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Auf Crashkurs

Drei Jahre Euro-Krise und kein Ende

Von Andreas Wehr *

Der folgende Text wurde in zwei Teilen in der "jungen Welt" veröffentlicht. Im Folgenden dokumentieren wir die Überlegungen von Andreas Wehr zusammenhängend.

Schulden, Kürzungsprogramme, Arbeitslosigkeit

Fast genau auf den Tag vor drei Jahren begann das, was man heute Euro-Krise nennt. Am 4. Oktober 2009 hatte in Griechenland die sozialdemokratische PASOK mit heute nicht mehr vorstellbaren 43,9 Prozent die Wahlen für sich entschieden. Diesen Erfolg errang sie mit Versprechungen zu Ausgabenerhöhungen im Sozialbereich. Nach dem Sieg wollten die Sozialdemokraten aber davon nichts mehr wissen. Da kam dem neuen Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou die Aufdeckung von Schummeleien bei der Errechnung der staatlichen Schuldenquote durch die konservative Vorgängerregierung gerade recht: Das zu erwartende Haushaltsdefizit für 2009 wurde von 6 auf 12 bis 13 Prozent heraufgesetzt.

Was von Papandreou lediglich als Ausrede für die Aufgabe von Wahlversprechen gedacht war, weckte jedoch sofort das Mißtrauen der Finanzmärkte gegenüber der Stabilität des griechischen Finanzsystems. Die Renditeforderungen für Athener Staatsanleihen begannen zu steigen. So kam es zu einem Brand, der mit eigenen Mitteln nicht mehr zu löschen war. Ende April 2010 wurde schließlich die Europäische Union um Unterstützung angerufen. Die Mitgliedsländer der Euro-Zone sagten den Griechen umgehend Hilfen von 110 Milliarden Euro zu.

Doch das reichte nicht. Im Juni 2011 mußte ein zweites Rettungspaket für Griechenland geschnürt werden. Schlimmer noch: Das Feuer erfaßte weitere Länder der Euro-Zone. Im Herbst 2010 beantragten Irland und im Frühjahr 2011 Portugal Unterstützung aus der dafür geschaffenen Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Spanien erbat im Frühjahr 2012 Unterstützung für seine maroden Banken. Auch Zypern und Slowenien und sogar Italien gelten inzwischen als Kandidaten für Nothilfen. Zypern hatte im Juni 2012 als fünftes Euro-Land Hilfen beantragt. Gegenwärtig verhandelt Nikosia mit der Troika über die konkreten Bedingungen. Die Krise, die 2009 als Verwerfung in nur einem Land begann, bedroht längst die Zukunft der gemeinsamen Währung.

Schulden durch Bankenhilfen

Bei der Euro-Krise handelt es sich um ein Produkt der weltweiten kapitalistischen Finanzkrise, die 2007 einsetzte und bis heute ungelöst ist. Sie verursachte nicht nur eine Weltwirtschaftskrise, sie führte auch zu einer Staatsschuldenkrise, denn zur Stützung ihrer Finanzindustrie liehen sich die betroffenen Länder zusätzlich Geld. So stieg zwischen 2007 und 2011 in allen wichtigen kapitalistischen Ländern die Schuldenquote, vor allem aufgrund direkter Bankenhilfe: im Euro-Raum von 65,9 auf 84,1 Prozent, in Großbritannien von 44,5 auf 92,7 Prozent, in den USA von 62,1 auf 92,7 Prozent und in Japan von 187,7 auf 225,9 Prozent.

Besonders schnell stieg die Schuldenquote in den europäischen Krisenländern: zwischen 2008 und 2012 in Irland von 44 auf 118 Prozent, in Spanien von 40 auf 90 und in Griechenland von 113 auf 163 Prozent. Diese Zahlen machen den engen Zusammenhang zwischen umfangreichen Bankenrettungen und den sprunghaft gewachsenen Staatsdefiziten überdeutlich. Die anderen heute so gern genannten Begründungen für die Staatsschuldenkrise, etwa daß die Bevölkerung der betroffenen Länder »über ihre Verhältnisse gelebt« hätte, dort »zu hohe Löhne gezahlt« wurden oder die »Sozialleistungen zu üppig« gewesen seien, sind hingegen pure Ideologie und sollen lediglich die Tatsache verschleiern, daß mit den Staatshilfen die gigantischen Verluste der Finanzindustrie sozialisiert werden.

Die Gründe für die in der europäischen Peripherie besonders hohe Privat-, Unternehmens- und Bankenverschuldung können hier nur angedeutet werden.[1] Sie liegen in einer immer größer werdenden Kluft zwischen dem prosperierenden Kern der EU und einer zurückbleibenden europäischen Peripherie. Im unbeschränkten Binnenmarkt verdrängen die sehr viel wettbewerbsfähigeren Konzerne des Kerns, und hier vor allem Deutschlands, die Unternehmen der Peripherie. In klassischer imperialistischer Manier werden diese Länder zum Anlagegebiet überflüssigen Kapitals degradiert. Mit Ausbruch der Krise sind diese oft spekulativ angelegten Kreditgelder zu einer nicht mehr tragbaren Last geworden.

Verordnete Kürzungspolitik

Die den Krisenstaaten von den Euro-Ländern seit 2010 gewährten Finanzhilfen haben das Ziel, deren Zahlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Damit sollen sie in die Lage versetzt werden, ihre Staatsschulden weiter bedienen zu können. Bedingung für die Auszahlung der Finanzhilfen ist die Befolgung strenger Austeritätsprogramme. Mittels Kürzung staatlicher Ausgaben bei gleichzeitiger Erhöhung der Einnahmen sollen die Krisenländer wieder attraktiv für die Kapitalmärkte werden. Da sie als Mitglieder der Euro-Zone nicht mehr über die Möglichkeit der Abwertung ihrer Währung zum Schutz der nationalen Produktion verfügen, befolgen sie die Politik der »inneren Abwertung«: Die Wettbewerbsfähigkeit soll durch Senkung von Löhnen und Preisen im Land wieder hergestellt werden. Aufgrund der überlegenen Macht der Unternehmen kommt es dabei jedoch regelmäßig zu einer schnellen Kürzung der Löhne bei kaum sinkenden Preisen.

Die über die Austeritätsprogramme Aufsicht führende Troika aus Europäischer Kommission, Internationalem Währungsfonds (IWF) und Europäischer Zentralbank (EZB) hat sich die Verpflichtung auf diese Politik in Form von Memoranden von den Krisenstaaten garantieren lassen. Doch abgesehen von der Tatsache, daß diese Politik ausschließlich den Interessen des Finanzkapitals dient und extrem ungerecht ist, war sie überdies in keinem Krisenland erfolgreich. Nirgendwo hat die verordnete Kürzungspolitik das erhoffte Wachstum hervorgebracht. Das Gegenteil ist der Fall, selbst aus neoliberaler Sicht ist die Bilanz von drei Jahren europäischer Krisenpolitik katastrophal.

In Griechenland ringt die Regierungskoalition seit Monaten um die Verabschiedung eines weiteren Kürzungsprogramms. Angesichts des unvermindert anhaltenden Widerstands dagegen mußte Ministerpräsident Antonio Samaras versprechen, daß dieses Programm das letzte dieser Art sein werde. Doch Mitte September wurde über einen weiteren Fehlbetrag von 20 Milliarden Euro im griechischen Haushalt berichtet, für den es keine Deckung gebe. Die Kürzungspolitik wird also weitergehen. Der anstehende Bericht der Troika, der für die Auszahlung der nächsten Tranche entscheidend ist, war ursprünglich für Mitte September, dann für Oktober angekündigt worden. Nun heißt es, daß er erst im November vorgelegt wird. Bereits jetzt steht jedoch fest, daß Athen den mit der Troika vereinbarten Fahrplan zum Abbau des hohen Haushaltssaldos nicht einhalten wird, denn »während der Sanierungsplan vom März dieses Jahres für 2012 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von 4,7 Prozent voraussagte, wurde im zweiten Quartal 2012 ein Rückgang im Jahresvergleich um 6,3 Prozent gemessen.« (FAZ vom 24.9.2012) Die griechische Ökonomie ist damit inzwischen im fünften Rezessionsjahr, und ein Ende ihres Leidens ist nicht in Sicht.

Irland, das als zweites Land Finanzhilfen der Euro-Länder erhielt, wurde lange Zeit als gelehrigster Schüler der Troika gelobt. Von ihm erwartete man, schon bald wieder an die Finanzmärkte zurückkehren zu können. Nach Berechnungen des IWF sollte es dem Land eigentlich gelingen, sein Rekorddefizit von 32 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in 2010 auf weniger als 10,5 Prozent im Jahr 2011 zu drücken. Dieses Ziel wurde aber verfehlt. Erreicht wurde lediglich ein Minus von 13,1 Prozent. Damit lag das Defizit noch vor dem Griechenlands (minus 9,1 Prozent) und Spaniens (minus 8,5 Prozent). Angesichts der weiter darniederliegenden Wirtschaft und steigender Arbeitslosigkeit – unter Jugendlichen liegt sie inzwischen bei etwa 30 Prozent – wird, wie so oft in der Geschichte des Landes, Auswanderung zum einzig möglichen Ausweg für viele Iren. Mehr als 300000 vor allem junge Einwohner sind in den vergangenen vier Jahren bereits gegangen, dies entspricht immerhin rund sieben Prozent der Bevölkerung.

Sich verschlechternde Daten werden auch aus Portugal gemeldet. Nach Vorgabe der Troika sollte das Defizit hier bereits 2013 auf drei Prozent abgesenkt werden. Bereits vor Monaten mußte dieses Ziel aber auf 2014 verschoben werden. Und auch das ist inzwischen nicht mehr realistisch, da die portugiesische Wirtschaft nach einer Prognose des IWF um drei Prozent in diesem und um 1,5 Prozent im kommenden Jahr schrumpfen wird. Die Kürzungspolitik stößt auch in Portugal auf wachsenden Widerstand. So mußte die Regierung Ende September nach massiven Klassenkämpfen Pläne für pauschale Lohnkürzungen zurückziehen. Für die neoliberale Politik war dies europaweit ein Schock.[2]

Ein weiterer Kandidat für den Status eines Krisenlandes ist Spanien. Ende September gab die Regierung in Madrid bekannt, daß das Staatsdefizit in diesem Jahr 7,4 Prozent anstatt wie mit der EU vereinbart 6,3 Prozent des BIP betragen werde. Die soziale Lage im Land ist katastrophal. Spanien führt die EU-Arbeitslosenstatistik mit einer Erwerbslosenrate von 25,1 Prozent an, unter Jugendlichen beträgt sie sogar 53 Prozent. Und da ist schließlich noch Italien, das sich wie Spanien längst im Fadenkreuz der Finanzmärkte befindet. Seit dem Frühjahr 2012 gehört es mit zu den Ländern, aus denen sich die Banken Kern¬europas zurückziehen, um ein Ausfallrisiko zu vermindern.

Kaum eine Tatsache beschreibt das Scheitern der in der Euro-Zone praktizierten verfehlten Politik besser als die Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Danach leidet Süd-europa unter der weltweit höchsten Arbeitslosenrate: »Unter den afrikanischen, karibischen und lateinamerikanischen Staaten, für die es nur Schätzungen gebe, seien nur wenige Länder, in denen prozentual mehr Menschen ohne Job seien als in Griechenland oder Spanien.« (Handelsblatt vom 10.9.2012)

EZB wird »Bad Bank«

In dieser Situation hat nun der Rat der Europäischen Zentralbank am 6. September 2012 die Möglichkeit geschaffen, kurzfristige Staatsanleihen der Krisenländer in unbegrenzter Höhe aufzukaufen, sofern sich diese zugleich der Austeritätspolitik unterwerfen. Offizielles Ziel dieser Maßnahme ist die Stabilisierung bzw. Absenkung der Renditeforderungen für spanische und italienische Staatsanleihen. Vorbereitet worden war diese Entscheidung von EZB-Präsident Mario Draghi mit seiner Ankündigung, »alles Erforderliche zu tun, um den Euro zu retten«. Die Bundesregierung zeigt sich mit den Käufen einverstanden, fürchtet sie doch andernfalls bald einer weiteren Finanzhilfe für Spanien aus dem neugeschaffenen Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) zustimmen zu müssen. Dies aber würde die Regierung im anstehenden Bundestagswahlkampf schlecht dastehen lassen, müßte sie doch damit eingestehen, den Flächenbrand in der Euro-Zone nicht mehr eindämmen zu können. Lediglich Bundesbankchef Jens Weidmann stimmte im EZB-Rat gegen den Anleihekauf. Die Bundesregierung hatte er dabei nicht auf seiner Seite.

Ausdrücklich unterstützt wurde die Ankündigung Draghis von der SPD, den Gewerkschaften und den Grünen. Der Direktor eines gewerkschaftsnahen Wirtschaftsinstituts, Gustav Horn, bezeichnete die geplanten Anleihekäufe »als entscheidenden Schritt zur Überwindung der Krise« (vgl. junge Welt vom 7.9.12.). Unter den Befürwortern war auch der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel, der es als »ganz richtig« bezeichnete, »daß der Ankauf vorgenommen wird.« (Interview im Nordwest-Radio vom 6.9.2012)

Geradezu euphorisch feierte die sozialdemokratisch ausgerichtete Frankfurter Rundschau (vom 6.9.2012) das Ereignis: »Der 6. September hat das Zeug, in die Annalen der Vereinigten Staaten von Europa einzugehen. (…) Vereinigte Staaten von Europa? Gewiß, bis dahin ist noch ein weiter Weg. Doch ohne den Mut und die Weitsicht von Mario Draghi, wären die Tage des Euro gezählt und damit auch jene des gemeinsamen Europas.« Ganz anderer Meinung ist da Sahra Wagenknecht, die erklärte, daß »mit dem frischen Zentralbankgeld (…) die EZB zur Giftmüllhalde für toxische Wertpapiere mutiert«. Statt dessen – so forderte sie – sind »die Staatsschulden durch einen harten Schuldenschnitt und eine europaweite Vermögensabgabe für Millionäre drastisch zu senken«.[3]

Mit der Absichtserklärung, unbegrenzt Anleihen von Krisenländern aufzukaufen, wird die EZB in der Tat endgültig zur »Bad Bank«, zur Müllhalde abgewerteter staatlicher Schuldpapiere. Die privaten Gläubiger dieser Anleihen, Banken, Investmentfonds oder Privatanleger, erhalten damit unverhofft doch noch Käufer für ihre Schrottpapiere. Nach den nationalen Bankenrettungen in den Jahren 2008/09 ist dies die nächste gigantische Sozialisierung privater Verluste. Diesmal sind es die Steuerzahler aller 17 Euro-Länder, die geschröpft werden.

Die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone hatten der EZB bereits bei ihrem Treffen am 7./8. Mai 2010 grundsätzlich die Genehmigung zum Aufkauf von Staatsanleihen gegeben. Nur wenige Tage später wurde gemeldet: »Zahlreiche Banken haben die Käufe der Europäischen Zentralbank von illiquiden Staatsanleihen der finanzschwachen Euro-Länder genutzt, um ihre Anlagen umzuschichten. Bankenvertreter in der Londoner City berichteten, am vergangenen Montag hätten Institute illiquide Anleihen vor allem von Griechenland, Portugal und Irland an die Notenbanken von Deutschland, Frankreich und Italien abgegeben und statt dessen deutsche Bundesanleihen oder britische Staatsanleihen gekauft.« (FAZ vom 15.5.2010)

Bis heute gab die EZB mehr als 220 Milliarden Euro für Anleihekäufe aus. Nach Schätzungen wanderten auf diese Weise gut 70 Prozent der weitgehend wertlosen Griechenland-Anleihen in ihre Depots. Doch das in den zweieinhalb Jahren seit Mai 2010 nur zögerlich eingesetzte und auch immer mal wieder ausgesetzte Aufkaufprogramm, das nun unbegrenzt gelten soll, stellt nicht allein eine direkte Subventionierung der Finanzindustrie dar. Es ist zudem wirkungslos, denn den beständigen Anstieg der Renditen für Staatsanleihen in immer mehr Krisenländern konnte es nicht aufhalten. Von ihm profitieren allein die Altgläubiger und nicht die Volkswirtschaften der Krisenländer. Wären hingegen die 220 Milliarden als Konjunkturprogramme nach Griechenland, Irland oder Portugal geflossen, wäre diesen Ländern wirklich geholfen worden. Doch für solche Programme fehlten die Mittel, wurden sie doch für die Aufkäufe ausgegeben. Da die EZB das dafür benötigte Geld jedes Mal neu schöpft, steigt zudem die Inflationsgefahr.

Inflation oder Schuldenschnitt

Nach Meinung der Finanzwissenschaftler Ulrich Hege und Harald Hau wird die Euro-Zone aber »letztlich zwischen einer Entschuldung durch Inflation oder durch einen Schuldenschnitt wählen müssen.« Eine Umschuldung, so Hau und Hege in der FAZ vom 14.9.2012, habe »viele Vorteile«, denn dabei »tragen Anleger die Folgen ihres privaten Investitionsrisikos, was zur Vorsicht bei zukünftigen Anlageentscheidungen erzieht. (…) In einem Schuldenschnitt werden die Kosten hauptsächlich von wohlhabenden Finanzinvestoren getragen. Werden Schulden hingegen vergemeinschaftet, tragen die Steuerzahler der Euro-Zone die Last, wobei die Masse des Steueraufkommens auf die Mittelschicht entfällt.« Schließlich könne »ein Schuldenschnitt so strukturiert werden, »daß Kleinanleger (bis zu einem gewissen Höchstbetrag) besonders geschützt werden.« Solche Schuldenschnitte sind in der Wirtschaftsgeschichte bereits viele Male vorgenommen worden. Ihre volkswirtschaftlichen Kosten waren meist kurzfristiger Natur, die Erholung setzte bald danach ein.

Zumindest eine Teilentschuldung hat es in der Euro-Krise bereits einmal gegeben. Im Juni 2010 machten die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP die Beteiligung privater Gläubiger an den Risiken zur Bedingung ihrer Zustimmung für eine neue Griechenland-Hilfe. Nach monatelangen Verhandlungen mit der Finanzindustrie einigte man sich schließlich auf eine bloße Selbstverpflichtung der Banken, Versicherungen und Pensionsfonds. Danach sollen jene Privatgläubiger, deren griechische Anleihen bis 2020 fällig werden, diese gegen neue Schuldverschreibungen mit Laufzeiten von 15 bis 30 Jahren eintauschen können. Durch den Tausch wird deren Wert um 21 Prozent gesenkt. Damit fiel die Abschreibung ausgesprochen gering aus. Erwartet worden war vielmehr ein »Haircut« von mindestens 40 Prozent. Der verbliebene Rest hätte in etwa dem wirklichen Restwert der Anleihen entsprochen.

Doch selbst dieser verwässerte Schuldenschnitt stellte für die Finanzindustrie eine unerträgliche Zumutung dar. Sie setzte alles daran, diesen »Haircut« zu einem einmaligen Ereignis zu machen. Und sie sollte dabei Erfolg haben. Im Dezember 2011 beschlossen die Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets: »Wir bekräftigen klar und deutlich, daß die Beschlüsse, die am 21. Juli und am 26./27. Oktober 2011 zu den griechischen Schulden gefaßt wurden, eine einmalige Ausnahme darstellen.«[4]

Der Schuldenschnitt wird aber dennoch auf der Tagesordnung bleiben. Angesichts der immer hoffnungsloser werdenden Situation in den Krisenländern ist er alternativlos. Dabei muß der geschickten Propaganda der Finanzindustrie entgegentreten werden, »deren Vertreter«, so Ulrich Hege und Harald Hau, »suggerieren, mit der ›Staatenrettung‹ werde das Anlagevermögen von Normalbürgern, wie zum Beispiel deren private Lebensversicherungen, geschützt. Angesichts der tatsächlichen Besitzverhältnisse von Finanzanlagen findet stattdessen eine gewaltige Umverteilung von Steuerzahlern hin zu überwiegend reichen Finanzmarktinvestoren statt.«

Schuldenstreichungen in den Krisenländern der EU werden vor allem von der in den kerneuropäischen Ländern beheimateten Finanzindustrie blockiert, fürchtet diese doch erhebliche Abschreibungen bei ihren Forderungen vornehmen zu müssen. Sie nutzt dabei die imperialistische Machtstellung ihrer Heimatländer, vor allem die Deutschlands und Frankreichs, um einen solchen Schnitt unmöglich zu machen. Wichtigste Aufgabe der Linken in Kerneuropa ist es daher, zu verhindern, daß den Banken ihre faulen Kredite in den Krisenländern durch europäische Rettungsschirme weiter garantiert bzw. von der EZB abgekauft werden. Nur dann läßt sich eine Sozialisierung der Verluste stoppen. Mit den Rettungsschirmen wie auch mit dem Ankauf von Staatsanleihen sind immer auch die von Brüssel diktierten neoliberalen Austeritätsprogramme verbunden. Die Defizitländer verlieren dadurch die Kontrolle über ihre Budgets. Nur wenn sie diese Programme abwerfen und ihre Staatsschulden erheblich zusammenstreichen, können sie ihre Finanzsouveränität wiedererlangen.

Sollte dies nicht gelingen, so könnte die Entscheidung der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 tatsächlich in die Historie der europäischen Integration eingehen, allerdings ganz anders als von der Frankfurter Rundschau vermutet. Sie könnte eines Tages als der entscheidende Schritt in die falsche Richtung angesehen werden, der am Ende zur Auflösung des Euro-Währungsgebiets führte, weil mit ihm die Entschuldung der Peripherieländer endgültig auf die lange Bank geschoben wurde und in Kerneuropa die Bürger danach nicht länger mehr bereit waren, für die Banken zu zahlen.

Der Umbau der Europäischen Union

Die Situation scheint paradox zu sein: Während einerseits offen über einen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone und sogar über deren Zerfall spekuliert wird, werden gleichzeitig Vorschläge für eine Vertiefung der Integration präsentiert, wird immer lauter nach einer Ergänzung der Wirtschafts- und Währungsunion durch eine »politische Union« gerufen. Was ist davon zu halten? Wie realistisch ist überhaupt die Forderung nach »einem großen institutionellen Sprung nach vorn«, setzt doch die Krise gegenwärtig Zentrifugalkräfte frei, die die Euro-Zone und sogar die EU zu sprengen drohen?

Zunächst waren es nur einzelne Stimmen, die als entscheidende Ursache der Euro-Krise die fehlende finanz- und wirtschaftspolitische Koordination der Länder des gemeinsamen Währungsgebiets nannten und ein stärker abgestimmtes Vorgehen forderten. Verlangt wurden die Etablierung einer europäischen Wirtschaftsregierung und eine deutlich gestärkte Kommission, versehen mit einem Finanzkommissar, ausgestattet mit weitreichenden Kompetenzen zur Disziplinierung nationaler Regierungen. Der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Jean-Claude Trichet, forderte bereits 2010 die Einrichtung eines »europäischen Finanzministeriums«.

Die Reformvorschläge beschränken sich allerdings nicht allein auf Fragen der Wirtschaftsverfassung. Von verschiedener Seite wurde etwa die Direktwahl eines europäischen Präsidenten ins Spiel gebracht. Zu den Unterstützern dieser Idee gehört Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker. Eine »Föderation der Nationalstaaten« schlägt Kommissionspräsident José Manuel Barroso vor. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen profilierte sich mit der Forderung nach einem europäischen Einheitsstaat: »Mein Ziel sind die Vereinigten Staaten von Europa – nach dem Muster der föderalen Staaten der Schweiz, Deutschland oder der USA.«

Projekt Weltmacht

Die hier beispielhaft genannten Forderungen nach Vertiefung und Weiterentwicklung der -Union verfolgen verschiedene Ziele und haben unterschiedliche Adressaten. Zum einen sind sie an die breite Öffentlichkeit gerichtet und sollen der in der Krise unpopulär gewordenen Europaideologie zu neuem Glanz verhelfen, nachdem die Vorstellung von der EU, die den Frieden zwischen den Völkern garantiert, in letzter Zeit an Überzeugungskraft verloren hat – woran auch die absurde Verleihung des Friedensnobelpreises wohl kaum etwas ändern kann. Das sieht auch der Exchef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, so, der die schwächer werdende ideologische Bindung der breiten Bevölkerung an das für das Finanzkapital so wichtige Europaprojekt als Gefahr erkannt hat: »Die EU braucht eine neue Vision. Die alte als Friedensgemeinschaft ist für die junge Generation nicht mehr überzeugend.«

Als Ersatz für die brüchig gewordene Begründung wird die Losung einer europäischen Globalmacht ausgegeben, die es mit den neu aufkommenden Schwellenländern, und hier vor allem mit China, aufnehmen kann. Für diese Vision wirbt Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt: »Kein europäisches Land besitzt allein ausreichend Kraft und Potential, um im Wettbewerb mit den starken und aufsteigenden Weltregionen zu bestehen. Europa wird zwischen Amerika, China und Rußland nur gemeinsam stattfinden, oder es wird im globalen Geschehen keine Rolle mehr spielen.« Ganz seiner Meinung ist der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel: «Nur Europa als Ganzes hat eine Chance im globalen Wettbewerb von Ideen und Werten, von Politik und Wirtschaft.«

Dieser Alarmismus eines angeblich im Wettbewerb zurückbleibenden Europas ist alles andere als neu. Schon Lenin schrieb darüber in seiner Schrift »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«.

1968 war es der französische Journalist, Verleger und Politiker Jean-Jacques Schreiber, der mit seinem Buch »Die amerikanische Herausforderung« verkündete, daß sich die USA im globalen Wettbewerb uneinholbar absetzen würden, sollte der europäische Einigungsprozeß nicht beschleunigt werden. Als sich dies in den siebziger Jahren als Legende erwies, die USA vielmehr immer tiefer in den Morast des Vietnamkriegs gerieten und der Dollar dramatisch an Wert verlor, wurde kurzerhand Japan zur neuen Gefahr erklärt. Dementsprechend sagte Schreiber in seinem 1980 veröffentlichten Buch »Die totale Herausforderung« das Zurückbleiben Europas gegenüber Japan voraus. Inzwischen ist auch vom globalen Aufstieg dieses Landes nach tiefer Immobilienkrise mit anschließend langer Stagnation nichts mehr übriggeblieben. Heute sind es nun China und manchmal sogar Indien, die als neue Gefahr an die Wand gemalt werden.

Die Drohungen vor einem Abstieg Europas häufen sich regelmäßig in Krisenmomenten der Union und sollen neue Kräfte für das Integrationsprojekt mobilisieren. In den siebziger und achtziger Jahren war es Frankreich, das in den Büchern Schreibers aufgefordert wurde, Europa zur Festigung seiner angeschlagenen weltpolitischen Bedeutung zu nutzen. Heute sind es die deutschen Konzerne, die verlangen, alle verfügbaren Ressourcen der EU einzusetzen, damit sie den weltweiten Kampf um Märkte und Einflußzonen gewinnen können.

Neben diesen Bemühungen, der EU eine neue ideologische Grundlage zu geben, wird die Euro-Krise heute als Gelegenheit genutzt, um Forderungen ins Spiel zu bringen, die bisher keine Chance auf Realisierung hatten. Dies gilt etwa für den Bericht der aus elf Außenministern von EU-Ländern bestehenden »Gruppe zur Zukunft Europas«, die unter Federführung des deutschen Auswärtigen Amtes am 17. September 2012 Vorschläge zur Reform der Union vorlegten.

Darin findet sich eine Reihe von Vorschlägen, die von deutscher Seite bereits in der Vergangenheit vorgebracht wurden, die aber, so bei den Beratungen im Europäischen Konvent über den Verfassungsvertrag, keine Mehrheit gefunden hatten. Dies betrifft die Forderung nach Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch nach einer Straffung der Arbeit der Europäischen Kommission, die mit gegenwärtig 27 Mitgliedern – jedes Mitgliedsland stellt einen Kommissar – überbesetzt ist. Im Bericht der elf Außenminister ist in diesem Zusammenhang von der Schaffung zweier Klassen von Kommissaren, von »Senior«- und »Junior«-Kommissaren die Rede. Neu ist die Überlegung, den Kommissionspräsidenten direkt wählen zu lassen und ihm sogar das Recht zu geben, die Mitglieder »seiner europäischen Regierung« selbst zu bestimmen. Die Gruppe geht davon aus, daß solche Reformen »langfristig nur durch Vertragsänderungen auf Basis eines Konvents in Angriff genommen werden können«. Ein solcher Prozeß kann sich aber über Jahre hinziehen. Allein die Ausarbeitung und Durchsetzung der letzten Vertragsveränderung, die zum Lissaboner Vertrag führte, hat nicht weniger als zehn Jahre gedauert.

An der Arbeit der »Gruppe zur Zukunft Europas« hat sich nicht einmal die Hälfte der EU-Staaten beteiligt. So fehlte etwa der britische Vertreter. Wäre er dabei gewesen, hätte er gewiß Änderungen vorgeschlagen. Die hätten allerdings darauf gezielt, gemäß der Absicht der konservativen britischen Regierung EU-Kompetenzen auf die einzelstaatliche Ebene zurückzuübertragen. Doch selbst die elf beteiligten Außenminister stehen nicht hinter allen Forderungen ihrer Gruppe. In der Einleitung heißt es: »Der Bericht spiegelt unsere persönlichen Gedanken wider. Wir betonen, daß nicht alle teilnehmenden Minister mit allen Vorschlägen einig sind, und daß die individuellen vertraglichen Verpflichtungen und Rechte der Mitgliedstaaten der einzelnen Politikbereiche berücksichtigt werden müssen.« Die Vorschläge dieser Gruppe dürften daher im Prozeß des Umbaus der EU keine große Rolle spielen.

»Großer Integrationssprung«

Eine ganz andere Bedeutung werden hingegen die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe haben, die im Juni 2012 vom Europäischen Rat eingesetzt wurde. Sie besteht aus dem Präsidenten des Rats, Herman Van Rompuy, dem Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso, dem EZB-Präsidenten Mario Draghi und dem Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker. Der ihr vom Europäischen Rat erteilte Auftrag lautet, konzeptionelle Vorarbeiten zu einer »echten Wirtschafts- und Währungsunion« zu leisten. Danach soll diese Union aus vier Elementen bestehen: »Einem integrierten Finanzrahmen, einem integrierten Haushaltsrahmen, einem integrierten wirtschaftspolitischen Rahmen sowie aus mehr demokratischer Legitimität und verstärkter Rechenschaftspflicht.« Der Abschlußbericht der Gruppe soll Ende Dezember 2012 vorliegen.

Bereits der im Juni veröffentlichte erste Zwischenbericht wie auch die Vorbereitungspapiere für den zweiten Bericht, der auf dem Ratsgipfel am 18./19. Oktober 2012 vorgestellt wird, zeigen, daß es hier um grundlegende Veränderungen, um einen »großen Integrationssprung« der EU gehen soll. Unter der Überschrift »Single Supervisory Mechanism (SSM)« (Einheitlicher Aufsichtsmechanismus) soll neben einer Bankenunion auch eine Fiskalunion für die Euro-Länder entstehen. Sie soll die Kontrolle und Genehmigung der nationalen Haushalte übernehmen und eine gewisse Vergemeinschaftung der Staatsschulden möglich machen. Auch soll die Euro-Zone einen eigenen Haushalt erhalten. In der Fiskalunion sollen all die bisher in Reaktion auf die Krise in hektischer Eile erlassenen Maßnahmen und Verträge in einem einheitlichen Regelungsrahmen integriert werden. Dies betrifft den Euro-Plus-Pakt, das »Europäische Semester«, das eine enge Koordination der nationalen Wirtschaftspolitiken zum Ziel hat, den erst kürzlich verabschiedeten Fiskalpakt und den durch das »Six-Pack« verschärften Stabilitäts- und Wachstumspakt.

Zwar verfaßt die Kommission bereits jetzt weitreichende Empfehlungen für die Mitgliedstaaten, etwa zum Umbau ihrer Arbeitsmarktpolitik oder ihrer Sozialsysteme, nur fehlen ihr bisher die adäquaten Mittel zu deren Durchsetzung. Die europäischen Verträge sehen nämlich solche Eingriffe in die Kernbereiche der Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten nicht vor. Eine Änderung der Verträge wäre aber zeitraubend und der Erfolg zudem ungewiß, da alle 27 Mitgliedsländer zuzustimmen haben. Zudem müßten sie – so ist es seit dem Lissaboner Vertrag vorgeschrieben – zuvor in einem Konvent beraten werden. Der würde aber vor allem aus Vertretern der nationalen Parlamente und aus Europaabgeordneten bestehen. Von ihnen wollen aber die Regierungen nicht abhängig sein.

Im Vorbericht zum Ratsgipfel am 18./19. Oktober 2012 wird beschrieben, wie man diese Klippen umgehen will. Zum einen wird das Vorhaben auf die Mitglieder des gemeinsamen Währungsgebiets beschränkt. Potentielle Störenfriede, wie die Nicht-Euro-Länder Großbritannien und die Tschechische Republik, die dem Fiskalpakt ihre Zustimmung verweigert hatten, bleiben damit außen vor. Zum anderen vermeidet man den Weg über eine Vertragsänderung, indem die einzelnen Euro-Länder jedes für sich mit der Europäischen Kommission Verträge abschließen, in denen sie sich zur Durchführung einer Politik, die »auf europäischer Ebene« formuliert wird, verpflichten. Damit werden künftig alle Euro-Länder von Brüssel so behandelt werden, wie bisher nur die drei Krisenstaaten Griechenland, Irland und Portugal. Diese mußten detaillierte Memoranden unterschreiben, in denen sie sich zur Befolgung einer rigiden Kürzungspolitik verpflichteten.

Das droht nun in Zukunft allen Euro-Ländern. Sie würden große Teile ihrer haushaltspolitischen Souveränität an Brüssel abgegeben: »Ein Kernstück ist die Haushaltspolitik. Die Regierungen der Euro-Staaten sollen ihre Haushaltsentwürfe künftig vorab in Brüssel zur Genehmigung vorlegen. Die EU-Kommission könnte dann ihr Veto einlegen, falls ein überhöhtes Defizit droht. Das gilt auch, wenn in dem Budgetentwurf keine Sparmaßnahmen zum Abbau einer überhöhten Staatsverschuldung vorgesehen sind. In beiden Fällen wäre die jeweilige Regierung zu Korrekturen gezwungen, bevor sie den Etatentwurf zu Hause in die parlamentarischen Beratungen gibt.«

Ein solches Vorgehen entspricht vor allem der Sicht der deutschen Bundesregierung auf die Euro-Krise, sieht sie doch deren eigentliche Ursache in der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der Krisenstaaten. Über Jahre hätten sie »über ihre Verhältnisse gelebt« und »ihre Hausaufgaben nicht gemacht«. Durch verweigerte Strukturreformen, vor allem im Sozialbereich und in der Arbeitsmarktpolitik, durch unzureichende Deregulierungen und versäumte Privatisierungen seien sie daher für ihre Probleme selbst verantwortlich. Aus diesem Grund versucht Berlin schon jetzt mit Hilfe der Schuldenbremse als Kern des Fiskalpakts, allen übrigen Euro-Ländern die Agenda 2010 der Regierung Schröder aufzuzwingen.

Nach deutschem Vorbild

Die wirkliche Ursache der Euro-Krise verschwindet hinter dieser schlichten Denkweise ebenso wie die einzig richtige Therapie: Und dies ist ein radikaler Schuldenschnitt! Den aber lehnen die kerneuropäischen Länder ab, da vor allem die dort beheimateten Banken, Versicherungen und Pensionsfonds davon betroffen wären.

Indem künftig alle Euro-Länder dem Regime der Austeritätspolitik nach deutschem Vorbild unterworfen werden sollen, will der deutsche Imperialismus seine gegenwärtige Stärke und die gleichzeitige Schwäche seiner wichtigsten europäischen Konkurrenten nutzen, um vollendete Tatsachen zu schaffen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.9.2012) wird dieses Vorgehen wie folgt beschrieben: »Das Problem der deutschen Europapolitik besteht nämlich im Grunde darin, die – im Vergleich zu den Partnern – ungleich stärkere wirtschaftliche Leistungskraft Deutschlands politisch Europa-kompatibel zu machen. Mit anderen Worten: Deutschland soll ein nachahmenswertes Modell und Vorbild sein, ohne daß die deutsche Politik als Schulmeister Europas auftritt, der die anderen EU-Länder schurigeln oder gar kujonieren will.«

Noch ist aber ungewiß, ob sich dies durchsetzen läßt. Die Bourgeoisien der Krisenstaaten haben sich zwar dem Diktat Berlins vollkommen unterworfen; Störungen sind nur dann zu erwarten, wenn sich in Klassenkämpfen dort Kräfte durchsetzen, die Sozialabbau und Privatisierungen stoppen können – wie jüngst in Portugal geschehen. Spanien und Italien sind als potentielle Krisenländer auf das Wohlwollen Berlins angewiesen. Großbritannien ist nicht Mitglied der Euro-Zone und von den Maßnahmen nicht betroffen. Bleibt der Unsicherheitsfaktor Frankreich. Der künftige Kurs des Landes zeichnet sich gegenwärtig noch nicht klar ab, das zeigen die aktuellen Auseinandersetzungen um den Fiskalpakt. Der Linksfront ist es gelungen, die Straße gegen ihn zu mobilisieren. Die Fraktionen des Regierungslagers agieren nicht geschlossen. Noch ist in Frankreich die Erinnerung an den 2005 abgelehnten Verfassungsvertrag wach. Vor diesem Hintergrund ist ungewiß, ob die Forderungen der vom Europäischen Rat eingesetzten Arbeitsgruppe nach weitreichenden Übertragungen von Kompetenzrechten in Haushaltsfragen am Ende auch von Paris akzeptiert werden.

Gewagte Konstruktion

Wenn die Parlamente der Euro-Länder Kernbestandteile ihres Haushaltsrechts verlieren, werden die Umbaupläne zu einer umfassenden Entdemokratisierung führen. In Deutschland stößt dies kaum auf Widerstand. Im Gegenteil, für SPD-Chef Sigmar Gabriel steht fest: »Eine vertiefte europäische Union ist ohne den Verzicht auf Teile der nationalen Souveränität nicht zu haben.« Von SPD und Grünen wird als Ausgleich für die Machtübertragung regelmäßig die Stärkung des Europäischen Parlaments (EP) angeregt.

Dieses Parlament ist aber in der Euro-Krise längst zum großen Verlierer geworden, und es sieht gar nicht danach aus, daß sich dies ändern wird. So wurde es weder bei den Entscheidungen über den »Euro-Plus-Pakt« noch bei denen über die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) befragt. Die beiden Finanzinstitutionen zur Finanzierung der Krisenstaaten wurden vielmehr als zwischenstaatliche Vertragsorganisationen außerhalb der EU und damit außerhalb jeden Einflusses des EP angesiedelt. Auch der Fiskalpakt hat eine eigene vertragliche Grundlage, das Europäische Parlament konnte ihn lediglich zur Kenntnis nehmen. Bei der Ausarbeitung der Pläne zum geplanten Umbau der EU hielt man es nun nicht einmal für nötig, den Präsidenten des Europäischen Parlaments hinzuzubitten. Schlimmer noch: Die jetzt bekannt gewordenen Pläne der vom Rat beauftragten Vier sehen sogar eine Aufspaltung des Parlaments vor: Neben das EP soll künftig ein eigenes Euro-Parlament treten, dem sowohl Europaabgeordnete als auch nationale Parlamentarier angehören sollen.

Sollten die dargestellten Pläne Wirklichkeit werden, so würde die bereits bestehende faktische Spaltung zwischen dem Euro-Währungsgebiet und der restlichen EU vertieft werden. Mit der separaten Entwicklung der Euro-Länder kann es aber nicht zur Entstehung eines Kerneuropas kommen, das sich schneller als der Rest integriert, wie es Anfang der neunziger Jahre die CDU-Politiker Karl Lamers und Wolfgang Schäuble vorgeschlagen hatten. Das gegenwärtige Euro-Währungsgebiet umfaßt vielmehr Volkswirtschaften auf sehr unterschiedlichem Niveau. Hochproduktiven Ländern im Kern stehen mit Estland, Griechenland, Malta, Portugal, der Slowakei, Slowenien und Zypern sehr viel geringer entwickelte in der Peripherie gegenüber. Wichtige wirtschaftlich starke kerneuropäische Unionsländer wie Dänemark, Großbritannien und Schweden fehlen hingegen. An dieser Struktur wird sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Angesichts der Krise sind alle geplanten Beitritte zur Euro-Zone erst einmal verschoben worden.

In den Vorschlägen der vom Rat eingesetzten Arbeitsgruppe scheut man vor der Entscheidung zurück, dem Euro-Währungsgebiet eine eigene vertragliche Grundlage zu geben. Die damit vollzogene institutionelle Aufspaltung der Europäischen Union hätte nämlich unabsehbare Konsequenzen. Der statt dessen vorgeschlagene Weg, die Euro-Mitgliedsländer jeweils separat Verträge mit der Europäischen Kommission über die Einhaltung der Verpflichtungen zur Stabilität der Euro-Zone abschließen zu lassen, bedeutet aber nichts anderes, als das Schicksal des Euros künftig an die Erfüllung von 17 Einzelverträgen zu binden. Eine solche Konstruktion ist mehr als gewagt, sie trägt bereits das Element der Auflösung des Euro-Währungsgebiets in sich.

Anmerkungen
  1. Vgl. zu den Hintergründen der Euro-Krise: Andreas Wehr, Griechenland, die Krise und der Euro, PapyRossa Verlag, Köln, zweite aktualisierte und erweiterte Auflage November 2011, S. 11-33
  2. »For many European leaders, the most unexpected shock has come to Portugal«, in: Financial Times vom 3.10.2012
  3. Sahra Wagenknecht, Merkel will Milliardenrisiken bei der EZB verstecken, in: Die Linke im Bundestag, Pressedienst vom 6.9.2012
  4. Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets vom 9.12.2011
* Andreas Wehr veröffentlichte im September 2012 im PapyRossa Verlag Köln das Buch »Die Europäische Union«, 134 Seiten, 9,90 Euro. Das Buch wird am 30. Oktober, 19:00 Uhr in der Ladengalerie der Jungen Welt (Torstraße 6, 10119 Berlin) vom Autor vorgestellt.
Mehr unter: www.andreas-wehr.eu


Dieser Beitrag erschien in zwei Teilen am Montag und Dienstag, 14. und 15. Oktober 2012 in der "jungen Welt".


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