Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die EU-Verfassung und der Frieden

Kritik des sicherheitspolitischen Teils des Verfassungsentwurfs aus Sicht von IALANA

Der folgende Beitrag kritisiert den sicherheitspolitischen Teils im Entwurf für die Europäische Verfassung. Die Autoren haben im Rahmen eines IALANA-Projekts versucht, auf die Entwicklung der Verfassung Einfluss zu nehmen. Dabei ist es gelungen, einige aus friedenspolitischer Sicht zu begrüßende Änderungen zu erzielen.

I. Entstehungsprozess der Europäischen Verfassung

2002 hatte der Europäische Verfassungskonvent mit der Erstellung eines Verfassungsentwurfs begonnen.[1] Mit der Einrichtung des Konvents verbunden war die Einladung an die "Zivilgesellschaft", Vorschläge für den Verfassungstext zu machen.[2] Aus friedenspolitischer Sicht war zu dieser Zeit eine zunehmende Militarisierung der Europäischen Sicherheitspolitik zu konstatieren. Diese hat sich unter anderem in dem sogenannten Farnborough-Abkommen etabliert, in dem von 6 EU-Mitgliedsstaaten eine enge Zusammenarbeit im Bereich der Rüstungsindustrie vereinbart wurde. Im Juli 2003 wurde der Entwurf der Europäischen Verfassung vorgestellt.[3] Zu einer Annahme durch den Europäischen Rat ist es dann wegen eines Streits um Fragen der Machtverteilung zunächst nicht gekommen.

Unabhängig von den einzelnen Regelungen ist die große friedenspolitische Wirkung zu würdigen, die mit der Schaffung der Verfassung erbracht würde. Das mit der Gründung der EU verbundene Ziel, einen stabilen Frieden zwischen den Mitgliedsstaaten zu gewährleisten wird durch die Schaffung einer Verfassung manifestiert. Mit der Einbeziehung der Beitrittskandidaten wird diese Wirkung weiter ausgedehnt.

II. Sicherheitspolitische Regelungen im Verfassungsentwurf

Aus Sicht der Friedensbewegung sind im wesentlichen die Festlegung auf den Frieden als Ziel und die Vorschriften zur Konfliktschlichtung von Bedeutung. Weil die Diskussion im Verfassungskonvent parallel zum Irak-Krieg stattfand, war eine ausdrückliche Verankerung friedenspolitischer Grundsätze schwierig. Sie wäre von den am Krieg beteiligten Regierungen als Kritik aufgefasst worden. Die Ziele der Union finden sich in Art. I-3 Absatz 1:
"Die Union hat das Ziel, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen der Völker zu fördern."

In Art.I 3 Abs. 4 folgt der Auftrag, zum Frieden unter den Völkern beizutragen sowie eine ausdrückliche Anerkennung der Verbindlichkeit des Völkerrechts:
"In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen. Sie trägt bei zu Frieden, Sicherheit, nachhaltiger Entwicklung der Erde, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, freiem und gerechten Handel, Beseitigung der Armut und Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere der Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen."

Positiv ist die prominente Positionierung des "Friedens" und die Anerkennung des Völkerrechts. Insbesondere letztere war in der ursprünglichen Entwurfsfassung nicht erwähnt. Möglicherweise haben Appelle der IALANA zu der wünschenswerten Klarstellung beigetragen. Mit der Anerkennung der Grundsätze der UN-Charta ist der in Kapitel VII angelegte Vorrang der zivilen vor militärischen Maßnahmen bestätigt.

Zwar gehen die Festlegungen im Verfassungsentwurf nicht über das hinaus, wozu die EU-Mitgliedsstaaten aufgrund der Bindung an die UN-Charta ohnehin verpflichtet wären. Aber zum einen hat die ausdrückliche Wiederholung des Friedens als Ziel - gerade wegen der Verfassungsentstehung während des Irak-Krieges - eine nicht zu unterschätzende deklaratorische Bedeutung. Zum anderen besitzen die europäischen und nationalen Gerichte Zuständigkeiten für die Bewertung der Verfassung, so dass es - anders als bei Verletzungen der UN-Charta - tatsächlich zu einer gerichtlichen Verurteilung von Verstößen kommen kann.

Die zentrale Vorschrift für die Friedensbewegung ist Art. I-40:
Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist integraler Bestandteil der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Sie sichert der Union die auf zivile und militärische Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen. Auf diese kann die Union bei Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit gemäß den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zurückgreifen. Sie erfüllt diese Aufgaben mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden.

In Art. I-40, Absatz 3 S. 1 heißt es:
Die Mitgliedstaaten stellen der Union für die Umsetzung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zivile und militärische Fähigkeiten als Beitrag zur Verwirklichung der vom Rat festgelegten Ziele zur Verfügung.

Damit wird erstmals in einem Verfassungstext die Bedeutung der zivilen Konfliktschlichtung anerkannt. Das deutsche Grundgesetz kennt z. B. nur die Pflicht zur Aufstellung von Streitkräften (Art. 87a GG). Hier hatte das IALANA-Projekt Europäische Verfassung in zweifacher Weise Erfolg:
Es wurde erreicht, dass die ursprüngliche Reihenfolge der Begriffe "auf militärische und zivile Mittel" bzw. "militärische und zivile Fähigkeiten" umgedreht wurde (Art. I-40 Abs. 1, Abs. 3). Zudem wurde der Begriff "Konfliktverhütung" aufgenommen. Es ist davon auszugehen, dass dieser nunmehr eingefügte Begriff und der Rückgriff auf die UN-Charta einen Vorrang der zivilen Konfliktschlichtung festlegt. Bestandteil der Charta ist die Festlegung, dass militärische Maßnahmen nur im Falle der Unzulänglichkeit der zivilen Maßnahmen eingesetzt werden dürfen. Die Bezugnahme auf die UN-Charta schafft kein neues Recht, weil die Mitgliedsstaaten über ihre Mitgliedschaft in der UN an die Charta gebunden sind. Sie hat aber einen nicht zu unterschätzenden deklaratorischen Charakter und schafft die Möglichkeit zu einer gerichtlichen Kontrolle der Einhaltung.

Militärische Maßnahmen

Der Verfassungsentwurf enthält aber auch mehrere zu kritisierende Regelungen. Das gilt insbesondere für Artikel I-40, Abs. 3, Satz 3 ff.:

Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Es wird ein Europäische Agentur für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten eingerichtet, deren Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors beizutragen und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen, sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich Fähigkeiten und Rüstung zu beteiligen sowie den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zu unterstützen."

Die Festlegung einer Pflicht (!) zur Aufrüstung muss scharf kritisiert werden. Es ist nicht bekannt, dass die Verfassung irgend eines Staates eine solche Pflicht enthält. Unabhängig von der dahinter stehenden falschen Haltung zur Friedenspolitik ist wegen der restriktiven Haushaltspolitik in den EU-Staaten zweifelhaft, ob die Pflicht tatsächlich erfüllt würde. Von den Finanzierungsproblemen ist aber auch der Aufbau von zivilen Kapazitäten betroffen. Es steht zu befürchten, dass sich wegen Art. I-40 Absatz 3 Satz 1 die militärische Aufrüstung durchsetzen würde. Das wäre nicht mit dem Ziel des Friedens in Art. I-3 des Verfassungsentwurfs vereinbar. Insofern ist die Verfassung widersprüchlich. Die zuvor zum Ausdruck gebrachte Vorrangigkeit der zivilen Konfliktschlichtung wird konterkariert, weil eine ausdrückliche Verpflichtung zur "Verbesserung der militärischen Fähigkeiten" statuiert wird, die durch eine im zivilen Bereich nicht vorgesehene Agentur gewährleistet werden soll. An dieser Stelle haben sich bedauerlicherweise die Befürworter einer Militarisierung durchgesetzt.

Weiterhin ist zu kritisieren, dass in Art. III-210 Absatz 1 eine Vermengung zahlreicher verschiedener Missionen erfolgt:
"Die in Art. I-40 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet."

Damit wird das Anwendungsfeld für militärische Maßnahmen auf Ausgaben ausgedehnt, die nicht mit Militär verfolgt werden sollten. Hier wäre eine klare Trennung von zivilen und militärischen Missionen angebracht gewesen. Schließlich ist zu bemängeln, dass in Art. III-210 Absatz 2 die Entscheidung über die Missionen nur dem Ministerrat übertragen wird. Insbesondere die Durchführung von militärischen Missionen sollte nicht ohne das Europäische Parlament beschlossen werden dürfen.

III. Fehlende Regelungen

Zudem fehlen wünschenswerte Festlegungen.

Zunächst fehlt eine ausdrückliches Verbot von Massenvernichtungswaffen. Völkerrechtlich verbindliche Basis für ein Verbot von Atomwaffen ist der Atomwaffensperrvertrag. In diesem Vertrag haben sich die Nicht-Atomwaffenstaaten verpflichtet, keine Atomwaffen herzustellen, zu erwerben oder zu besitzen. Im Gegenzug haben sich die Atomwaffenstaaten zu redlichen Bemühungen um die vollständige Abschaffung der Atomwaffen verpflichtet. 1996 entschied der Internationale Gerichtshof (IGH), dass Art. VI des Atomwaffensperrvertrages die Kernwaffenstaaten bindend verpflichte, "Verhandlungen über die nukleare Abrüstung in allen Aspekten erfolgreich abzuschließen." Weiterhin hat der IGH die generelle Unzulässigkeit der Androhung und des Einsatzes von Atomwaffen festgestellt.[4] Vor dem Hintergrund dieser völkerrechtlichen Verpflichtung wäre es angebracht gewesen, dass der Verfassungsentwurf ebenfalls eine ausdrückliche Absage an Massenvernichtungswaffen enthalten hätte.

Weiterhin fehlt eine ausdrückliche Ächtung des Krieges. Zwar wird in Art. 3 Abs. 1, Abs. 4 des Verfassungsentwurfs der "Frieden" ausdrücklich als Ziel manifestiert, woraus sich im Umkehrschluss auch eine Ächtung des Krieges ergibt. Diese hätte aber noch einmal gesondert betont werden sollen. Vorbild für eine Ächtung des Krieges ist die Artikel 1 des Briand-Kellogg-Pakt, der für zahlreiche Mitgliedsstaaten der EU ohnehin bindendes Völkerrecht darstellt:
"Die Hohen Vertragschließenden Parteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, daß sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten."

Weil die Diskussion des Verfassungsentwurfs parallel zu dem auch zwischen den EU-Mitgliedsstaaten umstrittenen Irak-Krieg stattfand, konnte man sich wohl nicht auf eine ausdrückliche Absage an den Krieg einigen. Die Kriegsbefürworter hätten das als - im Ergebnis berechtigte - Kritik verstanden.

IV. Ausblick

Aus Sicht der Friedensbewegung kommt es nun darauf an, die Ansätze für die zivile Konfliktschlichtung für einen weltweiten Wettbewerb um die besseren Konfliktschlichtungsmodelle fruchtbar zu machen. Ansonsten droht die Wiederholung des "Scheiterns" von zivilen Missionen, wie im Kosovo, wo eine unterbesetzte und nicht ausreichend qualifizierte Mission als "gescheitert" bewertet,[5] abgezogen und damit auch noch als Vorwand für den Einsatz militärischer Gewalt missbraucht wurde.

Der abzulehnende Versuch, durch eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik die militärische Stärke der USA zu erreichen, wird wegen der mangelnden Bereitschaft und Fähigkeit zur Bereitstellung der erforderlichen Haushaltsmittel scheitern. Europa sollte stattdessen wirkungsvollere zivile Mittel entwickeln, die sich im Wettbewerb um die bessere Politik durchsetzen werden.

Die Absage an Krieg wäre unvollständig, wenn nicht Alternativen aufgezeigt würden. Das naheliegende und inzwischen erfolgreich erprobte Mittel ist die zivile Konfliktschlichtung. Wenn dafür nicht ausreichende Strukturen bereit stehen, ist ein Rückfall auf militärische Mittel wahrscheinlich. Europa sollte Konfliktschlichtung mit Ausrichtung auf die Etablierung rechtsstaatlicher Strukturen betreibt. Das ist billiger als militärische Intervention, führt nicht zu menschlichen Opfern und Zerstörung und schafft hochqualifizierte Arbeitsplätze.

Ein erheblicher Mangel des bisherigen Verfassungsentwurfs ist, dass es im Gegensatz zum militärischen Bereich für die Verbesserung der Zusammenarbeit keine "Agentur für Konfliktschlichtung" gibt. Die IALANA plant deshalb in Kooperation mit anderen Organisationen der Friedensbewegung im Mai 2004 einen Kongress zur zivilen Konfliktbearbeitung auszurichten.

Fußnoten
  1. Deutschland war u. a. durch Außenminister Joschka Fischer vertreten. Für nähere Informationen siehe http://european-convention.eu.int/bienvenue.asp?lang=DE&Content=
  2. Siehe dazu http://europa.eu.int/futurum/index_de.htm.
  3. Für den deutschen Text siehe: http://european-convention.eu.int/docs/Treaty/cv00850.de03.pdf.
  4. IALANA (Hrsg.), Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof, S. 29 ff; 69 ff.
  5. Ob die Kosovo Verification Mission (KVM) als Misserfolg zu bewerten ist, ist umstritten, vgl. ausführlich H. Loquai, Weichenstellungen für einen Krieg, Baden-Baden 2003.
* Dr. Peter Becker ist Rechtsanwalt und Vorsitzender der deutschen IALANA sowie Sekretär des weltweiten IALANA-Dachverbandes.
Dr. Philipp Boos ist Rechtsanwalt sowie Geschäftsführer der deutschen IALANA und des IALANA-Dachverbandes



Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 2, März/April 2004

Das FriedensJournal wird vom Bundesausschuss Friedensratschlag herausgegeben und erscheint sechs Mal im Jahr. Redaktionsadresse (auch für Bestellungen und Abos):
Friedens- und Zukunftswerkstatt e.V.
c/o Gewerkschaftshaus Frankfurt
Wilhelm-Leuschner-Str. 69-77
60329 Frankfurt a.M.
(Tel.: 069/24249950); e-mail: Frieden-und-Zukunft@t-online.de )




Weitere Beiträge zur EU-Verfassung

Zurück zur Europa-Seite

Zurück zur Seite "FriedensJournal"

Zurück zur Homepage