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Nachnationales Imperium

Zwei Schriften über die politische Funktion von EU und Euro

Von Ekkehard Lieberam *

Angesichts der Diktate für Griechenland sind die im Rahmen des »Ökonomischen Alphabetisierungsprogramms« des pad-Verlages Bergkamen erschienenen Hefte 17 und 18 höchst aktuell und lesenswert. Sie beantworten die Frage, warum nicht nur die Regierung Alexis Tsipras, sondern die Parteien der »Europäischen Linkspartei« (EL), die fast durchgängig illusionär auf EU und Euro fixiert sind, insgesamt scheitern mussten. Eine demokratische Alternative innerhalb dieser Institutionen ist offensichtlich irreal. Sie kann nur gegen das Imperium EU erkämpft werden.

Alfred Goeschel, kritischer Sozialwissenschaftler aus Marquartstein am Chiemsee, legt »EU-Sozialpolitik. Formierung einer Klassengesellschaft der billigen Arbeit« vor, Albert F. Reiterer, Lehrbeauftragter an den Universitäten Wien, Graz und Innsbruck, ist Verfasser von »Denkwende – Zur Schlacht um den Euro«.

Goeschel untersucht, wie Sozialstaat und Sozialpolitik im Rahmen der EU und ihrer territorialen Ausweitung als deren Instrument zur »inneren Kolonialisierung« eingesetzt wurden. Hauptaufgabe sei »die Herrichtung der Bevölkerung als Anbieter von Arbeitszeit zu möglichst günstigen Bedingungen gewesen«. Es gehe dabei um direkte Verbesserungen der Gewinnaussichten von Unternehmen. Der Autor weist nach, dass Kürzungsprogramme vor allem in EU-Ländern mit niedrigster Sozialschutzquote durchgesetzt wurden. Er sieht in Privatisierung, Niedriglöhnen, Abbau des Kündigungsschutzes, Erhöhung der Mehrwertsteuer, Absenkung der Renten, Verlagerung der Beitrags- in die Steuerfinanzierung usw. eine Zerstörung der europäischen Wohlfahrtsstaaten. Das habe durch die daraus resultierende Verarmung und Prekarisierung eine klassenbildende Funktion. Die Strategie der Austerität treffe dabei auf eine »unterschiedliche Verwundbarkeit«. Die sei in der EU-Peripherie dramatisch höher als im Kernbereich der Gemeinschaft. Kürzungs- und Fiskalpolitik führten zur sozialen Spaltung der EU, zur Herausbildung einer Hierarchie von Gläubiger- und von Schuldnerstaaten, befördere geradezu eine »Satellitenstaatenbildung«. Griechenland sei das »Experimentierlabor« für die »Zerrüttung des europäischen Sozialmodells«. Im »Anschluss der DDR an die BRD« sieht Goeschel den Ausgangspunkt für eine »Revision der Kräfteverhältnisse in Europa«, eine »regelrechte Okkupation« und »quasi ›Kolonialisierung‹«.

Reiterer beschäftigt sich in den sechs Abschnitten seiner Schrift (Der Euro als Falle; Die »gute« EU, der Euro und die Folgen; Neuerlicher Paradigmenwechsel; »Refeudalisierung«? Finanzialisierung; Der Euro, die EU, Griechenland und wir; Die Gewerkschaften und die EU) mit der EU als festgefügter hierarchischer Herrschaftsstruktur und mit der »illusionäre(n) Selbsttäuschung (der Linken, d. Verf.) über Möglichkeiten und Ziele der EU«. Der Euro sei zum zentralen Symbol für die Politik der Eliten geworden. Er konstatiert: Die Gemeinschaftswährung habe die sozialen Gegensätze in der EU vergrößert und die wirtschaftlichen Gräben vertieft. Von vornherein sei sie zur Durchsetzung der wirtschaftlich Stärkeren gedacht gewesen.

Interessant ist Reiterers begrifflicher Ansatz zum Verständnis der EU und der politischen Rolle des Euro: Der Autor schreibt von einem Imperium besonderer Art, nämlich dem eines veränderten Finanzkapitalismus, dessen »hegemoniale und dominierende Macht« das neue Deutschland sei. Diesen Typ des Finanzkapitalismus kennzeichne die »Finanzialisierung«. Der 1910 von Rudolf Hilferding in seinem Buch »Das Finanzkapital« analysierte Prozess, der zur Beherrschung des Realkapitals durch die Finanzoligarchie führte, sei weitgehend abgeschlossen. Es gehe nunmehr um den Kampf »innerhalb der Oligarchie«. Das Imperium EU (neben der US-Form des Imperiums) sei die »wichtigste Ausprägung des nachnationalen Staates, die gegenwärtig erkennbar ist«. Ziel der EU als Imperium sei eben die »Allmacht des Marktes und der Finanzoligarchie«. Die alten Integrationsmechanismen der nationalen parlamentarischen Demokratie und des Sozialstaats werden allenfalls noch abgeschwächt benötigt. Die politischen Entscheidungen verlagern sich aber »zu einer unverantwortlichen Körperschaft«, die nicht neutral und auch nicht demokratisch nutzbar sei. Demokratie sei »schon wegen der Konstruktion unmöglich«. Überdies sei »weit und breit keine politische Kraft zu sehen, die dem effizient entgegenarbeiten kann«.

Die politische Konsequenz, die Reiterer aus dieser Diagnose zieht, drängt sich geradezu auf. Nach den Erfahrungen mit Griechenland sollte sie gründlich diskutiert werden: Es muss eine Situation beendet werden, in der Protest »an eine schmierige politische Rechte« geht. Es bleibt für die Linke nur die Losung des Austritts: »Raus aus dem Imperium, raus aus dem Euro!«

Albrecht Goeschel: EU-Sozialpolitik. Formierung einer Klassengesellschaft der billigen Arbeit. pad-Verlag, Bergkamen 2015, 61 Seiten, 5 Euro.

Albert F. Reiterer: Denkwende. Zur Schlacht um den Euro. pad-Verlag, Bergkamen 2015, 76 Seiten, 5 Euro (für jede Broschüre Staffelpreis ab fünf Exemplaren 4,50 Euro, ab zehn Exemplaren 4 Euro).


Bezug: pad-Verlag, Am Schlehdorn 6, 59192 Bergkamen, E-Mail: pad-Verlag@gmx.net

* Aus: junge Welt, Montag, 3. August 2015


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