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Europäisches Gipfeltreffen zur Neuordnung des Kontinents

Die alte Herrschaft wurde restauriert - Beim "Wiener Kongress" vor 190 Jahren

Der EU-Gipfel am 16./17. Juni 2005 endete ohne konkretes Ergebnis, es sei denn, man betrachtet als Ergebnis, dass die in FRankreich und den Niederlanden gescheiterte EU-Verfassung nun erst einmal für ein Jahr auf Eis gelegt wird. Die führenden Politiker EU-Europas haben sich eine "Denkpause" auferlegt. Ein großzügiger Umgang mit sich selbst, mit der Zeit und mit Europa. Wenn man nicht weiter weiß, könnte man ja auch einen neuen Weg probieren. Davon war in Brüssel aber nicht die Rede.

Auf dem Wiener Kongress vor 190 Jahren waren sich die Mächte der Reaktion - Österreich, Preußen, Russland und Großbritannien - darin einig, dass mit dem revolutionären "französischen" Spuk gründlich aufgeräumt werden müsse. Es begann eine finstere Periode der Unterdrückung und Verfolgung von Demokraten (sog. "Demagogenverfolgung") im Habsburgerreich, in Preußen und in anderen deutschen Staaten. Ähnlichkeiten zur heutigen Lage sind selbstverständlich nicht festzustellen.

Den folgenden Artikel haben wir der Wochenendbeilage der "jungen Welt" entnommen.



Restaurierte Herrschaft

Vor 190 Jahren fand mit dem Wiener Kongreß eine territoriale Neuordnung Europas statt

Alexander Bahar


Ende September 1814 versammelten sich in Wien die Herrscher der meisten europäischen Staaten, um mit der Französischen Revolution und dem napoleonischen System abzurechnen. Der ungestüme Korse hatte Monarchien gestürzt, revolutionäre Ideen verbreitet, den Umsturz in Europa betrieben und sich – so die Auffassung der in Wien versammelten Staatsführer – Herrschaft widerrechtlich angeeignet. »Von sämtlichen Siegermächten wurde der Sturz Napoleons als Untergang der Französischen Revolution und als Triumph der Legitimität betrachtet.« (Friedrich Engels) Allerorten, vor allem aber in Deutschland, machten Aristokraten und Kirchenfürsten wieder ihre Rechte geltend.

Dominiert wurde die Versammlung von den vier großen Siegermächten Österreich, Großbritannien, Preußen und Rußland. Ihr gemeinsames Ziel: die Errichtung stabiler Verhältnisse in Europa bei weitestgehender politischer und gesellschaftlicher Restauration, das heißt die Wiederherstellung der alten vorrevolutionären Ordnung. In den Staaten, die von der napoleonischen Flurbereinigung profitiert hatten, war die Restauration nicht ohne weiteres möglich, wollten diese doch nicht auf ihre Gebietsgewinne verzichten. Europa mußte daher einer territorialen Neuordnung unterzogen werden.

Neugliederung Europas

Die Verhandlungen während des Kongresses, der niemals als Ganzes zusammentrat, spielten sich in Komitees ab und zogen sich über acht Monate hin. Zeitweilig unterbrochen wurde die Versammlung durch Napoleons Rückkehr nach Paris im März 1815 und seiner anschließenden hundert Tage währenden Herrschaft. Die wesentlichen Fragen auf dem Wiener Kongreß wurden von den »Vier« entschieden. Deutlich ist dabei geworden, daß im Kampf gegen Napoleon zeitweilig drei verschiedene Gegner zusammengewirkt hatten: die englische Oligarchie, die mit der französischen Bourgeoisie um die Weltherrschaft rang und schließlich gesiegt hatte, die feudalabsolutistischen Monarchien des Kontinents, die sich jeder Veränderung widersetzten, und die verschiedenen nationalen Befreiungsbewegegungen. »Es waren nur drei Staaten vertreten, die wußten, was sie wollten: England, das die Absicht hatte, seine Handelsvorherrschaft aufrechtzuerhalten und auszudehnen, den Löwenanteil am Raub der Kolonien davonzutragen und alle übrigen zu schwächen; Frankreich, das nicht allzu schwer in Mitleidenschaft gezogen werden und alle anderen schwächen wollte, und Rußland, das die Absicht hatte, seine Macht und sein Territorium zu vermehren und alle anderen zu schwächen«, urteilt Friedrich Engels. Die überragende Rolle als Verhandlungsführer fiel dem österreichischen Staatskanzler Fürst von Metternich zu, der in der Person Zar Alexanders I. einen starken Gegenspieler fand. Für das Restaurationsprinzip machte sich besonders England mit seinem Vertreter Lord Castlereagh stark, der sich hierdurch die Sicherung der britischen Vormachtstellung in Europa erhoffte, gleichwohl er sich gemeinsam mit Metternich dafür einsetzte, die alte Pentarchie zwischen England, Rußland, Österreich, Preußen und Frankreich wiederherzustellen.

Die Gegensätze zwischen den Großmächten entzündeten sich vor allem an der polnischen Frage und am Schicksal Sachsens. Zar Alexander I. wollte fast ganz Polen unter seinen Einfluß bringen, während Preußen als Entschädigung für seine verlorenen Ostgebiete Sachsen beanspruchte. Einen Kompromiß ermöglichte erst die Rückkehr Napoleons von Elba im März 1815, der seine Gegner zur Einigung zwang. Rußland erhielt schließlich neben Finnland den größten Teil des Herzogtums Warschau (Kongreßpolen). Preußen gewann im Osten nur wenige Gebiete hinzu, und statt wie gefordert ganz Sachsen wurden ihm nur dessen nördliche Gebiete zugesprochen. Dafür entschädigte man es im Rheinland und in Westfalen sowie mit Schwedisch-Pommern. Die deutschen Mittelstaaten (mit Ausnahme Sachsens) gingen ebenfalls vergrößert aus den Verhandlungen hervor. Österreich verzichtete auf seine niederländischen Besitzungen. Dafür sprach man der Donaumonarchie die Gebiete Salzburg, Tirol, Lombardo-Venetien und Galizien zu, womit es wieder eine Großmacht geworden war; ethnisch und geographisch bewegte es sich aber aus Deutschland heraus. Die Schweiz gewann mit dem Wallis, Neuenburg und Genf drei Kantone und erhielt die Garantie immer währender Neutralität.

England, das seine Ziele bereits weitgehend im Ersten Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 mit der Aneignung bzw. völkerrechtlichen Sanktionierung eines großen Teils der ehemals französischen, holländischen und spanischen Kolonien hatte durchsetzen können, war der größte Gewinner dieser Neuordnung. Damit war England die unangefochtene Seemacht geworden. Zudem beherrschte es über seine Personalunion mit dem Königreich Hannover nun die gesamte Nordseeküste.

Frankreich wurde auf sein vorrevolutionäres Staatsgebiet zurückgedrängt. Um keinen dauerhaften Unruheherd entstehen zu lassen, verzichtete man bewußt darauf, es zu demütigen. Mit der Wiedereinsetzung der Bourbonen-Dynastie in Gestalt Ludwigs XVIII., der sich beeilte, feierlich die Grundsätze von 1789 und der napoleonischen Institutionen zu bekräftigen (wobei freilich die Souveränität des Volkes – zum Wohlgefallen auch des Großbürgertums – auf der Strecke blieb), wurde es wieder in die Pentarchie aufgenommen und als Gegenpol zu Rußland und Preußen in Stellung gebracht. Den Fürsten Frankreichs und der vormals mit ihnen verbündeten Nationen hatte man bereits zuvor mit wenigen Ausnahmen Souveränität und Besitzstände zurückgegeben. Im Zweiten Pariser Frieden vom 20. November 1815, nach Napoleons vernichtender Niederlage bei Waterloo, verlor Frankreich u. a. Saarbrücken und Saarlouis an Preußen.

Rückkehr zur Aristokratie

Einen zentralen Raum auf dem Kongreß nahm neben der territorialen Neuordnung Europas die staatsrechtliche Neugestaltung des 1806 nach handfesten Streitigkeiten um die Kaiserkrone aufgelösten Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation ein. Im Grunde hatten bereits die vor dem Wiener Kongreß geschlossenen Bündnisverträge zwischen den deutschen Fürstentümern darüber entschieden, daß als Nachfolgeinstitution nur ein relativ loser Bund »unabhängiger« Staaten in Frage kam.

Der am 9. Juni 1815 abgeschlossenen Wiener Kongreßakte (später ergänzt durch die Wiener Schlußakte) folgte tags darauf die von den Bevollmächtigten der 35 souveränen deutschen Fürsten und vier freien Städten unterzeichneten »Bundesakte«. Damit wurde ein »Deutscher Bund« geschaffen, der von einem Fürstenparlament, dem Bundestag in Frankfurt, repräsentiert wurde und aufgrund eines fehlenden Exekutivorgans sowie des allen Mitgliedern zustehenden Vetorechts kaum mehr war, als eine lose Hülle um absolut souveräne Staaten. Sein Zweck erschöpfte sich in »der Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletztlichkeit der einzelnen deutschen Staaten«. Für die eine nationale Einigung Deutschlands ersehnenden Kreise bedeutete der Deutsche Bund dagegen eine große Enttäuschung.

Zwar sicherte der Wiener Kongreß für einige Jahrzehnte den Frieden in Europa und war insofern erfolgreich, doch glich dieser Frieden in weiten Teilen eher einer Grabesruhe. Die spätere Entwicklung der Nationalstaaten hat er nur aufgeschoben, nicht aber verhindert. Indem die Beschlüsse überhaupt keine Rücksicht auf die Nationalitäten nahmen, die durch die Revolutionskriege geweckt worden waren, stand das Werk des Kongresses in eklatantem Gegensatz zu den Tendenzen des neuen Europa: Die Lombarder und Veneter wurden Österreich ausgeliefert, die Belgier gegen ihren Willen der Herrschaft der Holländer unterworfen, Polen von Neuem zerstückelt und die Deutschen zu einem Bund zusammengeschlossen, an dem Preußen und Österreich zerrten. Auch die politische, verwaltungsmäßige und soziale Reaktion nahm seinen Lauf: In Preußen suspendierte der König die den Junkern so verhaßte Agrarreform, in Spanien hob Ferdinand VII. die Verfassung von 1812 auf und ließ die Inquisition wiederherstellen. Durch die Erfolge der Restauration in den Nachbarländern motiviert, setzte in der Folge auch Ferdinand I. von Sizilien mit Hilfe österreichischer Truppen die Verfassung außer Kraft. Allerdings ließen sich nicht alle Errungenschaften der französischen Revolution rückgängig machen. In den Niederlanden, im Rheinland, in Süddeutschland und in der Schweiz fühlte man sich verpflichtet, die Neuerungen teilweise zu respektieren. »Der Geist der Revolution, der sich mit den Truppen des Kaisers ausgebreitet hatte, sollte deren Niederlage überleben.« (Georges Lefebvre) Um sich vor genau dieser Gefahr zu schützen, schlossen sich die Monarchen Zar Alexander I. von Rußland, Kaiser Franz I. von Österreich und König Friedrich Wilhelm II. von Preußen am 26. September 1815 zu einem mystischen Pakt, der sogenannten Heiligen Allianz zusammen, in der sie sich zur Sicherung einer den Grundsätzen des Christentums entsprechenden Lenkung des Kontinents bekannten und ihr Recht und ihre Pflicht proklamierten, bei revolutionären Unruhen im jeweiligen Land einzugreifen. Diese Allianz, der neben England und Frankreich nahezu alle Fürsten Europas beitraten, wurde das antirevolutionäre Instrument der Restauration.

Aus: junge Welt, 18. Juni 2005


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