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Ein Abschied auf Raten

An die Umsetzung des Verfassungsvertrags für die Europäische Union glaubt selbst die Brüsseler Kommission nicht mehr

Von Andreas Wehr*

Die Außenminister der 25 EU-Staaten suchen an diesem Wochenende im Stift Klosterneuburg bei Wien einen Ausweg aus der schweren Krise, in die die Union nach Ablehnung der Verfassung in Frankreich und den Niederlanden geraten war.


Geht es nach Bundeskanzlerin Angela Merkel, so soll es in der Diskussion über die Zukunft des europäischen Verfassungsvertrages keinen »Schnellschuss« geben. Mit anderen Worten: Auch die deutsche Ratspräsidentschaft der Europäischen Union wird 2007 das Problem nicht vom Tisch bekommen. Vor einem halben Jahr klang es noch ganz anders. Bei ihren Antrittsbesuchen in Paris und London forderte Merkel Franzosen und Niederländer ultimativ auf, erneut über den von ihnen bereits abgelehnten Verfassungsvertrag, ergänzt lediglich um eine unverbindliche Erklärung zum sozialen Europa, abzustimmen.

Auch die EU-Kommission geht inzwischen davon aus, dass es den Verfassungsvertrag in den nächsten Jahren nicht geben wird. Erst vor wenigen Tagen forderte ihr Präsident José Manuel Barroso, einzelne Teile des Vertrages – etwa Passagen zur Innen- und Rechtspolitik – vorab in Kraft zu setzen. Prompt wurde er der »Rosinenpickerei« bezichtigt.

So findet ein Abschied auf Raten von einem Verfassungsvertrag statt, der doch schon lange tot ist. Und hinter den Kulissen wird bereits ein neuer konzipiert. Direkt nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden vor einem Jahr (29. Mai bzw. 1. Juni) legte das von der Bertelsmann-Stiftung getragene »Centrum für angewandte Politikforschung« einen ersten Entwurf dafür vor. Er ist sehr viel kürzer als der vorliegende Vertrag und besteht aus nur wenigen Teilen: einem allgemeinen Abschnitt zu den Institutionen, der Grundrechtecharta und einigen Schlussbestimmungen. Der allein über 300 Artikel umfassende Abschnitt III der unterzeichneten Verfassung mit den konkreten Politikinhalten entfiele demnach ganz.

Mit einem derart reduzierten Vertrag versucht man zugleich, der grundsätzlichen Kritik an der Politik der EU aus dem Weg zu gehen. In den Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden stand ja nicht die eine oder andere institutionelle Änderung zur Debatte, vielmehr ging es um den allgemeinen Kurs der Union. Kritisiert und mit dem Verfassungsvertrag abgelehnt wurde die neoliberale Ausrichtung der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Und daran werden die Kritiker festhalten, denn die Verfassungsdiskussion stellt zugleich eine Aussprache über die Ausrichtung der europäischen Integration als Ganzes dar. Dahinter kann es kein Zurück mehr geben.

Ein auf die Neuordnung der Institutionen reduzierter Vertrag würde auch nicht das bestehende Demokratiedefizit in der EU verringern. Im Gegenteil: Wohin man im institutionellen Teil des Verfassungsvertrages auch blickt, überall finden sich Straffungen und Verkleinerungen europäischer Gremien. In der Kommission soll nicht einmal mehr jeder Mitgliedstaat mit einem eigenen stimmberechtigten Kommissar vertreten sein. Es soll ein Europäischer Außenminister und das Amt eines ständigen Ratspräsidenten geschaffen werden. Der Zentralisierung dient auch die Übertragung weiterer politischer Angelegenheiten aus der Einstimmigkeit im Rat in die Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit. Was scheinbar eine Demokratisierung ist, da damit auch das Europäische Parlament Mitentscheidungsrechte erhält, ist tatsächlich eine weitere Einschränkung demokratischer Souveränitätsrechte, entfällt doch zugleich die Möglichkeit des einzelstaatlichen Vetos. Der Ausgang des Streits über die Verfassung entscheidet mithin darüber, ob die neoliberale Wirtschaftsordnung in Europa stabil bleibt. Denn dies verlangt, die sich über die nationalen Parlamente zu Wort meldende Öffentlichkeit niederzuhalten.

Was also tun? Eine Reform der Institutionen muss zum Ziel haben, das Demokratiedefizit in der EU deutlich zu verringern. Nur dann besteht auch die Chance für eine Änderung der europäischen Politik. Erforderlich ist die Stärkung der Rechte der nationalen Parlamente, denn über sie können sich noch am ehesten die Betroffenen zu Wort melden und Einspruch einlegen. Der Europäische Konvent hat diese Fragen jedoch stiefmütterlich behandelt und die Rolle der nationalen Parlamente nur in angehängten Protokollen angesprochen. Ihre deutliche Stärkung muss aber vielmehr im Mittelpunkt eines neuen Verfassungsvertrages stehen.

* Der Autor ist Mitarbeiter der Linksfraktion im Europäischen Parlament. Im April ist von ihm das Buch "Das Publikum verlässt den Saal. Nach dem Verfassungsvertrag: Die EU in der Krise" im PapyRossa Verlag erschienen. (Siehe auch die Buchbesprechung von Helmuth Markov.)

Aus: Neues Deutschland, 27. Mai 2006



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