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Die Verfassung ist (schein)tot – Die Militarisierung schreitet voran

Von Peter Strutynski *

Mit dem Non der Franzosen und dem Nee der Niederländer bei zwei Referenden Ende Mai bzw. Anfang Juni 2005 geriet mit dem Verfassungsprozess auch die Europäische Union in eine schwere Krise, von der auch ein gutes halbes Jahr später nicht abzusehen ist, ob sie sich davon wieder erholen kann. Die Ablehnung des Verfassungsvertrags in den beiden Ländern hatte viele Gründe. Dass dabei die im Verfassungsentwurf enthaltenen Bestimmungen zur weiteren Militarisierung der EU eine entscheidende Rolle gespielt haben, muss deshalb bezweifelt werden, weil der öffentliche Diskurs dieses Thema weitgehend ausgespart hatte – ganz im Sinne der Regierenden, die das Thema entweder verschämt unter den Teppich gekehrt oder verniedlicht haben. Eher hatten die Ängste um die in der Verfassung vorgesehenen wirtschaftlichen Deregulierungen und Privatisierungsabsichten zu Buche geschlagen. Die Begeisterung für die angeblichen Wohltaten des Neoliberalismus, so sie es denn in der Masse der Bevölkerung überhaupt gab, hat im vergangenen Jahr ihren Zenit überschritten und ist endgültig einer breiten Ernüchterung und tiefen Verunsicherung gewichen. Das heißt indessen nicht, dass die Bevölkerung in den am Referendum beteiligten Staaten der Militarisierung der EU gleichgültig gegenüberstehen oder ihr gar zustimmen würden.

Ich möchte im Folgenden nach einem kurzen Abriss über den Stand des Ratifizierungsverfahrens der Frage nachgehen, ob der Tod der Verfassung – sollte er wirklich endgültig sein - auch das Ende aller ihrer umstrittenen Inhalte bedeutet, oder ob auch ohne Verfassung die einmal eingeschlagene Politik bruchlos fortgeführt wird. Dabei interessiert vor allem der Aspekt der Militarisierung der EU.

1 Zum Stand der Ratifizierung

Am 29. Oktober 2004 haben die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten den „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ in Rom feierlich unterzeichnet. Damit wurde das Ratifizierungsverfahren eröffnet: Jeder Mitgliedstaat muss, entsprechend der nationalen Regelungen, über die Verfassung im Parlament und/oder in einem Referendum durch die Bevölkerung befinden, ein Prozess, der am 1. November 2006 abgeschlossen sein sollte, sodass dann der Vertrag endgültig in Kraft treten würde. Nach den Blitzstarts der Parlamente in Litauen (11.11.04), Ungarn (20.12.04) und Slowenien (01.02.05) und der großen Zustimmung in einem nicht bindenden Referendum in Spanien (77 % für die Verfassung, allerdings eine mit 42 % geringe Beteiligung) am 20. Februar 2005 schienen die Weichen für einen glatten Durchmarsch auch in den übrigen Staaten gestellt. Die weiteren Staaten, die den Vertrag demonstrativ und mit überwältigenden Mehrheiten ratifizierten, taten dies alle auf der parlamentarischen Ebene: Slowenien, Italien, Griechenland, Slowakei, Österreich und Deutschland. Belgien hat zwar auch in beiden Kammern dem Vertrag zugestimmt, doch stand lange Zeit noch die Zustimmung durch das flämische Regionalparlament aus. Vor allem das fast einstimmige Ergebnis in Deutschland (zwei Tage vor dem französischen Referendum) sollte der mit Spannung erwarteten Abstimmung in Frankreich den nötigen Rückhalt verleihen. Daraus wurde bekanntlich nichts. Die gescheiterten Referenden in Frankreich (29. Mai 2005) und den Niederlanden (1. Juni 2005) haben den weiteren Fahrplan schon nach einem Drittel der Wegstrecke ins Wanken gebracht. Der britische Premierminister Tony Blair verschob daraufhin in einer ersten Reaktion die für Großbritannien im Frühjahr 2006 vorgesehene (freiwillige und rechtlich nicht bindende) Volksbefragung auf einen unbekannten späteren Zeitpunkt. Die schon vorher fest eingeplanten und nun trotzig durchgezogenen Ratifizierungen der Parlamente in Lettland, Zypern und Malta sowie das erfolgreiche Referendum in Luxemburg (56,5 % Ja-Stimmen, 10.07.05) konnten den Katzenjammer der Verfassungsbefürworter indes nicht lindern. Laut Vertragswerk müssen alle 25 Mitgliedstaaten die Verfassung ratifiziert haben, damit sie in Kraft treten kann.

Davon war die EU Mitte des Jahres noch weit entfernt: Bis dahin hatten dem Vertragswerk 13 Staaten zugestimmt. In ihnen wohnen 225,2 Mio. Menschen (von 454,3 Mio. Einwohnern der EU insgesamt), also knapp die Hälfte der EU-Bevölkerung. Zwei Staaten haben abgelehnt. Der Weg für die endgültige Ratifizierung in Belgien wurde durch die positive Entscheidung des flämischen Regionalparlaments am 8. Februar 2006 frei gemacht. Von den noch ausstehenden Ratifizierungen dürften Estland, Finnland und Schweden noch die geringsten Probleme bereiten: Hier entscheiden die jeweiligen Parlamente. Aber auch das Referendum in Polen dürfte das gewünschte positive Ergebnis bringen. Völlig offen sind dagegen die obligatorischen Referenden in Dänemark und Irland sowie die fakultativen Plebiszite in Portugal, Tschechien und – falls es wirklich noch dazu kommt – in Großbritannien.

Zum Stand der Ratifizierung des EU-Verfassungsvertrags

(März 2006)

Ratifizierung abgeschlossen:
a) Parlamentarisch: Litauen, Ungarn, Slowenien, Italien, Griechenland, Slowakei, Österreich, Deutschland, Lettland, Zypern, Malta
b) Parlamentarisch mit einem konsultativen Referendum: Spanien, Luxemburg

Verfassungsvertrag in Referenden abgelehnt:
Frankreich, Niederland

Noch ausstehende Ratifizierungen:
a) Parlamentarisch: Belgien (nur noch eine Formsache), Estland (am 8. Februar 2006 begannen die Beratungen im Parlament), Finnland, Schweden, *Polen
b) Obligatorische und fakultative Referenden: Dänemark, Irland, Portugal, *Polen, Tschechien, Großbritannien (Plebiszit rechtlich nicht bindend)



Angesichts der verfahrenen Situation haben die Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfel am 17./18. Juni 2005 in Brüssel beschlossen, eine „Denkpause" im Ratifizierungsprozess einzulegen. Der Ratifizierungsprozess selbst soll bis Mitte 2007 verlängert werden. Damit ist zwar etwas Zeit gewonnen, aber keine Klarheit. Während von der britischen EU-Präsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 2005 keinerlei Impulse für eine Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses ausgingen, haben die Präsidentschaften 2006 (Österreich und Finnland) den Vorteil, als kleine und – formal noch - neutrale Staaten den Verfassungsvertrag mit größerer Überzeugungskraft in die „Plebiszitländer“ hinein zu kommunizieren. Ein Stimmungsumschwung zugunsten der EU-Verfassung müsste also in diesem Jahr, ein neuer Versuch spätestens im Jahr 2007 kommen. Erste Versuchsballons aus Frankreich und Deutschland sind bereits gestartet worden (vgl. SPIEGEL-online, 4. März 2006). Ob die ihnen zugrunde liegende Idee, eine abgespeckte Version des Verfassungstextes vorzulegen bzw. dem alten Verfassungstext eine kurze sozialorientierte Präambel voran zu stellen, tragfähig sein wird, werden wir vielleicht erst nach der Präsidentenwahl in Frankreich 2007 erfahren.

2 Militarisierungselemente im Verfassungsvertrag

Den Kritikern der Militarisierung Europas wird häufig vorgeworfen, sie operierten mit einem überholten Begriff, der auf das hochgerüstete Europa der Nationalstaaten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zutraf, aber nicht für den modernen postnationalen Staat gültig sei. Der „Militarismus“ der imperialistischen Epoche war durch eine tiefgehende Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche mit dem „Geist des Militarismus“ gekennzeichnet. Das Militärische prägte die Biografien der Menschen und die hierarchische Struktur der Gesellschaft. Davon ist heute in der Tat wenig zu spüren, auch wenn nicht zu verkennen ist, dass bestimmte militärische und politische Kreise nie aufgehört haben, in solchen Kategorien zu denken. Viele Staaten EU-Europas zeichneten sich bisher eher durch eine demonstrative Zivilität aus, die das Militär verschämt in den Kasernen verborgen hielt. Erst in neuester Zeit sind wieder Tendenzen sichtbar, durch bewusstes Anknüpfen an alte militärische Traditionen und Zeremonien die Öffentlichkeit auf die angeblich segensreiche Präsenz des Militärischen in der Gesellschaft zu gewöhnen.

Wenn ich von Militarisierung spreche, meine ich nicht in erster Linie die Militarisierung der Gesellschaft – sie scheint mir auch aus Sicht der Herrschenden heute nicht mehr funktional zu sein -, sondern die Militarisierung der Politik. So wie die Verfügbarkeit über eine eigenständige Armee im Verständnis der Regierenden immer zu einem Grundmerkmal eines souveränen Staates gehörte, so gehört heute das Militärische zum Grundbestandteil der internationalen Politik. Tony Blair hat das in seiner Antrittsrede vor der Übernahme der britischen EU-Präsidentschaft vor dem Europäischen Parlament in den ebenso schlichten wie falschen Satz gekleidet: „Eine solche Verteidigungspolitik ist notwendiger Bestandteil einer effektiven Außenpolitik.“ (Blair 2005) Wenn man „Verteidigungspolitik“ im neorealistischen Sinn als Militär- und Interventionspolitik jedweder Art interpretiert (und so ist es bei den Blairs, Chiracs und Merkels auch gemeint), wird das Militär zu einem wesentlichen Instrument moderner Außenpolitik. Und im Institutionengefüge der EU verschmelzen beide Bereiche (die traditionell immer in zwei eigene Ressorts getrennt waren) in der GASP (die dann sogar noch zur ESVP weiter verengt wird) und in der Person eines europäischen „Außen- und Verteidigungsministers“ (Javier Solana als Hoher Repräsentant der GASP und gleichzeitiger Präsident der Europäischen Verteidigungsagentur!). Aus dieser Sichtweise ist jeglicher Gedanke daran, dass Außenpolitik auch ausschließlich zivil betrieben werden kann, verbannt.

Die Militarisierung der Europäischen Union äußert sich sowohl in praktischen Schritten, die von der Aufstellung europäischer Eingreiftruppen bis zur Einrichtung sog. „battle groups“ reichen, als auch im Verfassungsvertrag sowie in der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS). Im Kern geht es hier um sechs Entwicklungen, an deren Ende sich Wesen und Gesicht der EU fundamental ändern würden (vgl. zum Folgenden: 60 Thesen):

(1) Art. 41 Abs. 3 der EU-Verfassung enthält eine Verpflichtung zur Optimierung der Rüstung: "Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern." Befürworter der Verfassung spielen die Bedeutung dieses Bestimmung regelmäßig herunter und behaupten, dass damit sogar ein Weniger an Rüstung gemeint sein könne. Angelika Beer, ehemals prominente Militärkritikerin und Pazifistin, heute für die deutschen GRÜNEN im Europäischen Parlament, interpretiert Art. 41 folgendermaßen: „Die Formulierung ‚die militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern’ bietet die Chance zur Harmonisierung, Aufgabenteilung und Nutzung von Synergieeffekten. Die Verteidigungsagentur hat den Auftrag nationale Alleingänge zu verhindern, militärische Überkapazitäten abzubauen, Streitkräfte in Freiwilligen- und Berufsarmeen umzubilden und Verteidigungsausgaben einzusparen.“ (Beer 2005) Doch wer die Verfassung im Kontext der ESS liest, ein strategisches Papier der EU, das im Dezember 2003 vom EU-Gipfel angenommen wurde, wird zu einem anderen Ergebnis kommen. Hier werden unmissverständlich mehr Mittel für die Rüstung gefordert: "Damit wir unsere Streitkräfte zu flexibleren, mobilen Einsatzkräften umgestalten und sie in die Lage versetzen können, sich den neuen Bedrohungen zu stellen, müssen die Mittel für die Verteidigung aufgestockt und effektiver genutzt werden." (ESS 2003)

(2) Diesem Ziel dient vor allem auch die Einrichtung einer Europäischen „Verteidigungsagentur“. In Art. 41, Ziff. 3 heißt es hierzu: "Es wird eine Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (Europäische Verteidigungsagentur) eingerichtet, deren Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors beizutragen und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen, sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich der Fähigkeiten und der Rüstung zu beteiligen sowie den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zu unterstützen." In Artikel III 311 werden die Aufgaben der Agentur genauer bestimmt. Im Kern geht es darum, "zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors" vorzuschlagen und selbst zu ergreifen. Die Befürchtung, hier etabliere sich so etwas wir eine Kommandozentrale eines entstehenden militärisch-industriellen Komplexes, ist nicht von der Hand zu weisen.

(3) Ein wesentliches Ziel weiterer Aufrüstung und der Tätigkeit der „Verteidigungsagentur“ ist die Befähigung der EU zu selbstständigen Kampfeinsätzen in aller Welt, und zwar auch und gerade im Zusammenhang mit dem "Kampf gegen den internationalen Terrorismus" (vgl. hierzu Ortega 2004). Von zentraler Bedeutung ist hierbei der Art. III-309, Ziff. 1. Hier werden zunächst die sog. Petersberg-Aufgaben benannt, d.h. die ganze Palette der möglichen Ziele für ein militärisches Eingreifen der Europäischen Union aufgezählt: "Die in Artikel I-41 Absatz 1 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten." Der Einsatz von Militär zum Zweck der Terrorismusbekämpfung war in den Petersberg-Aufgaben also nicht vorgesehen. In der Verfassung heißt es aber: "Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet." Mit der Übertragung der "Terrorismusbekämpfung" auf das Aufgabenspektrum des Militärs verwischt die EU die Grenze zwischen militärischen und polizeilichen Aufgaben. Kriminalitätsbekämpfung – und Terrorismus ist eine besondere Form der Kriminalität – wird zu einer Angelegenheit des Militärs – jedenfalls in Drittstaaten. Denn noch zieren sich die Regierungen, Militär zur Kriminalitätsbekämpfung in den eigenen Ländern einzusetzen.

(4) Auch wenn die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten das Thema „Kerneuropa“ oder „Europa verschiedener Geschwindigkeiten“ in der Öffentlichkeit vermeiden, öffnet die Verfassung solchen Tendenzen im militärischen Bereich Tür und Tor. In Artikel I-41, Absatz 6 heißt es: "Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvolle Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union." Dies bedeutet, dass einzelne Staaten innerhalb der EU, die "untereinander festere Verpflichtungen eingegangen" sind, gemeinsam auch festere militärische Strukturen schaffen können. Weiter heißt es: "Im Rahmen der nach Artikel III-310 erlassenen Europäischen Beschlüsse kann der Ministerrat die Durchführung einer Mission einer Gruppe von Mitgliedstaaten übertragen, die über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen und sich an dieser Mission beteiligen wollen." (Art. III-311) Die Mitgliedstaaten, die sich zur „strukturierten Zusammenarbeit“ zusammengefunden haben, entscheiden auch allein über ihr Vorgehen. (Art. III-312). Dies führt, sollte es Verfassungsrang erhalten, auf jeden Fall zur Festschreibung militärinterventionistischer Strukturen und Politik innerhalb der EU: Auch wenn Regierungen einzelner Staaten dies nicht (mehr) mitmachen wollen (ihnen bietet sich die Möglichkeit der „konstruktiven Enthaltung“ nach Art. III-300), dann werden es eben die Staaten tun, die "untereinander festere Verpflichtungen eingegangen" sind - und den anderen wird ein Mitspracherecht verweigert.

(5) Schließlich soll die EU in ein Bündnis mit gegenseitiger Beistandsverpflichtung umgewandelt werden. In Artikel I-43(1) des Verfassungstextes wird festgelegt, dass die Union und ihre Mitgliedstaaten „gemeinsam im Geiste der Solidarität (handeln), wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist. Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, um ...
  • terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden;
  • die demokratischen Institutionen und die Zivilbevölkerung vor etwaigen Terroranschlägen zu schützen;
  • im Falle eines Terroranschlags einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen".
Wird diese "Solidaritätsklausel" aber im Lichte ihrer Vorgeschichte betrachtet, so erscheint sie letztlich als die Überführung der Beistandsverpflichtung aus dem WEU-Vertrag in die EU-Verfassung. Darauf zielen auch die Art. I-12 und I-16 des Verfassungsentwurfs, in denen die Finalität Europas militärisch definiert wird. In Artikel I-16 heißt es: „Die Zuständigkeit der Union in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erstreckt sich auf alle Bereiche der Außenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der Union, einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann.“ Ähnlich ist es in Artikel I-12 formuliert, in dem die „Arten der Zuständigkeiten“ der Union beschrieben sind (Ziffer 4: Verwirklichung einer „gemeinsamen Verteidigungspolitik“). Die „Solidaritätsklausel“ wurde übrigens nach dem Terroranschlag von Madrid im März 2004 durch eine politische Erklärung vorab in Kraft gesetzt.

(6) Zieht man zuletzt noch in Betracht, dass in Sachen Außen- und Sicherheitspolitik kein demokratisches Korrektiv etwa in Form parlamentarischer Kontrolle eingebaut wird, bekommt die These von der Militarisierung der EU eine noch größere Plausibilität. Die Verfassung gesteht dem EU-Parlament lediglich ein Anhörungsrecht zu und erlegt der Kommission bzw. dem Rat lediglich eine Informationspflicht auf (Art. I-40, Abs. 6, Art. I-41, Abs. 8). Dabei gibt es ein kleines Zugeständnis an das Parlament: Statt einmal jährlich wie bisher darf es nun zweimal jährlich „über die Fortschritte bei der Durchführung“ der Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik debattieren. (Art. III-304) Ein echtes Mitbestimmungsrecht des Parlaments erwächst daraus allerdings nicht.
In dem Zusammenhang sollte auch eine Legende aus der Welt geschafft werden, die den Verfassungsbefürwortern gern dazu dient, die Vorläufigkeit dieser Verfassung und deren Veränderbarkeit auf dem Weg eines europäischen Plebiszits zu behaupten. Nun gibt es in Art. I 47, Ziff. 4 tatsächlich ein plebiszitäres Element, das aber bei genauerem Hinsehen zu einem Implementationsinstrument der bestehenden Verfassungsbestimmungen pervertiert. Der Artikel lautet: „Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss, können die Initiative ergreifen und die Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht der Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verfassung umzusetzen. Die Bestimmungen über die Verfahren und Bedingungen, die für eine solche Bürgerinitiative gelten, einschließlich der Mindestzahl von Mitgliedstaaten, aus denen diese Bürgerinnen und Bürger kommen müssen, werden durch Europäisches Gesetz festgelegt.“ Ausgerechnet hier, wo es um die demokratische Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger gehen soll (Überschrift zum Artikel 47: „Grundsatz der partizipativen Demokratie“), haben wir es mit der geschraubtesten bürokratischen Formulierung im gesamten Verfassungstext zu tun. Sie ist zudem das Gegenteil eines wirklichen Bürgerbegehrens, wie es von Verfassungsbefürwortern ebenso emphatisch wie unkorrekt beschworen wird. So heißt es in einem Beitrag der sich „links“ verstehenden Europa-Politiker Jo Leinen, Sylvia-Yvonne Kaufmann und Angelika Beer: „Um die EU sozial- und friedenspolitisch zu stärken, sollte gerade die Linke für diese Verfassung kämpfen, ihre Spielräume nutzen und die Energien bündeln, um in absehbarer Zeit eine erste Revision der EU-Verfassung vorzubereiten. Mit dem Europäischen Bürgerbegehren erhalten die sozialen Bewegungen erstmals einen direkten Hebel, die Europäische Union mitzugestalten.“ (Beer u.a. 2005) In Wahrheit und in ihrem Kern dienen die Bürgerbegehren allerdings dem Zweck, die Verfassung und mithin die in ihr enthaltenen Militarisierungselemente „umzusetzen“, nicht sie zu ändern.

3 Die Etablierung und Politik der Europäischen Verteidigungsagentur

Drei Tage bevor die EU-Regierungschefs am 18. Juni 2004 den Verfassungsentwurf einstimmig annahmen, erschien in den großen überregionalen Tageszeitungen eine ganzseitige Anzeige, die u.a. folgenden Text enthielt: „Die europäische Verteidigungsagentur muss die Führung übernehmen beim Abbau von Marktbarrieren und bei der Durchsetzung einer transparenten, grenzüberschreitenden und offenen Wettbewerbspraxis bei nationalen Beschaffungen. Dabei können alle Seiten nur gewinnen: Europa das notwendige Mehr an Sicherheit, die Streitkräfte eine bestmögliche interoperable Ausrüstung und schließlich die europäische Industrie den notwendigen Rückhalt, der ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit stärkt.“ (z.B. Süddeutsche Zeitung, 15.06.2004) Die Anzeige war aufgegeben worden von den drei größten europäischen Rüstungsunternehmen BAE Systems, EADS und Thales und war von deren jeweiligen Vorstandsvorsitzenden unterzeichnet. Ein ungewöhnlicher Vorgang einer ansonsten eher öffentlichkeitsscheuen Lobby, die ihren Einfluss auf die Politik eher auf diskretere Weise ausübt. Die Lobbyisten werden gewusst haben, was sich ihnen mit der vorgesehenen Einrichtung der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA: European Defence Agency) an neuen Möglichkeiten eröffnet.

Die EDA ist vom Europäischen Rat am 12. Juli 2004 offiziell gegründet worden. Mit Ausnahme von Dänemark beteiligen sich alle EU-Mitgliedstaaten an ihr. Ende 2005 arbeiteten 77 Personen in der Behörde. Zu ihren allgemeinen Aufgaben gehört es, den Rat und die Mitgliedstaaten in ihren Bemühungen zu unterstützen, die europäischen Verteidigungskapazitäten auf dem Gebiet des Krisenmanagements zu verbessern und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik samt ihrer Weiterentwicklung zu fördern (vgl. Council 2004). Die Funktionsbeschreibung der EDA umfasst vier Bereiche:
  • die Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten,
  • die Rüstungszusammenarbeit,
  • den europäischen Verteidigungstechnologie-, -industrie- und –ausrüstungsmarkt sowie
  • den Forschungs- und Entwicklungsbereich.
Des Weiteren soll die Leistung der europäischen Rüstungsindustrie durch Erreichen von „Kohärenz“ an Stelle von Zersplitterung verbessert werden. Als konkrete Aufgaben werden dabei genannt:
  • Arbeit an einem umfassenderen und systematischen Ansatz zur genauen Festlegung der Anforderungen von Seiten der ESVP (indem z.B. die Initiative des Headline Goals 2010 unterstützt wird);
  • Förderung der Kooperation bei der Rüstungsbeschaffung, um sowohl die bestehende Rüstungsindustrie zu sichern als auch spätere Restrukturierungen der europäischen Rüstungsindustrie zu erleichtern (vgl. hierzu Steinmetz 2005, Strutynski 2006);
  • Förderung der rüstungsrelevanten Forschung & Entwicklung als wesentliche Voraussetzung sowohl für eine gesunde technologische und industrielle Basis als auch um künftige Bedarfe zu ermitteln. Dies wird den gemeinsamen Gebrauch nationaler F&E-Ressourcen einschließen - im Kontext einer europäischen Politik, die Prioritäten setzen kann.
18 Monate nach Gründung der EDA lässt sich eine erste Bilanz ihrer Arbeit ziehen. In einem zentralen Anliegen, einen einzigen europäischen Rüstungsmarkt zu schaffen, ist die EU zweifellos einen wichtigen Schritt weiter gekommen. Am 21. November 2005 vereinbarten die EU-Verteidigungsminister neue Regeln für die Beschaffung von Waffen und anderen Rüstungsgütern, so wie es in einem „Green Paper“ der Kommission vom September 2004 bereits vorgedacht worden war (Grünbuch 2004). Nach dem nun beschlossenen „Code of Conduct on Defence Procurement“ (2005) soll bei den Rüstungsgeschäften in den EU-Ländern mehr Wettbewerb gelten. So sollen – zunächst auf freiwilliger Basis - von 2006 an Beschaffungsaufträge öffentlich und im Internet ausgeschrieben werden. Die Kontrolle über die Einhaltung der Regeln übernimmt dabei die EDA. Ihr müssen auch die Ausnahmen von der Ausschreibungspflicht gemeldet werden. Bis zum Frühjahr 2006 haben die EU-Mitgliedstaaten Zeit, sich dem neuen Verfahren anzuschließen. Tun sie das, so könnte bald die bisherige Praxis ausgedient haben, wonach bei militärischen Beschaffungen regelmäßig „wesentliche nationale Sicherheitsinteressen“ geltend gemacht werden, womit sich bisher europaweite Ausschreibungen umgehen ließen.

Der Öffentlichkeit gegenüber wird diese Neuerung als Chance zu Einsparungen in den nationalen Rüstungshaushalten der Mitgliedstaaten verkauft. Nicht dass es deswegen zu realen Kürzungen der Verteidigungsausgaben kommen würde – dazu gibt es in keinem Land ernsthafte Anstrengungen! Es sollen aber, wie es in der ESS beschrieben ist, „Synergieeffekte“ genutzt, „Duplizierungen“ vermieden, „Gemeinkosten gesenkt“ und dadurch insgesamt die „Fähigkeiten“ und die Wettbewerbsposition der EU-Rüstungsindustrie erhöht werden. Den europäischen Rüstungsunternehmen winkt nach Einschätzung des stellvertretenden EDA-Chefs Hilmar Linnenkamp ein Markt von rund 20 Mrd. Euro (Bonse/Kersting 2005). Die europäische Kommission hat am 6. Dezember 2005 angekündigt, noch im Laufe des Jahres 2006 eine Direktive zu erlassen, die aus dem freiwilligen „Code of Conduct“ eine verbindliche Regelung für die daran beteiligten Mitgliedstaaten machen könnte (Europäische Kommission 2005). Denn immer noch gilt Art. 296 b des Amsterdamer Vertrags, wonach jeder Mitgliedstaat „die Maßnahmen ergreifen (kann), die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen; diese Maßnahmen dürfen auf dem Gemeinsamen Markt die Wettbewerbsbedingungen hinsichtlich der nicht eigens für militärische Zwecke bestimmten Waren nicht beeinträchtigen.“ (Amsterdamer Vertrag.) Schätzungsweise sind auf diese Weise rund die Hälfte aller getätigten Rüstungsbeschaffungen dem Wettbewerb des europäischen Marktes entzogen. Der Kommission ist das nicht genug. 2006 wird sie in einer so genannten „Auslegungsmitteilung“ (Interpretative Communication) erläutern, in welchen Fällen die Mitgliedstaaten bei der Vergabe von Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträgen, die militärischen Zwecken dienen und wesentliche Sicherheitsinteressen berühren, von den EU-Ausschreibungsvorschriften abweichen können. Parallel dazu beginnen die Arbeiten an einem Vorschlag für eine Richtlinie zur Koordinierung der Vergabeverfahren im Verteidigungssektor. Geregelt werden sollen die Fälle, in denen ein Mitgliedstaat die Ausnahme nach Artikel 296 EG-Vertrag nicht in Anspruch nehmen kann oder will.

Allerdings bleiben die Bereiche Forschung und Technologie, gemeinsame Beschaffungen sowie Beschaffungen von Nuklearwaffen und ihrer Trägersysteme formalrechtlich von dieser Marktliberalisierung ausgenommen. Gerade auf dem Gebiet der Forschung und Entwicklung ist aber aus Sicht der Rüstungsbefürworter der Rückstand gegenüber dem Hauptkonkurrenten USA am größten. Anfang November schickte der Chef des deutsch-französischen Luftfahrt- und Rüstungskonzerns EADS, Thomas Enders, einen Brief an Javier Solana. Nach Informationen des „Handelsblatts“ beklagte sich Enders darin im Namen des europäischen Industrieverbands AeroSpace an Defence (ASD) über „mangelnden Ehrgeiz“ der 24 an der EDA beteiligten EU-Staaten. Nach einem Jahr EDA sei man „besorgt“ über den „begrenzten Fortschritt“ in Schlüsselfeldern wie F&E, heißt es in dem Schreiben. Die nationalen Regierungen sollten sich außerdem den „Code of Conduct“ schnell zu eigen machen. (Bonse/Kersting 2005.)

In dasselbe Horn stößt das „Centrum für angewandte Politikforschung“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München. In eine Bilanz der fast eineinhalbjährigen Tätigkeit der EDA werden als wesentliche Defizite genannt: die angeblich fehlende Gesamtstrategie der EU auf dem Feld der Rüstungspolitik, wofür der Interessen- und Kompetenzkonflikt zwischen Kommission und EDA ursächlich sei, und die offensichtliche Neigung der Mitgliedstaaten, Fortschritte in der europäischen Rüstungspolitik nur jeweils auf dem Niveau des kleinsten gemeinsamen Nenners zuzulassen. Die Mitgliedstaaten stellen daher auch den „größten Unsicherheitsfaktor“ dar (Bauer 2005: 7). Alle noch so ambitionierten Programme wie Headline Goal, EU-Battlegroups oder ECAP stoßen danach immer wieder an die Grenzen nationaler Eigeninteressen und finanzpolitischer Restriktionen der Mitgliedstaaten. Das CAP plädiert daher für eine politische Aufwertung und finanzielle Stärkung der EDA und vertraut im übrigen auf die segensreiche Wirkung eines Instruments aus dem – bislang gescheiterten – Verfassungsvertrag, wonach bestimmte Mitgliedstaaten, die dazu bereit und in der Lage sind, zu besonderen Zwecken im Rahmen der ESVP sich zu einer „strukturierten Zusammenarbeit“ zusammenfinden können (Art. I-41, Abs. 6 und Art. III-311 und 312). Darüber hinaus wird – in einem ersten Schritt - die Bildung einer „Kerngruppe innerhalb der Verteidigungsagentur“ vorgeschlagen, „in der die größten Produzenten von Rüstungsgütern (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien) ihre industriepolitischen Interessenkonflikte beilegen. Anschließend müsste eine gemeinsame Position der Agentur für die Kooperationsgespräche mit der Kommission zur Bildung eines Europäischen Marktes für Rüstungsgüter ausgehandelt werden, der sowohl den Belangen des freien Wettbewerbs als auch der heterogenen Verteilung der verteidigungs-industriellen-technologischen Basis gerecht wird.“ (Ebd.: 9).

Klappern gehört bekanntlich zum Handwerk und die Lobby der Rüstungsindustrie ist bekannt dafür, vermeintliche Beschaffungslücken und technologische Defizite zu einer elementaren Gefährdung der europäischen Sicherheit hoch zu stilisieren. Damit trifft sie sich indessen mit Europapolitikern (fast) aller Couleur, mit der Kommission und der EDA, die alle ein Mehr an Rüstungs- und europäischer militärischer Kooperation fordert. Gerade auch das Europäische Parlament betätigte sich in der Vergangenheit immer wieder als Akzelerator einer weiteren Militarisierung der EU. Fast wie die strategischen Papiere der Rüstungslobbyisten. liest sich z.B. der vom Parlament am 23. März 2005 angenommene „Kuhne-Bericht“. Darin werden u.a. als „Schwachstellen“ der Militärmacht Europa genannt:
  • der „Mangel an einsatzfähigen Kräften, die zur Aufrechterhaltung der erforderlichen Rotation (1/3 im Einsatz, 1/3 in Training, 1/3 im Urlaub) bei langfristigen Operationen mit hoher Intensität nötig wären“;
  • der „Mangel an Fähigkeiten zur Aufrechterhaltung einer ständigen Luftbrücke großen Stils für den Transport von Kräften ins Ausland“; und schließlich
  • der „Mangel an ausreichenden einsatzfähigen Kommando-, Kontroll- und Kommunikationsfähigkeiten sowie Ressourcen für die Informationsgewinnung“. (Kuhne 2005: 9/34)
Die Gründung der Battlegroups habe die erste Schwachstelle weitgehend behoben, wird in dem Bericht weiter festgestellt. Dies könne vom Bau des Transportflugzeugs A400M im bisher vorgesehenen Umfang noch nicht gesagt werden (ebd.). Noch weniger gälte dies für den dritten Mangel: Hier werden Maßnahmen gefordert, um die EU in die Lage zu versetzen, „Aufgaben zu erfüllen, die die Unterstützung durch militärische Kräfte erfordern, ohne auf die NATO oder die Kräfte eines einzigen Mitgliedstaates zurückzugreifen“ (ebd.: 9/34f).

Das Arbeitsprogramm der EDA für 2006 will die genannten Mängel mit gemeinsamen Projekten beheben, insbesondere durch die vier „Flaggschiffe“ (EDA 2005: 7):
  • Unbemannte Luftfahrzeuge (Unmanned Aerial Vehicles, UAVs): Beteiligung von Mitgliedstaaten an Projekten in Richtung gemeinsame technologische Entwicklung und Standardisierung;
  • Bewaffnete Kampffahrzeuge (Armoured Figthing Vehicles, AFVs): Projekte, die darauf abzielen, eine gemeinsame „europäische Fahrzeugfamilie“ zu schaffen;
  • Kommando-, Kontroll- und Kommunikationsfähigkeiten (Command, Control and Communications, C3): Hier geht es darum, den Bedarf für eine gemeinsame Satelliten gestützte Aufklärung zu ermitteln und die europäische Koordination zu verbessern;
  • Code of Conduct für die Beschaffung von Waffen und Rüstungsmaterial (soll zum 1. Juli 2006 verabschiedet werden).
4 Die militärischen und polizeilichen Missionen der EU

Die verstärkten Anstrengungen der EU, sei’s der Kommission, des Rates, des Parlaments oder der EDA, dienen keinem Selbstzweck und sollen auch nicht nur die Begehrlichkeiten der Militärs und der europäischen Rüstungsindustrie befriedigen. Vielmehr geht es darum, die Fähigkeiten zum Einsatz europäischer Streitkräfte zur Erfüllung der Petersberg-Aufgaben sowie zum „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ zu erhöhen. Die vorliegenden Dokumente (z.B. ESS, Headline Goal 2010, ECAP) sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Zu den wichtigsten Anforderungen gehören eine schnelle Beschlussfassung über die Einleitung einer militärischen „Operation“ (innerhalb von 5 Tagen nach Billigung des Krisenmanagementkonzepts) und eine rasche Verlegung der Einsatzkräfte ins „Operationsgebiet“ (spätestens 10 Tage nach dem Beschluss). Ebenso schnell sollen die Battlegroups am Einsatzort sein. Volle Operationsfähigkeit werden diese besonders flexiblen und gut ausgerüsteten Kampftruppen bis zum Jahr 2007 erlangen. Die EU will damit in der Lage sein, mindestens zwei Einsätze gleichzeitig durchzuführen, vorrangig, aber eben nicht ausschließlich im Rahmen von Kapitel 7 der UN-Charta.

Die bereits im Auftrag oder mit Billigung der EU durchgeführten EU-Einsätze (nicht nur militärischer Art) außerhalb ihrer Grenzen sind zahlreicher als von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Im vergangenen Jahr waren EU-Militär- und Polizeikräfte in insgesamt neun Ländern engagiert. Die größten und ambitioniertesten „Missionen“ fanden und finden hier statt:

Bosnien-Herzegowina: Am 2. Dezember 2004 übernahm die Europäische Union mit der Operation "ALTHEA" die bislang größte militärische Operation der Union. Die von der NATO geführte "Stabilization Force" (SFOR) wurde von der European Union Force (EUFOR) abgelöst , wobei in den meisten Fällen sich nur das Etikett geändert hat. Immerhin beteiligt sich an der Mission auch ein neutraler Staat wie die Schweiz, obwohl sie weder der NATO noch der EU angehört. Auftrag von EUFOR ist es, die militärische Absicherung des Friedensvertrages von Dayton sicher zu stellen, die Volksgruppen von Feindseligkeiten abzuhalten und die Bewegungsfreiheit eigener Kräfte, internationaler Organisationen und Nicht-Regierungsorganisationen zu gewährleisten. EUFOR überwacht auch die Einhaltung der Rüstungskontrollabkommen für Bosnien und Herzegowina und unterstützt die Arbeit des Internationalen Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien. Die militärische ALTHEA-Mission ist verknüpft mit einer EU-Polizeimission EUPM (EU Police Mission in Bosnia and Herzegovina). Nach Auskunft des Europäischen Rats (Council 2005: 3) hat diese Mission erfolgreich am Aufbau landeseigener Polizeikräfte auf staatlicher Ebene sowie unter lokaler Aufsicht geführt. EUPM lief am 31. Dezember 2005 ab, wurde aber um zwei weitere Jahre verlängert, wobei sich die Polizeiaktion auf die organisierte Kriminalität konzentriert sowie auf die Einleitung einer Polizeireform.

Makedonien (FYROM): Auch in der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik Makedonien waren europäische Truppen eingesetzt worden: Von März bis Dezember 2003 im Rahmen der „Operation CONCORDIA“. Die EU hatte die Führung über rund 400 Soldaten aus 27 Ländern übernommen, welche die Sicherheit der in der Region eingesetzten internationalen EU- und OSZE-Beobachter gewährleisten sollten. In der Folge dieses Einsatzes war die EU mit einer Polizeimission in Makedonien präsent, die am 15. Dezember 2005 „erfolgreich“ beendet wurde. Lediglich 30 EU-Polizeiberater bleiben noch ein halbes Jahr über diesen Zeitpunkt hinaus im Land, um den Prozess der Professionalisierung der makedonischen Polizei, der auf „europäischen Standards“ basiert, zu begleiten.

DR Kongo: In der Demokratischen Republik Kongo ist die EU ebenfalls mit einer militärischen und zivilen (polizeilichen) Mission vertreten. Die EU Police Mission in Kinshasa (EUPOL Kinshasa) läuft bis zum 31. Dezember 2006. Die Mission hat nach einem Beschluss des Rats vom 22. November 2004 die Aufgabe, „die Einrichtung und die Anlaufphase der IPU [Integrierte Polizeieinheit, P.S.] zu beobachten, anzuleiten und Rat dazu zu erteilen, damit sichergestellt ist, dass die IPU der im Ausbildungszentrum erhaltenen Schulung entsprechend handelt und sich nach bewährten internationalen Praktiken in diesem Bereich richtet.“(Council 2005b: 4) Gleichzeitig ist die EU mit einer Militärmission in der DRK vertreten. EUSEC (European Union Security/RD Congo) arbeitet mit den Behörden der DRK zusammen, um die Reform auf dem Gebiet der Sicherheitskräfte zu unterstützen. Ziel ist die Ausbildung und Herstellung einer einheitlichen kongolesischen Armee. Der spezifische Beitrag der EU – es handelt sich um eine größere UN-Mission – besteht darin, den kongolesischen Verteidigungsministerium beim Aufbau eines verlässlichen Gehaltssystems für die Armeeangehörigen zu unterstützen („Chain of Payments Project“).
Mit der „Operation Artemis“, die nach Maßgabe der Gemeinsamen Aktion 2003/423/GASP vom 5. Juni 2003 über die militärische Operation der Europäischen Union in der Demokratischen Republik Kongo im Jahr 2003 in der Demokratischen Republik Kongo durchgeführt wurde, hat die Europäische Union unter Federführung Frankreichs und Deutschlands einen Beitrag zur Wiederherstellung der Sicherheit in der ostgongolesischen Region Bunia zu leisten versucht. Kritiker dieses UN-mandatierten Einsatzes (MONUC), der keine nachhaltige Stabilisierung der Region erreichen konnte, warfen der EU vor, hier einen „Probelauf“ für künftige EU-Militäreinsätze hingelegt zu haben (vgl. Ling 2003, IMI 2005). Seit Februar 2006 wird in der EU und in den Regierungen zahlreicher EU-Mitgliedstaaten über einen neuerlichen „robusten“ Militäreinsatz zur Sicherung der im Juni stattfindenden Wahlen diskutiert. Vorgesehen ist eine Truppe von 1.500 Soldaten, die unter französisch-deutscher Führung in Kinshasa sowie in benachbarten Ländern stationiert sein soll. Das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) der EU fasste am 22. März 2006 einen entsprechenden Beschluss. Eine endgültige Entscheidung wird von der Zustimmung der kongolesischen Regierung (die nach Aussage von Solana im März 2006 erfolgte) und einem eindeutigen UN-Mandat abhängig gemacht (siehe FAZ.net, 22.03.2006).

Irak: Am 1. Juli begann die EU ein – zunächst einjähriges - Programm zur Ausbildung von rund als 770 Richtern, Staatsanwälten, Gefängnispersonal und Polizisten im Irak. Das Projekt der EU trägt den Namen EUJUST LEX (Rechtstaatlichkeits-Mission). Die EU unterhält dafür in Bagdad eine eigene Verbindungsstelle, die von einer Handvoll britischen Mitarbeitern geleitet wird. Das Training selbst wird in anderen Staaten der Region (z.B. in den Vereinigten Arabischen Emiraten) und in Ländern der EU durchgeführt.

Indonesien: Die erste Mission im Namen der ESVP in Asien begann auf der operativen Ebene am 15. September 2005 in der indonesischen Provinz Aceh und hat eine Laufzeit von sechs Monaten. Es handelt sich um eine Mission zur Beobachtung des Entwaffnungsprozesses der Aceh-Befreiungsbewegung (GAM). Die Aceh Monitoring Mission (AMM), an der auch fünf ASEAN- Staaten sowie die Nicht-EU-Mitglieder Norwegen und die Schweiz teilnehmen, hat nach Angaben von Javier Solana bereits im Dezember 2005 die letzte Phase der Waffenübergabe entsprechend der in Helsinki geschlossenen Vereinbarung zwischen den Konfliktparteien (der Regierung in Djakarta und der GAM) erfolgreich abgeschlossen (Solana 2005).

Gaza: Die EU beteiligt sich – als „third party“ - an der Kontrolle des am 25. November 2005 geöffneten Grenzübergangs Rafah zwischen Gazastreifen und Ägypten, nachdem die palästinensische Behörde und Israel ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet hatten. Die „Border Assistance Mission at Rafah“ (EUBAM Rafah) hat eine Dauer von einem Jahr und soll die palästinensische Grenzabfertigung „beobachten, verifizieren und evaluieren“, beim Aufbau palästinensischer Grenzbehörden helfen und zur Zusammenarbeit zwischen palästinensischen, ägyptischen und israelischen Behörden beitragen.
Eine Laufzeit von drei Jahren hat die ebenfalls im November 2005 vom Rat für Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen (GAERC) beschlossene Mission zu Unterstützung des Aufbau eines zivilen Polizei- und Strafjustizsystems in den palästinensischen Gebieten (EU Police Mission for the Palestinian Territories, EUPOL COPPS).

Georgien: Am 15. Juli 2005 beendete die EU eine sog. „Rule-of-Law-Mission“ (Rechtsstaatlichkeitsmission) in Georgien (Beginn: Juli 2004). Der Einsatz wurde “erfolgreich” abgeschlossen mit einer Vereinbarung mit der georgischen Regierung, eine Strafjustizreform durchzuführen. Die Mission wurde im Juli 2005 um ein halbes Jahr verlängert, um auch die Implementierung des Reform-Aktionsplans zu unterstützen. Seit September 2005 beteiligt sich außerdem ein Team des EU-Sonderbeauftragten für den südlichen Kaukasus an der Reform der georgischen Grenzbehörden.

Sudan: Am 18. Juli 2005 hat der Europäische Rat die Gemeinsame Aktion mit den Einzelheiten der umfassenden Unterstützungsaktion für die Mission der Afrikanischen Union in Sudan (Amis II) in zivilen und militärischen Bereichen wie Polizei, Planung, Logistik, strategischer und taktischer Lufttransport, Fortbildung und Ausrüstung angenommen. Die Mission begann im September 2005. Während sich der zivile Bereich auf den Aufbau und die Ausbildung von Polizeikräften der Afrikanischen Union erstreckt, die sich in der sudanesischen Krisenregion Darfur aufhalten, beinhaltet die militärische Komponente der Mission die Unterstützung der AU-Truppen in allen Belangen des (Luft-)Transports und der Logistik sowie der entsprechenden Ausbildung von afrikanischen Truppen. Die EU unterhält in Addis Abeba (Äthiopien) ein Verbindungsbüro zu den Vereinten Nationen und zur NATO.

Moldau (Moldawien): Am 30. November 2005 begann eine Grenzunterstützungsaktion der EU an der Grenze zwischen Moldawien und der Ukraine unter Einschluss des Gebiets von Transnistrien. Die EUBAM (Border Assistance Mission) Moldova/Ukraine geht auf eine Bitte der Präsidenten Woronin (Moldawien) und Juschtschenko (Ukraine) zurück (Concil 2005a). Beide Seiten erwarten sich Unterstützung im Kampf gegen grenzüberschreitenden illegalen Waffenhandel, Schmuggel, organisiertes Verbrechen und Korruption. Das Team besteht aus 69 Experten aus den EU-Mitgliedstaaten sowie ca. 50 lokalen Mitarbeitern. Bereits vorher (23. März 2005) hatte die EU einen Sonderbeauftragten für Moldawien bestellt. Dessen Mandat hat u.a. zum Ziel, „zur friedlichen Beilegung des Transnistrien-Konflikts sowie zur Umsetzung einer solchen Friedensregelung im Rahmen einer dauerhaften Lösung und unter Wahrung der Souveränität und territorialen Integrität der Republik Moldau innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen beizutragen“ und Unterstützung zu leisten „bei der Bekämpfung des Menschenhandels sowie des illegalen Handels mit Waffen und anderen Gütern aus der und über die Republik Moldau“.

Auffälligstes Kennzeichen der EU-Missionen, die unter dem Label ESVP durchgeführt wurden und noch werden, ist die Verbindung von zivilen und militärischen Elementen. Streng genommen kann bisher lediglich die zweimonatige Operation Artemis im Sommer 2003 im Kongo als rein militärischer Einsatz eingestuft werden – dem gleich wohl zivile (polizeiliche) Operationen folgten, wenngleich diese in anderen Regionen der DR Kongo durchgeführt werden. Im Kern ging und geht es immer um den Aufbau rechtsstaatlicher Instrumente der Strafverfolgung (Polizei und Justiz), um die Überwachung und Unterstützung von Grenzregimen sowie um die Ausbildung und Schulung entsprechender Beamter. Bisher schlug weder die Stunde der Schnellen Eingreiftruppen – jedenfalls nicht hinsichtlich „friedenserzwingender“ Maßnahmen, also Kampfeinsätze - noch gar der Battlegroups. Aufschlussreich ist die geografische Verteilung der Einsätze: Balkan und Kaukasus in Europa, der Nahe Osten und das Afrika der großen Seen. Das Engagement in Aceh/Indonesien ist bislang ein Sonderfall („Glücksfall“?), der auf die Tsunami-Katastrophe Ende 2004 zurückzuführen ist, dem ein nicht ganz uneigennütziger Hilfs-Wettlauf verschiedener Mächte (u.a. auch der USA) folgte – natürlich mit Militärtransportern und Soldaten, da zivile Katastrophenschutz-Kapazitäten strukturell unterausgestattet sind.

Es muss aber daran erinnert werden, dass der Aufbau militärischer Kapazitäten der EU nicht mit zivilen Anforderungen, sondern rein militärisch und geostrategisch begründet wird. Der militärische Blick ist auf anderes gerichtet als auf Katastrophenhilfe oder Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen. Auf der Grundlage der „Europäische Sicherheitsstrategie“ entstand das sog. „European Defence Paper“ (EDP), das der EU-Rat beim Institut für Sicherheitsstudien in Auftrag gegeben hat (ISS 2004). Das EDP erläutert auf 140 Seiten präzise die Ausgestaltung zukünftiger Kriege des europäischen Imperiums (siehe Pflüger/Wagner 2005). Auch die entsprechenden militärischen Planspiele werden bereits durchexerziert. Ich nenne nur ein Beispiel: „In einem Staat X am Indischen Ozean haben antiwestliche Elemente die Macht erlangt und benützten das Öl als Waffen, vertreiben westliche Bürger und greifen westliche Interessen an. Darüber hinaus haben sie mit der Invasion des Nachbarlandes Y begonnen, dessen Regime pro-westlich orientiert ist und eine zentrale Rolle beim freien Fluss von Öl in den Westen spielt. ... Die EU interveniert gemeinsam mit den USA mit einer starken Streitmacht, um das land Y zu unterstützen und ihre eigenen Interessen zu schützen. ... Das militärische Ziel der Operation ist es, das besetzte Territorium zu befreien und Kontrolle über einige der Öl-Infrastrukturen, Pipelines und Häfen des Landes X zu bekommen. ... Der EU-Beitrag besteht aus 10 Brigaden (60.000 Soldaten). Diese Landstreitmacht wird von 360 Kampfflugzeugen und zwei maritimen Einheiten, die aus 4 Flugzeugträgern, 16 amphibischen Schiffen, 12 U-Booten, 40 Schlachtschiffen, 2 Kommandoschiffen, 8 Unterstützungsschiffen und 20 Patrouillenschiffen bestehen, unterstützt.“ (ISS 2004: 83) (deutsch zit. n. Oberansmayr 2005.)

5 Ausblick

Als kurz nach dem vorläufigen Ende des EU-Verfassungsvertrags der britische Premier Tony Blair seine „Antrittsrede“ vor dem Europäischen Parlament hielt, machte er klar, dass dies nicht das Ende der EU-Militarisierung bedeuten würde. Im Gegenteil. Anstatt den negativen Voten Frankreichs und Hollands nachzutrauern, schlug er für den Bereich der GASP ein zügigeres Tempo vor: „Wir sollten uns auf praktische Maßnahmen zum Ausbau der europäischen Verteidigungsfähigkeit verständigen, bereit sein, mehr Einsätze zur Friedenserhaltung und Friedensdurchsetzung zu übernehmen, die Fähigkeit aufbauen, zur Bewältigung von Konflikten schnell und effektiv einzugreifen - mit der NATO oder, wo diese sich nicht beteiligen will, ohne sie. Schauen Sie sich die Mannschaftsstärken in den europäischen Armeen an und unsere Ausgaben. Werden sie wirklich den strategischen Anforderungen von heute gerecht?“ (Blair 2005)

Tatsächlich kann die EU auf dem Boden der geltenden Verträge seit Maastricht (1992) zum Aufbau einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und seit den Gipfel-Beschlüssen von Köln und Helsinki (1999) zur Etablierung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf eine Vielzahl von Verträgen, Beschlüssen und gemeinsamen Aktionen/Missionen zurückgreifen, die militärische Operationen in aller Welt mit und ohne UN-Mandat möglich machen. Der forcierte Aufbau der Battlegroups, einem reinen Interventionsinstrument, vergleichbar am ehesten mit den US Marine Corps oder den britischen „Royal Marines“, dient allein der militärischen Absicherung der in der ESS formulierten strategischen Ziele. 2003 beschlossen, sollen die 13 Battlegroups bereits im kommenden Jahr voll einsetzbar sein. Eine Konferenz zur Koordinierung der Battlegroups am 8. November 2005 ließ keinen Zweifel daran, dass dieses Ziel auch erreicht wird. Zudem haben Griechenland und Zypern sowie die Noch-nicht-Mitglieder Bulgarien und Rumänien eine Vereinbarung zur Bildung einer zusätzlichen Battlegroup abgeschlossen. Möglich, dass schon vorfristig der erste Probeeinsatz durchgeführt wird. Das deutsche Verteidigungsministerium prüfte bereits im Februar 2006 eine Beteiligung deutscher Fallschirmjäger an einem möglichen EU-Einsatz im Kongo. Ein Ministeriumssprecher sagte am 14. Januar 2006, der EU liege eine Bitte der Vereinten Nationen vor, die Ende April geplante Wahl in der Demokratischen Republik Kongo durch eine 1.500 Soldaten starke EU-Truppe abzusichern. Derzeit bestehe die in Frage kommende Battlegroup aus einem Fallschirmjägerbataillon der Bundeswehr und französischen Einheiten. „Sollte die EU der Bitte der UNO nachkommen, handle es sich um einen Einsatz der EU und nicht Deutschlands, sagte der Ministeriumssprecher ...“ (Hannoversche Allgemeine Zeitung, 17.01.2006)

Dieser letzte Satz weist auf das demokratiefeindliche Projekt EU-Militarisierung hin: Militäreinsätze, die im Interesse der politischen Klasse erfolgen sollen, könnten langfristig der Entscheidungskompetenz der nationalen Parlamente und damit des „Souveräns“ entzogen und ausschließlich in die Hände der Brüsseler Bürokratie und der Regierungen der beteiligten EU-Mitgliedstaaten gelegt werden. Die Ratifizierung der EU-Verfassung würde diesem Trend Vorschub leisten, zumal der Verfassungsvertrag in Sachen GASP und ESVP keine Partizipation des EU-Parlaments noch gar der EU-Bevölkerung vorsieht.

Dennoch fragt man sich, warum das Herzblut der politischen Klasse so sehr am EU-Verfassungsvertrag hängt, dass verschiedene Regierungen und zuletzt auch das EU-Parlament eine Wiederaufnahme des Ratifizierungsprozesses vorgeschlagen haben. Meine Antwort besteht aus zwei Teilen: Einmal soll mit der EU-Verfassung suggeriert werden, dass es sich beim EU-Integrationsprozess um einen breiten gesellschaftlich-politischen Prozess gehandelt habe, der notwendigerweise in die Annahme eines europäischen Grundsatzdokuments münden musste. Was 25 Regierungen und Parlamente und einige Bevölkerungen nach einem jahrelangen Diskussionsprozess (der so allerdings gar nicht stattgefunden hat) beschlossen haben, genießt eine höhere politische Autorität als Beschlüsse der EU-Gremien von Fall zu Fall. Zum zweiten legt ein ratifizierter Verfassungsvertrag den weiteren Weg der EU auf Jahre, wenn nicht gar auf Jahrzehnte fest. Die einschlägigen außen- und sicherheitspolitischen Artikel und Bestimmungen machen aus der EU zwar keinen europäischen Staat, aber definitiv eine Militärmacht. Eine Rückkehr zur Zivilmacht schiene damit auf lange Sicht versperrt.

Wie wir gesehen haben, ist aber auch der verfassungslose Zustand keine Gewähr für ein ziviles Verhalten der EU. Eine europäische Friedenspolitik muss daher nicht nur auf der Ebene europäischer Institutionen agieren – zumal das dem Einfluss zivilgesellschaftlicher Akteure noch am ehesten ausgesetzte EU-Parlament ohne wirkliche Entscheidungsmacht ist -, sondern sie muss auch und vor allem auf nationalstaatlicher Ebene der schrittweise sich vollziehenden Militarisierung Widerstand entgegen setzen. Dies beginnt bei der Ablehnung anstehender Kampfeinsätze von EU-Streitkräften und endet nicht beim Protest gegen die Liberalisierung des europäischen Rüstungsmarktes und die Steigerung der Rüstungsexporte. Je mehr EU-Mitgliedstaaten sich dem Druck der Militarisierung entziehen, desto weniger kann die EU zur Militärmacht aufsteigen.

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Dieser Beitrag ist erschienen in:
Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hg.): Europa und die Dynamik der globalen Krise. Friedensbericht 2006
agenda Verlag: Münster 2006, S. 31-54





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