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Mit EU-weiten Referenden den Verfassungs-Stillstand überwinden?

Berlin möchte Kernbestandteile der gescheiterten Verfassung auf den Weg bringen - Schröder fordert auf dem EU-Gipfel stärkeres Engagement Europas in der Welt

Dass - ausgerechnet - unter der britischen Präsidentschaft die Europäische Union wieder an Fahrt gewinnen würde, hat wohl nieman wirklich geglaubt. Nicht zu erwarten war indessen das offene Zerwürfnis zwischen Premierminister Tony Blair und dem noch amtierenden Kanzler Gerhard Schröder auf dem jüngsten Treffen der Regierungs- und Staatschefs am 27. Oktober 2005 in Hampton Court. Natürlich ging es vordergründig wiedr einmal um Geld: um Subventionen und um die Finanzierung eines neuen, von Blair ins Spiel gebrachten "Gloablisierungs"-Fonds. Berlin blockte und zeigte sich nicht bereit, auch nur einen müden Euro mehr für die EU auf den Tisch zu legen. Das wird auch die Linie der künftigen schwarz-roten Bundesregierung bleiben.
Die "Informationen zur Deutschen Außenpolitik" (German Foreign Policy) vermuten hinter dem Zerwürfnis mehr als nur einen Streit ums liebe Geld. Berlin, so eine These des folgenden Berichts, möchte mit aller Macht den durch die Referenden in Frankreich und den Niederlanden gestoppten Ratifizierungsprozess der Europäischen Verfassung voran bringen. Dazu könnte die Einführung europaweiter Volksabstimmungen beitragen.
Im Folgenden dokumentieren wir den Artikel von German Foreign Policy sowie im Anhang einen Auszug aus einem Artikel der Wiener Zeitung "Die Presse".



Verfassungs-Direktorium

HAMPTON COURT - 28.10.2005 (Eigener Bericht) - Auf dem gestrigen Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs hat der scheidende deutsche Kanzler ein milliardenschweres EU-Sozialprogramm abgelehnt und eine Verlagerung von Haushaltsmitteln in das Budget der EU-Außenpolitik verlangt. "Europa" müsse sich in der Welt "stärker engagieren", forderte Gerhard Schröder in Hampton Court. Berlin hält weiterhin die Durchsetzung von Kernbestandteilen des gescheiterten EU-Verfassungsentwurfs für notwendig, um die weltweite Machtposition Deutschlands und der EU auszubauen, und fordert u.a. eine Stärkung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Installierung eines EU-Außenministers und einer EU-Armee. Deutsche Regierungsstellen hoffen dabei auf Fortschritte während des österreichischen EU-Vorsitzes im ersten Halbjahr 2006. Vorbereitungen für entsprechende Maßnahmen sind bereits im Gange und zielen auf europaweite Referenden über den Verfassungsentwurf.

Schwachstelle

Im Europaparlament ist gerade der von Berliner Regierungsberatern entworfene Plan für ein "europäisches Referendum" eingebracht worden. Der österreichische Grünen-Parlamentarier Johannes Voggenhuber und der liberale britische Abgeordnete Andrew Duff, die vom Parlament damit beauftragt wurden, Möglichkeiten zur "Wiederbelebung" des gescheiterten EU-Verfassungsentwurfs auszuarbeiten, schlagen vor, gleichzeitig mit den nächsten europäischen Parlamentswahlen im Juni 2009 eine europaweite Volksbefragung über einen überarbeiteten Verfassungsentwurf abzuhalten.[1] Damit würde das bisher bestehende Vetorecht einzelner Staaten aufgehoben und das "Nein" der französischen und niederländischen Bevölkerung überstimmt werden. Unterstützung fand der Vorstoß bei einem als "informell" bezeichneten Treffen der Staatsoberhäupter der deutschsprachigen Länder (Deutschland, Österreich, die Schweiz sowie Liechtenstein) in Salzburg. "Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, ob wir künftig nicht EU-weite Referenden abhalten sollen", erklärte der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer. Der Gast aus Berlin pflichtete bei: Damit könne eine "Schwachstelle europäischer Politik" beseitigt werden.[2] Der Vorschlag ermöglicht es, Entscheidungen widerständiger Bevölkerungen zu überstimmen und den Willen sowie die Verfassung des jeweiligen Souveräns außer Kraft zu setzen.

Bindemittel

Am 13.und 14. Oktober hatte bereits der Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments unter dem Vorsitz des Deutschen Jo Leinen eine Anhörung zur "Zukunft des Verfassungsprozesses der Europäischen Union" abgehalten. Als Vorlage für die Diskussion diente ein Positionspapier des Münchner Centrums für angewandte Politikforschung (CAP). Es verlangt nach Vorkehrungen, die es erlauben, die Verfassung auch dann in Kraft zu setzen, wenn sie von einigen Mitgliedsstaaten nicht ratifiziert wird.[3] Um die Bindungen der EU-Bürger an die Zentralmacht zu stärken ("How to re-connect to EU citizens?"), reichen nach Ansicht der deutschen Experten ökonomische Projekte nicht mehr aus.[4] Das CAP empfiehlt, stattdessen auf die militärische Karte zu setzen, und fordert "konkrete Maßnahmen" zum Aufbau einer einheitlichen EU-Armee; auch müsse ein "konkreter Zeitplan" erarbeitet werden.[5] Bereits 1999 hatte Bundeskanzler Schröder (SPD) die Bedeutung militärischer Aggressionen für den Zusammenschluss der EU hervorgehoben und den Krieg gegen Jugoslawien als "Gründungsakt" für "Europa" bezeichnet.

Pakt

Um die gewünschten Ergebnisse der EU-weiten Referenden sicherzustellen, will die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) die vom Europäischen Rat beschlossene "Reflexionsphase" zu umfassenden Maßnahmen des politischen Marketing nutzen. Mit neun europäischen Think Tanks aus dem European Policy Institutes Network schlägt die DGAP den Abschluss eines "Bürgerpakts" vor.[6] Auf die vorgesehenen Propagandakampagnen sollen nicht nur die EU-Abgeordneten, Kommissare und Spitzenbeamte verpflichtet werden - sie "beteiligen sich intensiv an nationalen Debatten über europäische Fragen", fordert die DGAP. Wie der deutsche think tank verlangt, sollen die nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten "in regelmäßigen Abständen Informationsbulletins" veröffentlichen. Die nationalen Parlamente müssten sich "durch rechtzeitige und intensive Debatten über europapolitische Initiativen" beteiligen, heißt es weiter.

Erzwingen nicht möglich

Auch die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hat ein umfangreiches Strategiepapier vorgelegt, das sich mit der Frage beschäftigt, wie "begünstigende Voraussetzungen" für die Durchsetzung des EU-Verfassungsentwurfs geschaffen werden können.[7] Die SWP behauptet in diesem Zusammenhang, der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft begründe die Verpflichtung der Staaten, die Ratifikation der Verfassung aktiv voranzutreiben, muss aber bedauernd feststellen: "Aufgrund der Souveränität der Mitgliedsstaaten besteht jedoch keine Möglichkeit, entsprechende Handlungen oder Maßnahmen zu erzwingen." Die Regierungsberater verlangen insbesondere von denjenigen Regierungen, "die durch freiwillige Referenden das Scheitern des Verfassungsvertrages wahrscheinlicher gemacht haben", sie müssten "mögliche Auswege aus einer von ihnen mitverschuldeten Krise der EU (...) skizzieren".

Zweite Klasse

Unbotmäßigen Staaten, "deren Bürgergesellschaften ihre Zustimmung zum Verfassungsvertrag verwehren", droht die SWP mit "faktischen Abstufungen der EU-Vollmitgliedschaft" und einem "Sonderstatus", der sie zu Mitgliedsstaaten zweiter Klasse degradieren würde. Der Austritt aus der EU, der Ausschluss oder die Suspendierung der Mitgliedschaft solle den "Nein-Staaten" erspart bleiben, lautet das generöse Angebot. Um die "verfassungswilligen Staaten" nicht weiter zu behindern, sollen "Teilmitgliedschaften" geschaffen werden. Die "Nein-Staaten" müssten ihre bisherigen Stimmrechte in Rat und Parlament auf den von ihnen weiter mitgetragenenen Integrationsbereich beschränken - die Nominierungsrechte für die Kommission, den Gerichtshof und den Rechnungshof blieben dagegen den "Vollmitgliedern" der EU vorbehalten. Die Empfehlungen laufen auf eine weitere Herabstufung mehrerer EU-Mitgliedstaaten und auf ein Europa der zwei Geschindigkeiten unter Führung des Direktoriums Deutschland/Frankreich hinaus.

Fußnoten
  • Neue Hoffnung auf EU-Verfassung; Kurier 21.10.2005
  • Köhler: Mehr Bürgerbeteiligung gegen EU-Müdigkeit; Märkische Oderzeitung 24.10.2005. Fischer regt EU-weite Referenden an; Die Presse 25.10.2005 (siehe Bericht im Anhang)
  • "... there is a clear necessity to introduce new provisions allowing a future Constitution to enter into force even if some member states have failed to ratify it". Janis A. Emmanouilidis: Overcoming the Constitutional Crisis - The future of the constitutional process of the European Union. Paper delivered to the symposium of the European Parliament on 13/14 October 2005, Brussels. Bertelsmann Forschungsgruppe Politik 20.10.2005; www.cap.uni-muenchen.de
  • "(...) they are 'too small' and thus not suitable to attract the attention of citizens". Janis A. Emmanouilidis: Overcoming the Constitutional Crisis - The future of the constitutional process of the European Union
  • "(...) the build-up of an Integrated European Army, a concrete timetable (similar to the introduction of the Euro), concrete measures (similar to the common market programme) and a detailed communication strategy". Janis A. Emmanouilidis: Overcoming the Constitutional Crisis - The future of the constitutional process of the European Union
  • Ein Bürgerpakt für die Europäische Union; DGAP-Analyse Oktober 2005, www.dgap.org
  • Die Ratifikationsverfahren zum EU-Verfassungsvertrag. Wege aus der Krise; SWP-Diskussionspapier September 2005, www.swp-berlin.org Quelle: Website von German Foreign Policy: www.german-foreign-policy.com




    Anhang

    Fischer regt EU-weite Referenden an

    Präsidententreffen in Salzburg. Initiative gegen "Referendums-Fleckerlteppich".

    Salzburg (cu). Heinz Fischer nützte das Präsidententreffen im beschaulichen Salzburger Schloss Leopoldskron, um eine europäische Idee zu forcieren, die ihn schon länger umtreibt. "Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, ob wir künftig nicht EU-weite Referenden abhalten sollen", so Fischer bei einer Pressekonferenz mit den Staatsoberhäuptern Deutschlands (Horst Köhler), der Schweiz (Samuel Schmid) und Liechtensteins Erbprinzen Alois.

    Der Gast aus Berlin pflichtete bei: Europaweite Volksabstimmungen oder -befragungen könnten helfen, die wachsende Kluft zwischen Bürgern und Entscheidungsträgern zu überbrücken, erklärte Köhler. Zur Frage, ob über die EU-Verfassung eine europaweite Abstimmung stattfinden sollte, wollte beide nicht Stellung nehmen. (...)

    Er fügte jedoch hinzu, dass es gravierende Probleme schaffe, wenn europäische Projekte durch Volksabstimmungen in einem einzigen Land blockiert werden könnten. Zuletzt haben sich Frankreich und die Niederlande in Referenden gegen die EU-Verfassung ausgesprochen. Samuel Schmid, dessen Land nicht der EU angehört, meinte, dass die Schweiz weitere Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Brüssel sondiere. (...)

    Auszug aus: Die Presse (Wien), 25.10.2005





    Weitere Beiträge zur EU-Verfassung

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