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Frontex soll Flüchtlingsrettung übernehmen

Italienische Operation »Mare Nostrum« wird durch Einsatz von EU-Grenzschutzagentur ersetzt

Von Katja Herzberg *

Italien soll bei der Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer unterstützt werden – von der wegen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik stehenden EU-Behörde Frontex.

Zehntausende Flüchtlinge rettete die italienische Marine in den vergangenen zehn Monaten im Rahmen der Operation »Mare Nostrum« auf dem Mittelmeer. Jetzt ist das Ende des Einsatzes besiegelt. Ab November soll ein neues Programm unter dem Dach der EU-Grenzschutzagentur Frontex die Seenotrettung im Mittelmeer übernehmen. Darauf einigten sich Italiens Außenminister Angelino Alfano und die für Migration und innere Sicherheit zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström am Mittwoch in Brüssel.

Ziel der neuen Operation mit dem Namen »Frontex Plus« sei es, Italien zu unterstützen. Daher rief Malmström alle EU-Mitgliedsstaaten dazu auf, sich künftig verstärkt zu beteiligen. »Es gibt keine europäischen Grenzschützer, Schiffe oder Flugzeuge. Der Erfolg der Operation hängt also vom Beitrag der Mitgliedsstaaten ab«, erklärte Malmström.

Laut Italiens Innenminister Alfano sei »Frontex Plus« bereit, »Mare Nostrum« abzulösen. »Wir können loslegen«, sagte Alfano. Es müssten nur noch Details der Mission geklärt und dann die EU-Länder um ihre Beiträge gebeten werden. Malmström wies darauf hin, dass Frontex mehr Geld brauche. Selbst mit besserer finanzieller Ausstattung sei aber nicht davon auszugehen, dass »Frontex Plus« den selben Umfang wie »Mare Nostrum« erreiche.

Italien hatte die Operation im vergangenen Herbst ins Leben gerufen, nachdem bei einem Bootsunglück vor der Insel Lampedusa am 3. Oktober 366 Flüchtlinge ertranken. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR erreichten seit Jahresbeginn etwa 100 000 Flüchtlinge die italienische Küste. Der Mittelmeerstaat hatte wiederholt die EU und ihre Mitgliedsländer um Hilfe gebeten. Der Einsatz kostet das Land 9,5 Millionen Euro pro Monat.

»Es ist beschämend, wie andere Mitgliedsstaaten, vor allem Deutschland, Italien allein lassen. Asylpolitik ist eine gesamteuropäische Aufgabe«, sagte die Europaabgeordnete Ska Keller gegenüber »nd«. Die Forderung Italiens nach mehr Unterstützung hält die migrationspolitische Sprecherin der Grünen im EU-Parlament für berechtigt. Dass Italien den verstärkten Einsatz der EU-Grenzschutzagentur verlangt, lehnt sie aber ab. »Die falsche Aufgabe von Frontex ist es, Flüchtlinge abzuwehren. Das hat mit Seenotrettung nichts zu tun«, so Keller.

Karl Kopp von der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl weist auf die wiederholten Berichte von Menschenrechtsverletzungen durch Frontex-Mitarbeiter hin. Die Lage auf dem Mittelmeer sei dramatisch. In diesem Jahr seien bereits mindestens 1900 Menschen bei dem Versuch ums Leben gekommen, per Boot nach Europa zu gelangen – trotz »Mare Nostrum«. Die Seenotrettung müsse ausgeweitet werden. »Das kann aber nur ein erster Schritt sein«, so Kopp. Die überwiegende Zahl der Flüchtlinge stamme aus Kriegsgebieten wie Syrien. »Aber niemand kommt auf die Idee, sie zu evakuieren.«

* Aus: neues deutschland, Freitag 29. August 2014


Tausende Tote

Die »Festung Europa« fordert immer mehr Menschenleben. 300 Opfer allein in den vergangenen Tagen

Von André Scheer **


Fast 2000 Menschen sind seit Jahresbeginn bei dem Versuch ums Leben gekommen, über das Mittelmeer Europa zu erreichen. Allein seit Juni ertranken rund 1600 Personen. Diese dramatischen Zahlen veröffentlichte die Sprecherin des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR), Melissa Fleming, diese Woche in Genf. Allein innerhalb der vergangenen acht Tage starben demnach mehr als 300 Menschen, die meisten von ihnen am Freitag vergangener Woche, als ein mindestens 270 Passagiere beförderndes Boot vor der libyschen Küste kenterte. Nur 19 Personen konnten von den libyschen Behörden gerettet werden, die Leichen von 100 Menschen wurden aus dem Wasser geborgen oder an das Ufer geschwemmt. Von allen übrigen fehlt jede Spur – Hoffnung darauf, daß sie das Unglück überlebt haben, gibt es praktisch keine.

Nur Stunden später rettete die italienische Küstenwache 73 Menschen aus einem beschädigten Schlauchboot, das 20 Seemeilen außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer trieb. 18 Flüchtlinge konnten nur noch tot geborgen werden, weitere zehn wurden nach Angaben des UNHCR noch vermißt. Am Sonntag kenterte ein Fischerboot mit 400 Menschen an Bord. Die italienischen Behörden retteten 364 von ihnen. Tot geborgen wurden 24 Menschen, aber es wird befürchtet, daß auch hier die reale Zahl der Opfer noch höher liegt.

Für die Verzweifelten, die vor Krieg, Hunger und Elend vor allem aus Mali, Côte d’Ivoire, Guinea und dem Sudan fliehen, hat sich die libysche Küste zum wichtigsten Ausgangspunkt entwickelt, um die Überfahrt nach Europa zu wagen. Durch die sich in dem nordafrikanischen Land immer weiter verschlechternde Sicherheitslage greifen viele der Abwehrmaßnahmen nicht mehr, die die EU einst mit dem damaligen libyschen Staatschef Muammar Al-Ghaddafi per »Rücknahmeabkommen« vereinbart hatte. Heute erreichen das Büro des UNHCR in Tripolis täglich Anrufe von Flüchtlingen, die um ihr Leben fürchten und verzweifelt um Essen, Trinkwasser, Medikamente und Unterbringung bitten, informierte Fleming. Andere wagen mangels anderer Alternativen die lebensgefährliche Überfahrt nach Europa, wo sie – so die UNHCR-Sprecherin – weitere Gewalt und Verfolgungen erwarten. »Diese dramatische Lage an Europas Seegrenzen erfordert schnelles und konzertiertes europäisches Handeln, einschließlich verstärkter Such- und Rettungsoperationen im Mittelmeer, die gewährleisten, daß die Rettungsmethoden sicher sind und das geringste Risiko für diejenigen bedeuten, die gerettet werden.« Damit spielte Fleming auf Aussagen von Überlebenden an, die berichteten, wie europäische Grenzschützer die Schutzsuchenden zurück an die afrikanische Küste treiben.

Die Europäische Union will ihre Abschottung jedoch offenbar weiter verschärfen. Am Mittwoch teilten EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström und der italienische Innenminister Angelino Alfano in Brüssel mit, Roms Rettungsprogramm »Mare Nostrum« werde von einer Ausweitung des EU-Grenzschutzprogramms Frontex abgelöst. Die Details von »Frontex plus« müßten bis November festgelegt werden, erklärte Malmström. Nach Informationen der taz vom Freitag sollen die Patrouillen jedoch nur noch in den EU-Hoheitsgewässern durchgeführt werden, also nur maximal zwölf Seemeilen (gut 22 Kilometer) von der europäischen Küste entfernt. Wenn die Menschen diese Zone erreichen, haben sie schon Hunderte Kilometer auf hoher See hinter sich bringen müssen. Die direkte Entfernung etwa vom libyschen Bengasi, von wo derzeit die meisten Flüchtlinge in See stechen, zur Südküste Kretas beträgt über 500 Kilometer. Selbst die theoretisch kürzeste Strecke vom libyschen Derna zu der griechischen Insel ist 340 Kilometer lang. Auch wer von der tunesischen Küste startet und die italienische Insel Lampedusa ansteuert, muß 140 Kilometer überwinden. Weitere Todesopfer sind so unvermeidlich.

** Aus: junge Welt, Donnerstag 30. August 2014


Kein Retter in der Not

Katja Herzberg zu »Frontex Plus« ***

Eine neue Mission unter Leitung einer EU-Behörde und unter Beteiligung der Mitgliedsstaaten soll Italien dabei unterstützen, Flüchtlinge im Mittelmeer zu retten. Was zunächst wie ein Einsehen der europäischen Partner wirkt, das Asylproblem endlich solidarisch anzugehen, bedeutet tatsächlich das genaue Gegenteil. Eine große Chance, dem Massensterben vor den Toren Europas endlich ein Ende zu bereiten, wurde vertan. Wieder einmal.

Die europäische Flüchtlingspolitik steht für eine menschenunwürdige Behandlung schwerst Traumatisierter. Sie beginnt mit der Abfahrt eines Schutzsuchenden etwa an der libyschen Küste und endet im Abschiebeknast oder – mit Glück – auf der Straße eines EU-Landes. An diesen Zuständen ändert das neue Programm »Frontex Plus« überhaupt nichts, soll es auch nicht. Es wird nicht einmal dazu führen, dass mehr Menschen als durch die italienische Militäroperation »Mare Nostrum« aus dem Wasser gefischt werden. Das gab Kommissarin Malmström selbst zu.

Dass nun ausgerechnet die Grenzschützer von Frontex mit der Rettung von Flüchtlingen betraut werden sollen, muss bei den Betroffenen Entsetzen auslösen. Eine Behörde, die immer wieder nachweislich Menschenrechte verletzt hat, indem sie Boote ins Meer oder ans andere Ufer zurückdrängte und so Flüchtlinge ihrem Schicksal überlassen hat, kann kein glaubwürdiger Träger für eine Rettungsmission sein. Diese Entscheidung spricht vielmehr für eine weitere Militarisierung und Abschottung der EU.

*** Aus: neues deutschland, Freitag 29. August 2014 (Kommentar)


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