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Weder demokratisch, noch sozial, noch friedlich – der Entwurf der EU-Verfassung

Von Francis Wurtz, Mitglied des Europäischen Parlaments (Frankreich)*

Zunächst möchte ich Horst Schmitthenner und den Organisatoren dieser Beratung danken, dass sie mich in ihre Initiative einbezogen haben. Das ist mir sehr wichtig, denn ich halte das Eingreifen von Gewerkschaftern in die Diskussion über den Entwurf der Europäischen Verfassung für äußerst bedeutsam.

Erst kürzlich hatte ich eine Diskussion mit Eisenbahngewerkschaftern über den Entwurf der neuen Richtlinie der EU, die auf eine Liberalisierung in diesem Bereich hinauslaufen. Wenn ihre politische Einstellung auch verschieden war, so äußerten sich doch alle gegen diese Liberalisierung. Gemeinsam haben wir darüber gesprochen, welch neue Schlacht sich hier anbahnt. Zum Schluss habe ich ihnen gesagt: Ihr werdet euch wieder alle Mühe geben, um hier und da eine teilweise Rücknahme der geplanten Maßnahmen, eine Ausnahmeregelung oder einen Aufschub zu erreichen. Aber im Grunde wissen wir alle, dass wir verlieren werden. Weshalb? Einfach deswegen, weil die Richtlinien und Strukturen des gültigen Europa-Vertrages so sind, wie sie sind und weil deshalb das neoliberale Modell durchgesetzt werden wird. Um das verhindern zu können bräuchte man zumindest eine Mobilisierung wie im Mai 1968 in ganz Europa! Genau aus diesem Grunde kämpfe ich für ein Nein zum Entwurf der Europäischen Verfassung. Nicht weil ich gegen Europa bin, sondern weil ich will, dass die Debatte über alle diese "Richtlinien" und "Strukturen", die uns mit immer größerer Gewalt in das neoliberale Modell zwingen sollen, neu aufgerollt wird. Um endlich den Europäern das Wort zu der Frage zu geben, was wir in Europa gemeinsam aufbauen wollen.

Zu meiner großen Überraschung war einer der anwesenden Gewerkschafter, der sich gewöhnlich jede "Einmischung" der Politik in Gewerkschaftsangelegenheiten verbittet, von meiner "Enthüllung" stark berührt. Zweifellos wird er seine täglichen Erfahrungen als Gewerkschafter künftig viel direkter in die Diskussion über die europäische Verfassung einbringen.

Diese Szene sagt viel darüber aus, wie viel Information, politische Aufklärung und Erläuterung wir im Hinblick auf den Verfassungsentwurf noch zu leisten haben – insbesondere in den sozialen Bewegungen. Wir müssen uns von der vereinfachten Fragestellung "Für oder gegen Europa?" lösen und endlich über den Inhalt des Projekts Europa reden.

Einer der Schwerpunkte dieser Arbeit sollte nach meiner Meinung die Frage sein, was es mit den "Richtlinien" und "Strukturen" auf sich hat, die jetzt schrittweise durchgesetzt werden und das neoliberale Modell ausmachen, das die Verfassung für unantastbar erklären soll.

Die wirkliche historische Wende hat Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre stattgefunden. Das Kräfteverhältnis in Europa und in der Welt war im Umbruch begriffen, die neoliberale Globalisierung explodierte geradezu. Zu dieser Zeit trat der Vertrag über die "Europäische Einheitsakte" in Kraft. Er ist die eigentliche Geburturkunde des neoliberalen Europas.

1990 wurde der "freie Fluss des Kapitals" eingeführt, für den jede Einschränkung verboten ist. Das war die direkte Aufforderung an die Besitzer des Kapitals, dieses allein nach ihren Interessen um den Erdball wandern zu lassen. Beschäftigte aus Ländern mit hohen sozialen Standards wurden in den Wettbewerb mit Arbeitskräften aus Ländern gezwungen, wo es solche nicht gibt. Die ausufernden "Betriebs- verlagerungen", der erpresserische Druck auf die Beschäftigten, sich mit Lohnsenkungen oder Arbeitszeitverlängerungen abzufinden, haben ihre Wurzeln in dieser "Richtlinie".

Derselbe Vertrag läutete auch das Ende der "öffentlichen Monopole" in den Bereichen ein, die bisher aus gutem Grund für zu wichtig für den sozialen Zusammenhang und den gleichen Zugang zu den Grundrechten galten, um sie der freien Konkurrenz auszusetzen. Das sind Verkehr, Energie, Post und Telekommunikation. Seit Anfang der 90er Jahre hat man alle diese Bereiche nach und nach für die Konkurrenz freigegeben. Natürlich können die historischen Einrichtungen in öffentlicher Hand bleiben, aber nur, wenn sie wie Privatunternehmen geführt werden!

Die Folge ist, dass die Versorgung der Bevölkerung mit öffentlichen Dienstleistungen nicht mehr das erste, sondern das letzte Anliegen der Unternehmensführungen ist. Sie haben sich in den Wirtschaftskrieg gegen ihre Konkurrenten gestürzt. Die finanziellen Ergebnisse rangieren jetzt weit vor ihren sozialen Pflichten. Sie schweben weit über den so genanten "nichtproduktiven" Ausgaben sowohl was die Beschäftigten als auch was die Kunden betrifft. In Frankreich werden über 6.000 Postämter geschlossen. "France Telecom" hat im Jahre 2004 6.000 Arbeitsplätze abgebaut. 2005 werden noch einmal 5.500 folgen. Die französische Elektrizitätsgesellschaft EDF wird privatisiert. Sie ruiniert sich geradezu, um einen italienischen Konkurrenten aufzukaufen, der als Gegenleistung ein französisches Atomkraftwerk fordert. Die Preise steigen, aber die Qualität der Dienstleistungen sinkt. Von den katastrophalen Erfahrungen, die andere Länder wie Großbritannien inzwischen auf diesem Gebiet gemacht haben, will ich gar nicht reden. Die schwedische Regierung räumt ein, dass die Preise für die liberalisierten Postdienste seit 1996 geradezu explodiert sind. Nachdem man die Strompreise für den Wettbewerb freigegeben hat, sind sie um 65 Prozent gestiegen! Ein unabhängiger Analytiker bringt es auf den Punkt: "Die Betreiber verdienen wie nie zuvor!" ("Le Figaro", 5.11.2004)

1992 kam zu diesen Richtlinien der Liberalisierung der Maastrichter Vertrag hinzu. Nun steuert die Europäische Zentralbank die Einheitswährung. Der Vertrag hat ihr die Mission zugewiesen, Europa für die Finanzmärkte so attraktiv wie möglich zu machen. Eine soziale Mission hat sie nicht: Das Wort "Beschäftigung" kommt in ihrem Mandat gar nicht vor. Sie ist schlimmer als die Zentralbank der USA!

Was tut die EZB, um Euroland für die Finanzmärkte "attraktiv" zu machen? Ihr Präsident Jean- Claude Trichet kommentiert die Vereinbarung zwischen Siemens und der IG Metall, zur 40- Stunden-Woche ohne Lohnausgleich zurückzukehren, so: "Was zu größerer Flexibilität und höherer Produktivität beiträgt, geht in die richtige Richtung." ("Le Monde", 3.7.2004) Die EZB nutzt ihre Macht, um die öffentlichen Ausgaben maximal zu senken, die Lohnkosten weiter zu drücken, liberalen "Strukturreformen" bei Renten, bei der Krankenversicherung und am Arbeitsmarkt durchzupeitschen... Hartz IV lässt grüßen!

Alle diese nach und nach beschlossenen Richtlinien und die Strukturen, die zu ihrer Durchsetzung aufgebaut wurden, haben ein neoliberales Modell geformt, das dem Kernsatz von Maastricht entspricht: dem "Prinzip einer offenen Marktwirtschaft mit freier Konkurrenz". Damit ist die Tür zum "absoluten Markt" aufgestoßen, für den die soziale Frage nur noch ein Hindernis ist, das man so weit aus dem Wege räumen muss, wie das Kräfteverhältnis es erlaubt. Aus dieser Sicht ist jede Öffnung Europas zu Niedriglohnländern (und das sind 80 Prozent des Erdballs) eine Quelle neuer Destabilisierung. Statt zur Einigung unseres Kontinents beizutragen, wirkt die Osterweiterung unter diesen Umständen wie ein Beschleuniger der Konkurrenz zwischen den Völkern. Gleiches gilt auch für die Öffnung zu den Ländern des Südens. Sie wird zu einem Mechanismus der Konfrontation und nicht der Annäherung der Völker. Die "absolute Konkurrenz" tötet jeden Gedanken an Zusammenarbeit. Ein Abstieg voller Gefahren für das Soziale, für die Demokratie und für das Zusammenleben der Völker.

Alle diese Richtlinien und Strukturen finden sich komplett im Entwurf der europäischen Verfassung wieder. Damit wird diese Tendenz nicht nur in einem "Grundgesetz" in Stein gehauen. Sie wird sogar weiter verschärft. So wurde zu Artikel 314 die "schrittweise Abschaffung der Restriktionen für direkte Auslandsinvestitionen" hinzugefügt. Damit sind wir wieder beim "Multilateralen Investitionsabkommen" (MAI) angelangt, das 1998 scheiterte, als sich Frankreich im Gefolge einer mächtigen Protestbewegung davon zurückgezogen hatte.

Wie hat sich ein solches Modell über die Jahre durchsetzen können, ohne dass es andere Reaktionen gab als nur eine schrumpfende Beteiligung an den Europawahlen, die 2004 ihren Höhepunkt erreicht hat? Der Grund ist der, dass parallel zum Vormarsch des Neoliberalismus ein System errichtet worden ist, das die wichtigsten Entscheidungszentren der EU vor dem Druck der Völker und dem Eingreifen der Bürger schützen soll.

So untersagen es die Verträge z.B. jeder öffentlichen Instanz, der EZB - die letztlich über die Verwendung des Geldes in der Eurozone entscheidet-. Ebenso hat die EU-Kommission im Schlüsselbereich der staatlichen Wettbewerbs- und Subventionspolitik alle Vollmachten: Sie braucht in diesen Bereich weder die Regierungen noch das Europäische Parlament um ihre Meinung zu fragen. Was die Haushaltspolitik der Staaten betrifft, so wurde der Stabilitätspakt als eine Art automatischer Mechanismus angesehen. Als er eingeführt wurde, konnten sich die wichtigsten Regierungen nicht vorstellen, dass er sich einmal gegen sie selbst wenden könnte. Damals wollte man den Regierungen die Hände binden, die verdächtig waren, dass sie vielleicht dem Druck ihrer Völker nachgeben könnten. Ähnliches ist auch zur Politik der EU inerhalb der Welthandelsorganisation und anderer ähnlicher Gremien zu sagen.

All das hat man sich ausgedacht, um die berüchtigten Richtlinien und Strukturen des neoliberalen Modells komplett vor dem Druck der Völker abzuschotten. Die Politiker, die darauf setzen, dass die Bürger angesichts der harten Tatsachen, auf die sie keinen Einfluss haben, resigniert die Arme sinken lassen, wollen auf diese Weise jedes politische Eingreifen ausschalten, um für die "Gesetze des Marktes" freie Bahn zu schaffen. Mit der Verfassung soll diese zutiefst demokratiefeindliche Entscheidung für alle Zeiten festgeschrieben werden. Wenn das Ja die Oberhand gewinnt, dann gerät Europa, davon bin ich tief überzeugt, früher oder später in eine schwere politische Krise. Wenn die Menschen erkennen, dass die Spirale des Neoliberalismus sich immer schneller dreht und alle Auswege für eine andere Politik versperrt sind, dann wird es Revolten geben. Die müssen aber leider nicht unbedingt in eine progressive Richtung gehen. In einer Reihe von Ländern liegen Populisten oder extreme Rechte auf der Lauer. Die nächsten Wahlen in Polen könnten uns dafür schon einen Vorgeschmack geben.

Daher wünsche ich mir für eine positive Vision von Europa, dass das Nein dort am stärksten ist, wo es den Wunsch nach sozialer Sicherheit, Demokratie und Frieden zum Ausdruck bringt. Für Frankreich schließe ich einen möglichen Sieg des Nein in diesem Sinne nicht aus. Die sozialen Bewegungen sind gerade dabei, sich hier stark zu engagieren.

Damit diese Vorstellung aufgehen kann, müssen allerdings noch einige große Hindernisse überwunden werden. Ich will hier nur drei nennen: Das erste besteht darin, dass man den Verfassungsentwurf angeblich als einen neutralen Text ansehen sollte, der ganz unterschiedlich angewandt werden könnte entweder für eine liberale oder für eine soziale Politik. Die Politik der Regierungen sei eine Sache, so heißt es, der Inhalt des Verfassungsentwurfs etwas ganz anderes. Zwischen beiden bestehe kein Zusammenhang. Die Dinge so zu sehen, heißt, die Diskussion über die Verfassung völlig von den sozialen und politischen Erfahrungen abzukoppeln, die die Menschen in ihrem täglichen Leben machen. Aber die Politik von Raffarin und von dem Kanzler zum Beispiel sind doch sehr ähnlich! und es ist noch gar nicht so lange her, da wurden 11 von 15 Regierungen europäischer Staaten von Sozialdemokraten geführt, ohne dass sich an diesem Trend zum Neoliberalismus etwas geändert hat. In der Tat haben sich die aufeinander folgenden Politiker Europas auf eine Vision von unserem Kontinent geeinigt, der von den Kräften des Marktes beherrscht wird.

Diese Vision ist durch immer zwingendere Orientierungen und Strukturen umgesetzt worden. Die Verfassung soll nun auf Dauer das Grundgesetz dieses Europas sein. Daher ist es entscheidend, von den allgemeinen Diskussionen über Europa weg zu kommen und über den Inhalt der Politik zu sprechen, die im Namen Europas betrieben wird. Ein zweites Hindernis sind die Illusionen, die um die Grundrechte-Charta gesponnen werden. Manch einer stellt sie als ein Mittel hin, mit dem der neoliberale Inhalt der übrigen Teile des Dokuments sozial abgefedert werden soll. Von dem sehr vagen, zurückhaltenden oder gar strittigen Inhalt der Bestimmungen der Charta einmal abgesehen, möchte ich auf zwei Dinge hinweisen: Zunächst heißt es in Art. 111 der Verfassung: "Diese Charta dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert die in den anderen Teilen der Verfassung festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben."

Wozu ist die Charta der Grundrechte dann überhaupt nutze? Auf jeden Fall nicht dafür, den Trend zum Neoliberalismus, der den ganzen übrigen Teil der Verfassung durchzieht, abzufedern. Im Gegenteil. In der Präambel der Charta ist zu lesen: "Die Auslegung der Charta (erfolgt) durch die Gerichte der Union und der Mitgliedstaaten unter gebührender Berücksichtigung der Erläuterungen, die unter der Leitung des Präsidiums des Konvents zur Ausarbeitung der Charta formuliert und unter der Verantwortung des Präsidiums des Europäischen Konvents aktualisiert wurden."

Was besagen diese "Erläuterungen des Präsidiums", und sind sie den Bürgern bekannt, die die Grundrechte-Charta lesen?

In mindestens zehn Fällen sagen diese Erläuterungen genau das Gegenteil von dem aus, was man versteht, wenn man den entsprechenden Artikel liest. Hier nur einige Beispiele:

Artikel 81: Nichtdiskriminierung
"Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung... sind verboten."

Dazu die "Erläuterung": "In diesem (Artikel) wird weder eine Zuständigkeit zum Erlass von Antidiskriminierungsgesetzen in diesen Bereichen des Handelns von Mitgliedstaaten oder Privatpersonen geschaffen noch ein umfassendes Diskriminierungsverbot in diesen Bereichen festgelegt ..."!
(Tatsächlich betrifft dieser Artikel nicht die Institutionen der Union und die Anwendung des Unionsrechts.)

Artikel 94: Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung
"Die Union anerkennt und achtet das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten, die in Fällen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit oder im Alter ... Schutz gewährleisten."

"Erläuterung": "Durch den Hinweis auf die sozialen Dienste sollen die Fälle erfasst werden, in denen derartige Dienste eingerichtet wurden, um bestimmte Leistungen sicherzustellen; dies bedeutet aber keineswegs, dass solche Dienste eingerichtet werden müssen, wo sie nicht bestehen."

Ähnliche Manipulationen, die dem Leser einen viel großzügigeren Eindruck von den Artikeln der Grundrechte-Charta vermitteln, als sie in den "Erläuterungen des Präsidiums" dann präzisiert werden, sind auch bei solchen Fragen zu finden wie dem Streikrecht, der öffentlichen Daseinsfürsorge, der Todesstrafe usw.

Kennen die Bürger, die den Text der Charta lesen, diese "Erläuterungen"? Absolut nicht. Im Verfassungstext nach den betreffenden Artikeln findet man sie nicht. Sie sind in einer obskuren, beigefügten "Erklärung Nr. 12" enthalten, die 300 Seiten weiter hinten nach zahlreichen Protokollen allein in Ausgaben für Spezialisten zu finden ist.

Diese in demokratischer Hinsicht unsägliche Methode wirft ein Schlaglicht auf die Rolle, die der Grundrechte-Charta von den Schöpfern des Verfassungsentwurfs zugewiesen wird: Sie soll die Aufmerksamkeit der Leser auf diesen Teil lenken, der auf den ersten Blick attraktiv und leicht verständlich erscheint. Damit will man von anderen Teilen des Textes ablenken, die von entscheidender Bedeutung sind, aber den Europäern nach Inhalt und Form viel schwerer "verkauft" werden können.

Das dritte Hindernis ist ein Erpressungsmanöver. Für den Fall, dass das Nein obsiegen sollte, malt man das Chaos an die Wand. Ich habe bereits von dem Risiko gesprochen, dass es im Falle eines Sieges des Ja früher oder später zu einer schweren politischen Krise kommen kann, denn damit wird ein Trend zum Neoliberalismus als Grundgesetz festgeschrieben, der in unseren verschiedenen Gesellschaften immer weniger Akzeptanz findet und eines Tages überhaupt nicht mehr akzeptiert werden wird. Aber alle politischen Hauptkräfte und alle großen Institutionen setzen sich für das Ja ein. Die Verfassung wird die Tür für wirkliche Alternativen zuschlagen. Wie wird sich dann die absehbare Welle der Unzufriedenheit Luft verschaffen?

In Frankreich sieht man gegenwärtig sehr deutlich an der Bolkestein-Richtlinie, wohin sich Europa entwickeln kann, wenn das Ja durchkommt. Kurz vor dem Referendum über die Verfassung spricht sich jetzt jedermann dagegen aus. Selbst die Rechtsregierung, die vor einem Jahr ihre totale Unterstützung für dieses Dokument ausgedrückt hatte, das damals der Öffentlichkeit noch weithin unbekannt war. Auch die französischen Sozialisten wenden sich heute vehement dagegen. Kein Wort war aber von ihnen zu hören seit die Prodi- Kommission diese Richtlinie vor 13 Monate angenommen hatte doch, war die Sozialistische Partei Europas in der EU-Kommission unter Prodi noch wesentlich stärker vertreten war als in der gegenwärtigen Kommission unter Barroso. Alle verfallen in Panik, weil sie plötzlich eine Strömung gegen den Neoliberalismus aufkommen sehen, die unaufhaltsam werden könnte. Was wird dann erst morgen sein, wenn die Verfassung jede echte Alternative blockiert?

Dagegen könnte der Sieg eines Nein, das offen für eine Alternative ist, eines pro-europäischen Nein die Möglichkeit eröffnen, dass in Europa eine breite pluralistische Debatte über die Frage beginnt: Was muss sich in dieser Europäischen Union ändern? Welche Prioritäten müssen in dieser EU gesetzt werden? Wer soll in der EU das letzte Wort haben - die gewählten Institutionen oder der "Markt"? Was soll der Sinn dieses Europas sein: ein fortschrittliches Sozialmodell in Zeiten der Globalisierung zu verteidigen oder zum attraktivsten Gebiet für Kapitalanlagen zu werden? Welche Rolle soll Europa in der Welt spielen: eine "Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickeln, die mit der im Rahmen der NATO festgelegten Politik vereinbar ist" (Artikel 41 des Verfassungsentwurfs) oder ihr Gewicht einsetzen, um anderen internationalen Regeln zum Durchbruch zu verhelfen als denen, die uns die Supermacht USA aufzwingen will?

Die Europäer hatten bisher nie die Chance, eine solche Debatte zu führen. Wenn, ein progressives, europäisches Nein durchkommt, könnte es dafür Aussichten geben. Die Europäer wären dann aufgerufen, gemeinsam eine Union zu konzipieren, in der sie sich wiedererkennen und für die sie sich engagieren können. Das wäre im Grunde eine Debatte über den Fortschritt der menschlichen Zivilisation.

Aus: Europas Zukunft im Licht der Verfassung. Tagung der Initiative für einen Politikwechsel am 26. Februar 2005 im Gewerkschaftshaus Frankfurt am Main - Reader, S. 2-6


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