Lissabonner Vertrag: Der aufhaltsame Ratifikationsprozess
Wann das "Reformabkommen" der EU in Kraft treten wird, bleibt trotz regierungsoffiziellem Optimismus offen
Von Gregor Schirmer *
Der Vertrag von Lissabon, der am 13. Dezember 2007 nach erbitterten, zuweilen ins Absurde
reichenden Kämpfen der Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde, ist kein neuer Vertrag, sondern
»bloß« ein Vertrag zur Änderung der zwei bestehenden primärrechtlichen Grundlagen der EU –
nämlich des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Gründung der
Europäischen Gemeinschaft. Mit diesem Trick wurden alle wesentlichen »Neuerungen« des
gescheiterten Verfassungsvertrags den alten Verträgen einverleibt. Das geschah, wie zu Zeiten
Metternichs, auf dem Wege der Geheimdiplomatie zwischen den Regierungen und ihren
Ministerialbürokratien, wobei die deutsche Regierung eine führende Rolle hatte. Die Bürgerinnen
und Bürger, ihre Organisationen und Bewegungen, selbst die Parlamente hatten keinerlei Kenntnis
von dem, was da ausgekocht wurde, geschweige denn Einfluss darauf.
Artikel 6 Absatz 1 des Vertrags lautet: »Dieser Vertrag bedarf der Ratifikation durch die Hohen
Vertragsparteien im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften. Die
Ratifikationsurkunden werden bei der Regierung der Italienischen Republik hinterlegt.« Das
Ratifikationserfordernis bedeutet, dass der Vertrag nicht schon mit der Unterzeichnung durch die von
den Staatsoberhäuptern Bevollmächtigten rechtsverbindlich wird.
Es muss vielmehr noch ein innerstaatliches Zustimmungsverfahren durchlaufen werden. Nach den
verfassungsrechtlichen Vorschriften müssen die Parlamente zustimmen. Sie können nur Ja oder
Nein sagen, aber keine Änderungen des Vertrags herbeiführen. Und sie haben – mit Ausnahme des
tschechischen Parlaments – zum Lissabonner Vertrag Ja gesagt ohne Rücksicht auf den Willen ihrer
Wähler, zum größten Teil mit »überwältigender« Mehrheit. Bis auf Dänemark. Im dortigen Folketing
gab es bei 90 Zustimmungen immerhin 25 Gegenstimmen und 60 Enthaltungen. Und bis auf Zypern,
wo 17 Neinsager 31 Jasagern entgegenstanden.
Eiliger Gehorsam bei EU-Neulingen
Am eifrigsten waren die Parlamente der EU-Neulinge Ungarn, Malta, Slowenien und Rumänien, die
es kaum erwarten konnten, unter die vermeintlichen Beglückungen des Vertrags zu fallen und schon
kurz nach der Unterzeichnung die Zustimmungsgesetze verabschiedeten. Das ungarische
Parlament stimmte als erstes vier Tage nach der Unterzeichnung mit 325 gegen fünf Stimmen zu.
Auch Frankreich spielte in Vorschau auf die französische Ratspräsidentschaft den Schrittmacher.
Schon im Februar vergangenen Jahres beschlossen die Nationalversammlung mit 336 Ja- gegen 52
Neinstimmen und der Senat mit 265 Ja- gegen 42 Neinstimmen das Ratifikationsgesetz. Als
vorletztes Parlament hat der schwedische Reichstag mit 243 gegen 39 Stimmen bei 13
Enthaltungen am 21. November dem Lissabonner Vertrag seinen Segen gegeben.
Ob die Bürgerinnen und Bürger zugestimmt hätten, wenn sie gefragt worden wären, muss bezweifelt
werden. Volksentscheide wurden nach dem Debakel des EU-Verfassungsvertrags bei den
Franzosen und Niederländern – in beiden Ländern hatte die Bevölkerung Nein gesagt – im Falle des
Lissabonner Vertrags tunlichst vermieden, obwohl die Verfassungen der Mitgliedstaaten
Volksabstimmungen durchaus zulassen. Nur in Deutschland wird ein Volksentscheid von der
»herrschenden Meinung« geradezu als verfassungswidrig angesehen, obwohl in Artikel 20 des
Grundgesetzes steht, dass die Staatsgewalt vom Volke auch in Abstimmungen ausgeübt wird. Ein
Antrag der Linksfraktion im Bundestag, das Grundgesetz dahingehend zu präzisieren, dass in den
(Europa-)Artikel 23 ein Absatz über die Notwendigkeit einer Volksabstimmung über Neufassungen
und Änderungen der vertraglichen Grundlagen der EU eingefügt wird, wurde abgeschmettert. Die
Angst vor anderslautenden Meinungen und Entscheidungen ihrer Völker ist den EU-Mitgliedstaaten
und -Organen eingefleischt und überwuchert die Verpflichtung auf demokratische Grundsätze im
Titel II des geänderten EU-Vertrags.
Dem innerstaatlichen Zustimmungsverfahren muss ein völkerrechtlicher Akt folgen. Erst mit der
Hinterlegung der Urkunde über die innerstaatliche Zustimmung beim Depositar des Vertrags, der
italienischen Regierung, ist die Ratifikation rechtswirksam vollzogen. Aber: Zum Ersten ist es
unredlich, wenn Deutschland ständig in der Liste der Staaten geführt wird, die den Lissabonner
Vertrag ratifiziert haben. Richtig ist, dass Bundestag und Bundesrat das Zustimmungsgesetz mit
großer Mehrheit verabschiedet haben. Die Ratifikationsurkunde ist aber nicht nach Rom abgeschickt
worden. Bundespräsident Horst Köhler hat das Zustimmungsgesetz nicht ausgefertigt. Er hat zwar
erklären lassen, dass er das Gesetz für verfassungsgemäß und damit den Lissabonner Vertrag für
gut hält – was nicht wundert. Er wartet aber das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Klagen
und Beschwerden gegen den Vertrag ab, darunter die der Linksfraktion im Bundestag, von Diether
Dehm und anderen Abgeordneten der LINKEN.
Die Richter lassen sich Zeit
Die Karlsruher Richter allerdings lassen sich Zeit. Sie sind nämlich nicht alle glühende Verfechter
des Lissabonner Vertrags. Man kann damit rechnen, dass das Gericht in die Begründung eines die
Klagen abweisenden Urteils einige Kautelen einbauen wird, die der Mitwirkung Deutschlands an
ausufernden Aktivitäten der EU Grenzen setzen und die Grundrechte gegen die Marktfreiheiten
schützen.
Zum Zweiten der »Fall Tschechien«. Die Abgeordnetenkammer hatte im April 2008 dem
Lissabonner Vertrag in erster Lesung zugestimmt. Dann strengte der Senat ein Verfahren vor dem
tschechischen Verfassungsgericht an. Am 27. November vergangenen Jahres hat das Gericht
geurteilt, dass die angefochtenen Artikel des Vertrags nicht verfassungswidrig sind. Der Vertrag
widerspreche nicht der verfassungsmäßigen Ordnung des tschechischen Staates. Der bekennende
EU-Vertragsgegner Staatspräsident Vaclav Klaus musste damit eine empfindliche Niederlage
einstecken. Einem endgültigen Zustimmungsbeschluss des Parlaments schien nichts mehr im Wege
zu stehen. Aber weit gefehlt. Die Abgeordnetenkammer vertagte die Debatte auf den 3. Februar
2009. Der Senat schloss sich einen Tag später dieser Entscheidung an. In der Zwischenzeit könnten
weitere Klagen beim Verfassungsgericht eingehen. Inzwischen hat Tschechien am 1. Januar für ein
halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft übernommen – ohne den Vertrag ratifiziert zu haben. Selbst
wenn es im Februar zur parlamentarischen Zustimmung kommt, wird sich Klaus mit der Ausfertigung
des Ratifikationsgesetzes Zeit lassen.
Drittens schließlich: Polen. Schon im April 2008 haben der Sejm mit 384 von 452 und der Senat mit
74 von 97 Stimmen die Ratifizierung des Lissabonner Vertrags beschlossen. Der EU-unfreundliche
Präsident Lech Kaczynski hat die Ratifikationsurkunde im Schrank eingelagert. Er will die Post nach
Rom erst abschicken, wenn Irland ratifiziert hat.
Irlands Bevölkerung widerspenstig
Irland aber zeigt sich widerspenstig. Die Verfassung schreibt vor, dass verfassungsändernde
Gesetze nach der Zustimmung des Parlaments einer Volksabstimmung unterworfen werden
müssen. Das Zustimmungsgesetz zu Lissabon ist ein solches Gesetz. Also war eine
Volksabstimmung unumgänglich. Das Volk folgte nicht der Empfehlung der Mehrheit der
Parlamentarier: Der Lissabonner Vertrag wurde in der Volksabstimmung am 12. Juni 2008 mit 53,4
Prozent der Stimmen abgelehnt, bei einer relativ hohen Wahlbeteiligung von 53,1 Prozent.
Es war nicht das erste Mal, dass die Iren einen EU-Änderungsvertrag blockierten. Der Nizza-Vertrag
von 2001 wurde durch die Volksabstimmung im Juni 2001 mit 53,9 Prozent der Stimmen abgelehnt.
Darauf folgte ein trickreiches Manöver der EU-Oberen und der in Irland Herrschenden, um den Iren
ein Ja abzuluchsen. Die irische Staatsspitze gab vor dem Europäischen Rat in Sevilla im Juni 2002
eine »Nationale Erklärung« ab, in der »Irland bestätigt, dass seine Teilnahme an der gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik seine traditionelle Politik der militärischen Neutralität unberührt lässt«
und dass ein Auslandseinsatz irischer Streitkräfte »nach irischem Recht a) die Genehmigung des
Einsatzes durch den Sicherheitsrat oder die Generalversammlung der Vereinten Nationen, b) die
Zustimmung der irischen Regierung und c) die Billigung durch das irische Abgeordnetenhaus
erfordert«. Der Europäische Rat nahm die Erklärung zur Kenntnis und erklärte seinerseits, dass das
alles nach Inkrafttreten des Vertrags von Nizza gewährleistet sei. Der Grundsatz, dass Irland keine
vom Europäischen Rat getroffene Entscheidung über eine gemeinsame Verteidigung annehmen
werde, wurde in die Verfassung aufgenommen. Das Zugeständnis an den Friedenswillen der Iren
reichte aus, um in einer zweiten Volksabstimmung im Oktober 2002 eine Zustimmung von 62,3
Prozent zu erreichen.
Jetzt scheinen die Dinge nach demselben Schema zu laufen. Die Regierung von Brian Cowen hat
auf dem Europäischen Rat im vergangenen Dezember auf Druck von Ratspräsident Nicolas Sarkozy
und anderer EU-Größen, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel, zugesagt, »die Ratifizierung des
Vertrags von Lissabon bis zum Ende der Amtszeit der derzeitigen Kommission anzustreben«, also
dem irischen Volk die Wiederholung der Volksabstimmung spätestens im Oktober 2009 zuzumuten.
Die Regierung in Dublin baut auf einen in Umfragen festgestellten angeblichen
Stimmungsumschwung in der Bevölkerung gegenüber der EU im Allgemeinen und dem Lissabonner
Vertrag im Besonderen. Durch Zugeständnisse des Europäischen Rats an irische Forderungen soll
das Ja abgesichert werden.
Formulierungen lassen Hintertüren offen
Dabei war die Zusicherung, dass in der Europäischen Kommission immer ein Kommissar irischer
Staatsangehörigkeit tätig sein wird, leicht zu machen. Die mit dem Lissabonner Vertrag vorgesehene
Verringerung der Zahl der Kommissare auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten sollte nach
Artikel 17 Absatz 5 des Vertrags über die Europäische Union (neu) ohnehin erst ab November 2014
gelten. Und in Vorahnung zu erwartender Einwände ist in dem Artikel vorgesehen, dass die
Begrenzung nur stattfindet, »sofern der Europäische Rat nicht einstimmig eine Änderung dieser
Anzahl beschließt«. Der Europäische Rat kann also ohne Änderung des Vertrags die Beibehaltung
der alten Regelung beschließen. Und er hat so beschlossen. Das gilt für alle Mitgliedstaaten und
enthebt den Europäischen Rat der ohnehin unlösbaren Aufgabe, ein »System der strikt
gleichberechtigten Rotation zwischen den Mitgliedstaaten« einstimmig festzulegen. Immerhin wurde
damit eine Neuerung, die für die Handlungsfähigkeit der EU als wesentlich galt, fallen gelassen,
bevor sie das Licht der Welt erblickt.
Daneben gab es auch andere wohlfeile Zusicherungen: Die Achtung der irischen Neutralität war
schon im Zusammenhang mit dem Nizza-Vertrag zugesagt worden und musste nur wiederholt
werden. Das fällt nicht schwer, denn auf das kleine militärische Potenzial Irlands kommt es bei
Aufbau und Einsatz von EU-Streitkräften weiß Gott nicht an. Die »Anliegen der irischen
Bevölkerung«, die Cowen dem Rat unterbreitet hatte, wurden vom Rat »aufmerksam zur Kenntnis
genommen« und zugesagt, dass ihnen »Rechnung getragen wird«. Das betrifft ebenso die Sorge,
dass der Lissabonner Vertrag das irische Steuerrecht aushebeln könnte oder die Bestimmungen der
irischen Verfassung zum Recht auf Leben, zu Bildung und Familie beeinträchtigen würde. Das lässt
sich leicht in nichtssagende Erklärungen des Rates kleiden. Es kostet auch nichts – wie von Irland
gewünscht –, zu »bestätigen«, dass soziale Themen »für die Union von großer Bedeutung sind«.
Eine fragwürdige Handlungsfähigkeit
Die Zugeständnisse sehen nach einem Komplott zwischen den Herrschenden in Irland und den EUOberen
aus, die Iren durch nichtssagende Versprechungen zum Schlucken des vollkommen
unveränderten Lissabonner Vertrags zu verführen. Wenn alles so läuft wie eingefädelt und die
restlichen Zögerer mitmachen, dann könnte der Vertrag wie angestrebt bis Ende 2009 mit einjähriger
Verspätung in Kraft treten. Die EU hätte dann eine Verfassung, die möglicherweise die
Handlungsfähigkeit der EU-Organe stärkt. Aber das wäre zugleich eine Handlungsfähigkeit, die an
den Interessengegensätzen der Mitgliedsstaaten nichts ändert und die die Union noch stärker der
Vorherrschaft der Mächtigen, vor allem Deutschlands und Frankreichs, unterwirft. Eine
Handlungsfähigkeit, die für eine Politik genutzt wird, die auf verstärkte Militarisierung,
Marktradikalismus und Verweigerung einer Sozialunion, Abbau von Bürgerrechten im Inneren und
Abschottung nach außen gerichtet ist. Die begrüßenswerten aber doch schmalen Fortschritte in
puncto Demokratie in der EU können an dem prinzipiell negativen Urteil über Lissabon nichts
ändern.
Was aber passiert, wenn die Iren abermals Nein sagen, was durchaus möglich ist? Entweder wird
dann auf der Grundlage der zwei EU-Verträge in der Nizza-Fassung weitergewurstelt und die
nächste Gelegenheit genutzt, um dieses und jenes aus dem Lissabonner Bestand in aller Stille in
das Europäische Primärrecht hineinzuschmuggeln. Oder Irland wird zeitweise oder dauerhaft aus
der EU hinausgeekelt. Oder es gibt die Chance eines wirklichen Neuanfangs.
Alles in allem: Der aufhaltsame und unvollendete Hergang des Inkraftsetzens des Lissabonner
Vertrags ist ein Hohn auf die in ebendiesem Vertrag proklamierten Werte und Grundsätze der
Demokratie, Offenheit und Bürgernähe. Notwendig ist eine neue vertragliche Grundlage der EU, am
besten eine Verfassung, deren Inhalt auf einem demokratischen Weg, günstigstenfalls durch einen
gewählten Verfassungskonvent, erarbeitet wird und die nach breiter Diskussion mit den Bürgerinnen
und Bürgern durch Volksabstimmungen in allen Mitgliedstaaten demokratische Legitimität erhält.
* Prof. Dr. Gregor Schirmer ist Völkerrechtler und Mitglied des Ältestenrats der LINKEN. Im Kai Homilius Verlag ist jetzt sein Buch »Lissabon am Ende? Kritik der EU-Verträge« erschienen (7,50 Euro).
* Aus: Neues Deutschland, 10. Januar 2009
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