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EU will Kapitulation

Gipfeltreffen in Vilnius: Ukraine soll sich ohne Gegenleistung Brüssel unterwerfen. Kiew hofft auf Unterstützung aus Rußland

Von Reinhard Lauterbach, Nekielka *

Vor Beginn des am Donnerstag in der litauischen Hauptstadt Vilnius eröffneten EU-Gipfels haben sich die Anzeichen dafür gemehrt, daß die EU eine Assoziierung der Ukraine nur als deren Kapitulation wünscht. Wenn der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch in der Hoffnung angereist war, vielleicht in letzter Minute noch ökonomische Zugeständnisse Brüssels heraushandeln zu können, dann mußte ihn ein Interview des polnischen Außenministers Radoslaw Sikorski eines Besseren belehren. »Wir werden nicht in einen Bieterwettbewerb mit Rußland eintreten«, sagte dieser der Warschauer Zeitung Rzeczpospolita vom Donnerstag. Das Vorgehen der Ukraine sei »kurzfristig kaufmännisch«, machte er die wirtschaftlichen Probleme der Ukraine lächerlich. Kiew solle, so Sikorski abschließend, einfach seine »Hausaufgaben machen« und nicht ständig nach Kompensationszahlungen schreien. Für solche sei ohnehin nicht die EU zuständig, sondern der Internationale Währungsfonds (IWF).

Der hatte der Ukraine in den vergangenen Wochen eine Liste von Bedingungen für frische Kredite gestellt. Dazu gehörten die Verdoppelung der Gastarife für Privathaushalte, die Verteuerung aller kommunalen Dienstleistungen, ein Lohn- und Rentenstopp, Entlassungen im öffentlichen Dienst – das übliche Programm also. Janukowitsch und seine Partei der Regionen konnten sich ausrechnen, mit solchen »Errungenschaften« die nächste Wahl 2015 krachend zu verlieren. So erklärten sie, mit ihnen werde es den vom IWF geforderten Sozialabbau nicht geben. Gibt es indessen keine neuen Kredite, droht der Ukraine mittelfristig der Staatsbankrott. Sie muß allein im nächsten Jahr mindestens ein Drittel ihrer Devisenreserven ausgeben, um fällige Auslandsschulden zurückzuzahlen.

Ob allerdings die Verbesserung der wirtschaftlichen Beziehungen zu Rußland Kiew eine kurzfristige Linderung der finanziellen Probleme verschafft, ist offen. Die Neuverhandlung der Gaspreise, die Moskau nach ukrainischer Darstellung Janukowitsch zugesagt hatte, wurde vom Kreml bisher nicht bestätigt. Statt dessen häufen sich von russischer Seite öffentliche Kalkulationen, was die Unterstützung der Ukraine das Land kurz- und mittelfristig kosten werde. Die Rede ist von zehn bis 30 Milliarden Dollar.

Die Äußerungen des polnischen Außenministers vor Gipfelbeginn machen deutlich, daß die EU die Situation der Ukraine im Grunde ebenso sieht wie Moskau. Sie glaubt aber offensichtlich, für die Ausweitung ihrer Einflußsphäre nichts zahlen zu müssen, weil ihr die Ukraine mittelfristig ohnehin zufallen werde – im Zweifelsfall durch einen Machtwechsel in Kiew. Auf die Frage des Interviewers, ob die Politik der EU bedeute, die Ukraine Rußland zu überlassen, antwortete Sikorski, Moskau sei vielleicht kurzfristig überlegen, weil es Geld in die Hand nehmen könne. EU-Europa aber sei »zivilisatorisch« für die Ukraine interessanter.

Diese Meinung teilen sicherlich die Pro-EU-Demonstranten, die seit dem Wochenende in mehreren Städten des Landes auf öffentlichen Plätzen kampieren. Gestern aber zogen auch ihre Gegner durch Kiew. In einem fiktiven fröhlichen Trauerzug zu Blasmusik von Goran Bregovic trugen sie einen Sarg mit der Aufschrift »EU-Assoziierung« zur Vertretung der EU in Kiew. Die russische Agentur Ria Nowosti, die über das Ereignis berichtete, vermied aber Angaben über die Zahl der Teilnehmer. Dem mitgelieferten Bild zufolge war sie überschaubar.

* Aus: junge Welt, Freitag, 29. November 2013


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