Papier ist also von durchaus prominenten Stellen initiiert worden. An der Erstellung waren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Ministerien, Thinktanks und Stiftungen, Vertreter des BDI und der Daimler AG sowie Redakteure der FAZ und der Zeit beteiligt. Bundestagsabgeordnete, darunter auch einer von der Linkspartei (Stefan Liebich), mehrere Universitätsprofessoren und der im März 2013 aus seinem Amt geschiedene Generalsekretär von Amnesty International Deutschland, Wolfgang Grenz, nahmen ebenfalls an den Projektdebatten teil. Das Papier, das dabei herauskam, wird von der SWP wie auch von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) über deren Blatt Internationale Politik breit beworben. Die »Strategic Community«, das außenpolitische Establishment der Republik, macht Druck.

Schließlich verdient das Grundsatzdokument wegen seiner Aussagen zu der Frage Beachtung, wie sich das aggressiver gewordene Deutschland zu den Vereinigten Staaten verhält – umso mehr, als der German Marshall Fund of the United States zu seinen Initiatoren zählt. Es ist längst bekannt, daß die USA sich künftig stärker in Ost- und Südostasien engagieren wollen – auch militärisch –, um dort ihre Positionen gegen das mächtiger werdende China auszubauen. Ebenfalls immer wieder thematisiert wird, daß sie nicht unbegrenzte Kapazitäten haben und deshalb an anderer Stelle Abstriche machen müssen. Oft ist die Rede davon, die EU solle die Kontrolle über weite Teile Afrikas und über den Nahen und Mittleren Osten übernehmen, um Washington zu entlasten. Die USA seien »zumindest auf absehbare Zeit die einzige Supermacht mit globalem Ordnungswillen und Reichweite«, heißt es nun in dem SWP-Papier. Aber Washington signalisiere »im Bewußtsein geschrumpfter materieller Ressourcen deutlich, daß Amerikas Engagement in der Welt künftig selektiver und sein Anspruch an Partner entsprechend höher sein wird. Vor allem für Europa und Deutschland bedeutet dies einen großen Zuwachs an Aufgaben und Verantwortung.«

Weltmacht im Wartestand

Steigt die deutsch geführte EU nun weltpolitisch weiter auf, an der Seite Washingtons, vielleicht gar »auf Augenhöhe«, wie es viele ausdrücken, mit den USA? Das haben einflußreiche Berater im außenpolitischen Establishment der Bundesrepublik in der Tat schon lange für möglich gehalten. Einer, der immer wieder darüber geschrieben und gesprochen hat, ist Werner Weidenfeld, ehedem Kohl-Berater, Chefaußenpolitiker der Bertelsmann-Stiftung und lange Zeit einer der einflußreichsten deutschen Experten auf diesem Feld. Charakteristisch ist etwa ein Weidenfeld-Beitrag vom März 2003 in der Welt. Damals standen die Vereinigten Staaten kurz vor dem Überfall auf den Irak und befanden sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht, scheinbar jenseits jeglicher Konkurrenz. Weidenfeld verglich nüchtern trockene Daten wie Bruttosozialprodukt und Einwohnerzahl von EU und USA und kam zu dem Schluß, daß aufgrund ihres Potentials die EU »eine Weltmacht im Werden« sei. Die »Schlüsselfrage« sei bloß: »Kann Europa dieses Potential in weltpolitische Gestaltungskraft übersetzen?« Brüssel fehle bislang eine »weltpolitische Strategie«. Eigne die EU sich eine solche Perspektive an, dann könne sie ihr Potential wohl auch realisieren.

Die EU als Weltmacht – ist das nicht blanker Größenwahn? Vielleicht schon. Aber das heißt ja nicht, daß Berlin und Brüssel es nicht doch probieren. Die Konkurrenzkämpfe mit den USA sind jedenfalls auf diversen Ebenen voll entbrannt. Für viel Ärger sorgt in letzter Zeit zum Beispiel die deutsche Austeritätspolitik. Die Reallohnkürzungen des vergangenen Jahrzehnts und die »Agenda 2010« haben der hiesigen Industrie große Vorteile verschafft, und das nicht nur gegenüber der innereuropäischen, sondern auch gegenüber der außereuropäischen Konkurrenz. Die Exportwirtschaft der BRD brummt – und sie stürzt nicht nur Frankreich in ein Rekordminus im bilateralen Austausch (40 Milliarden Euro Außenhandelsdefizit 2012 allein gegenüber der Bundesrepublik), sondern auch die Vereinigten Staaten. Berlin ist es gelungen, den Exportrückgang gegenüber den südeuropäischen Krisenstaaten durch eine Steigerung der Ausfuhren in die USA auszugleichen, die von 65,5 Milliarden Euro im Jahr 2010 auf fast 87 Milliarden 2012 in die Höhe schossen. Das US-Handelsdefizit gegenüber der Bundesrepublik stieg damit von 20,5 (2010) auf über 36 Milliarden Euro (2012). Dies aber bedeutet, daß Deutschland seinem transatlantischen Verbündeten immer mehr Geld aus der Tasche zieht – ganz wie jahrelang seinen südeuropäischen EU-Partnern.

Die Reaktionen aus Washington sind entsprechend harsch. Im vergangenen Herbst warnten erst das US-Finanzministerium und dann auch der Internationale Währungsfonds (IWF), die exzessiven deutschen Exportüberschüsse machten zwar die Bundesrepublik reich, drohten aber nicht nur die Euro-Zone noch tiefer in die Krise zu stürzen. Scharfe Kritik kommt immer wieder von US-Keynesianern wie dem Ökonom Paul Krugman. »Fünf Jahre nach dem Sturz von Lehman steckt die Weltwirtschaft immer noch in der Depression und leidet an einer anhaltenden Nachfrageschwäche«, schrieb Krugman Anfang November 2013 in der New York Times: »Ein Land« – er meinte Deutschland –, »das in einem solchen Umfeld ein Außenhandelsplus aufweist, macht (…) seine Nachbarn bettelarm. Es lenkt deren Ausgaben von deren Waren und Dienstleistungen zu seinen eigenen hin und nimmt ihnen auf diese Weise Arbeitsplätze.« Krugman wettert gegen den deutschen Austeritätsfetisch, wo er kann. Im Januar forderte er etwa im irischen Rundfunk, die europäischen Krisenstaaten sollten sich endlich gegen die deutschen Spardiktate zusammenschließen. Tatsächlich gelingt es Berlin, genau das Gegenteil durchzusetzen: Seit Frankreichs Präsident François Hollande Mitte Januar angekündigt hat, im Kern das deutsche »Agenda 2010«-Modell zu übernehmen, hat Berlin mit seiner Exportfixierung in Europa endgültig freie Bahn. In Washington wird das durchaus als Kampfansage begriffen.

Und es ist bei weitem nicht die einzige. Josef Braml, USA-Experte bei der DGAP, hat im letzten Herbst in Medieninterviews immer wieder auf die politische Bedeutung der Euro-Währung hingewiesen. »In Wirtschaft und Handel sind wir Konkurrenten geworden«, äußerte er gegenüber Bild. Darüber hinaus aber »bedroht der Euro heute die Dollar-Dominanz«. Das wiege schwer, denn »dank ihres Dollar-Privilegs bekamen die USA in den vergangenen Jahrzehnten die Währungsreserven der Welt fast zum Nulltarif und konnten über ihre Verhältnisse leben«. Der Euro versetze diesem »Wirtschaftsmodell, das auf Pump basierte«, nun einen schweren Schlag; »also kämpfen die USA rabiater für ihre Interessen«. Im Interview mit der Zeit spekulierte DGAP-Experte Braml gar, die Abhöraffäre um Merkels Handy habe etwas mit der Währungskonkurrenz zu tun: »Der Euro ist jetzt der Rivale zum Dollar geworden, und das führt dazu, daß die USA sehr genau wissen wollen, was die Führungsmacht des Rivalen Europa so denkt und tut.«

Apropos Spionage

Ist nicht die Erkenntnis, wie umfassend die NSA Deutschland ausforscht und wie abhängig die BRD-Dienste von der Kooperation mit ihren US-Verbündeten sind, der beste Beweis dafür, daß die Konkurrenz etwa in Wirtschaftsfragen doch auch ihre Grenzen hat? Daß die Bundesrepublik letztlich eben gar nicht anders kann, als sich allen Widersprüchen zum Trotz der westlichen Führungsmacht zu beugen? Ganz im Gegenteil. Zwar sei es in Sachen Spionage »klar, daß wir Europäer uns in einer Situation der Abhängigkeit befinden«, räumte Herfried Münkler, Politikwissenschaftler aus Berlin und im außenpolitischen Establishment fest verankert, im Oktober im Deutschlandradio ein. »Das heißt, daß man vor zehn, 20 Jahren einen verheerenden strategischen Fehler gemacht hat, insofern man nicht ein gemeinsames europäisches Programm aufgelegt hat zur Entwicklung eigener Fähigkeiten.« Fehler aber seien wettzumachen, meint Münkler: Man müsse nun »hoffen, daß jetzt so schnell wie möglich entsprechende europäi­sche Unternehmen damit beschäftigt werden, diese Fähigkeiten aufzubauen«. Eigene Spionagetechnologien müßten her: Nur so könne man sich auf »Augenhöhe« begeben.

Genau dafür wird mittlerweile heftig getrommelt. Eine »europäische Cybersicherheitsstrategie« und »Maßnahmen zur Rückgewinnung der technologischen Souveränität« sind im neuen Koalitionsvertrag vorgesehen. »Wir können nicht dulden, daß eine amerikanische digitale Besatzungsmacht in Deutschland regiert«, tönte der CSU-Mann Hans-Peter Uhl, innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, im Dezember bei einem Besuch in Washington gegenüber der Deutschen Welle: »Ich glaube, wir sollten in Deutschland die Souveränität auf dem Gebiet der IT zurückerlangen. Das kann Deutschland. Dazu ist es technologisch durchaus in der Lage. Das werden wir tun.« Der neue Verkehrs- und Internet-Minister Alexander Dobrindt (CSU) schloß sich kurz darauf mit ähnlichen Äußerungen an. »Wir müssen (…) als Deutsche und Europäer unsere digitale Souveränität zurückgewinnen«, ließ er via Bild am 22.12.2013 verlautbaren: »Dafür werden wir viel Geld ausgeben müssen. Ich erinnere an die große Technologieoffensive der 80er Jahre von Franz Josef Strauß in der europäischen Luft- und Raumfahrt.« Richtig: Mit dem Aufbau von Airbus und EADS wollte die Bundesrepublik sich damals aus der einseitigen Abhängigkeit von Boeing befreien. Das Projekt war durchaus ehrgeizig. Aber: Es hatte Erfolg.

Kann die Aufholjagd auch in puncto Internet gelingen? Das DGAP-Blatt Internationale Politik hat dazu im Januar/Februar-Heft 2014 Alexander Huber befragt, einen BWL-Professor an der Beuth Hochschule für Technik in Berlin, zu dessen Arbeitsschwerpunkten Informationsschutz und Unternehmenssicherheit gehören. Die deutsche »Sicherheitswirtschaft« sei »in weiten Teilen zusammengebrochen«, klagte Huber. In der Regel kaufe man Security-Produkte bei französischen oder US-amerikanischen Firmen ein. Auf nationaler Ebene sei »der Zug mehr oder weniger abgefahren«. »Wir müßten jede Menge Geld in die Hand nehmen, um auch nur annäherungsweise mit den Großen mithalten zu können.« Realistischer sei es, urteilte Huber, »sich zumindest auf europäischer Ebene nach dem Vorbild von EADS zusammenzuschließen. Da könnte dann die Box von Thales aus Frankreich stammen und der eingebaute Krypto-Chip aus deutscher Produktion.«

Konkrete Planungen sind längst im Gang. Die Deutsche Telekom hat im November mitgeteilt, sie denke über ein »deutsches Internet« nach: »Ausländische Geheimdienste würden es mit Sicherheit schwerer haben, auf Daten deutscher Bürger zuzugreifen, wenn diese Datenverkehre nicht mehr über das Ausland geroutet werden«, erläuterte ein Telekom-Sprecher der »Tagesschau« am 20.11.2013. Auch hier ist inzwischen statt einer deutschen eine »europäische Lösung« im Gespräch – allerdings eine, die sich nur auf die Schengen-Staaten bezieht. Von einem »Schengen-Netz« wäre nämlich Großbritannien ausgeschlossen, dessen Geheimdienste im Rahmen des Verbundes »Five Eyes« besonders eng mit den US-Diensten kooperieren.

Wider die Interessen der USA

Ob die Loslösung von den USA nach dem Aufbau von Airbus und EADS, nach der Einführung des Euro und nach den ersten Schritten hin zu einer eigenständigen EU-Militärpolitik auch auf dem Gebiet von Internet und Internetspionage möglich ist, das wird wohl nur die Praxis zeigen. Unter der Überschrift »Die Kolonie jammert« zog die FAZ am 20.1. kräftig über die stetigen Klagen her, die NSA wolle nicht von der Spionage lassen und erklärte, die Politik müsse eben endlich »ihre Hausaufgaben« machen und »eine strategische Entscheidung für Zukunftstechnologien«, also für größere Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von Washington treffen. In anderen Bereichen macht sie das ja auch. So hat der EU-Gipfel im Dezember neue Schritte zu einer Stärkung der gemeinsamen EU-Militärpolitk beschlossen. Und die »Strategic Community« macht mächtig Druck, um nun auch wirklich eine offensivere Weltpolitik auf die deutsch-europäi­sche Tagesordnung zu bringen. Zuletzt hat sich Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zustimmend dazu geäußert. »Europa kommt im Spiel der globalen Kräfte nicht voran, wenn die einen sich immer dezent zurückhalten, wenn es um militärische Einsätze geht, und die anderen unabgestimmt nach vorne stürmen«, ließ sie im Spiegel verbreiten. Auf die Frage, ob Berlin »mehr internationale Verantwortung übernehmen«, also mehr Kriege führen solle, erklärte sie: »Im Rahmen unserer Bündnisse, ja.«

Unsere Bündnisse? Natürlich steht die ­NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik aus Sicht Berlins nicht zur Debatte. Sie gilt als nützlich, weil sie Deutschland eng mit der globalen Militärmacht Nummer eins verbindet. In vielen Fällen wird man das Bündnis noch brauchen wollen. Etwa wenn es gegen Staaten geht, die das SWP-Papier »Neue Macht. Neue Verantwortung« als »Störer« klassifiziert, gegen die Demokratische Volksrepublik Korea zum Beispiel, Kuba oder auch Venezuela. Berlin setzt strategisch darauf, aus der EU eine Weltmacht zu machen – in fernerer Zukunft vielleicht auch einmal in offener Rivalität zu den USA, das zeigen nicht nur Airbus, der Euro und die EU-Militärpolitik, sondern inzwischen auch Pläne wie der, ein »Schengen-Netz« aufzubauen. Natürlich wird kooperiert, wo es politisch sinnvoll erscheint. Die EU-Operation »Atalanta« und die NATO-Operation »Ocean Shield« zum Beispiel, die beide vor dem Horn von Afrika die Piraterie bekämpfen, bestehen zwar auf ihren die Eigenständigkeit betonenden Doppelstrukturen, sie arbeiten aber eng zusammen. Das muß allerdings nicht so bleiben. Schon im Jahr 2000 hieß auf einem Workshop, der sich mit dem europäischen Satellitennavigationssystem »Galileo« befaßte – einem Konkurrenzprodukt zum US-amerikanischen GPS –, es schaffe wichtige Vorteile für die Europäische Union. So ermögliche es etwa auf lange Sicht EU-Militäreinsätze auch »gegen das Interesse der USA«.

* Jörg Kronauer ist Redakteur bei german-foreign-policy.com.

Aus: junge Welt, Samstag, 1. Februar 2014



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