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EU-Reformvertrag entscheidet sich in Irland

Sollte die Mehrheit den Vertrag ablehnen, kommt das einem Erdbeben in EU-Europa gleich. Zwei Artikel

Angesichts einer tief gespaltenen Wählerschaft in Irland hängt der EU-Vertrag von Lissabon an einem seidenen Faden. Bei dem Referendum am Donnerstag, den 12. Juni 2008, zeichnete sich nach letzten Umfragen ein äußerst knappes Ergebnis ab. Ein Nein der Iren hätte zur Folge, dass der 2007 unterzeichnete Reformvertrag nicht in Kraft treten kann.
Die irische Regierung ebenso wie die größten Oppositionsparteien und Wirtschaftsführer hatten bis zuletzt für das Abkommen geworben. Ministerpräsident Brian Cowan sagte bei seiner Stimmabgabe, er habe alles in seiner Macht Stehende getan, um die Wähler vom Nutzen des Vertragswerks zu überzeugen. Die Gegner hätten indessen nur Ängste geschürt und falsche Informationen verbreitet.
EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso appellierte am Vorabend der Abstimmung noch einmal an die Iren, den Vertrag zu billigen, mit dem die Entscheidungsprozesse in der EU effizienter gestaltet werden sollen. Die EU könne dann das Kapitel ihrer institutionellen Reform abschließen und sich 100-prozentig den Aufgaben zuwenden, deren Erfüllung die Bevölkerung zu Recht von ihr erwarte.
Irland ist das einzige EU-Land, in dem EU-Verträge laut der Verfassung nur nach einem positiven Referendum ratifiziert werden können. 2001 lehnte das Volk den früheren EU-Vertrag von Nizza ab, nach einer Änderung wurde er im Oktober 2002 dann aber doch gebilligt.
Das in Lissabon von den EU-Staats- und Regierungschefs unterzeichnete Abkommen ist inhaltlich weitgehend deckungsgleich mit dem Entwurf für eine Europäische Verfassung, der 2005 bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden scheiterte. Die Gegner werfen der EU denn auch Etikettenschwindel vor. Sie behaupte, ein neues Vertragswerk erarbeitet zu haben, obwohl es sich eigentlich um das bereits abgelehnte handele, argumentieren sie.
Im Folgenden dokumentieren wir zwei Artikel, die am Tag der Abstimmung veröffentlicht wurden.



Anleihe bei Irlands Freiheitskämpfern

Kritiker des Lissabon-Vertrags beherrschen Debatte auf der Insel

Von Axel Reiserer, Dublin *


Drei Millionen Iren sind am heutigen Donnerstag (12. Juni) an die Urnen gerufen, um über den neuen EU-Vertrag abzustimmen. Die Gegner machen mit sachlichen Argumenten, Konservative mit nationalistischen Parolen und überkommenen Ansichten Stimmung. Die Befürworter haben nur wenig Überzeugendes zum Lissabonner Abkommen entgegenzusetzen.

Einen symbolträchtigeren Platz für Kundgebungen als das General Post Office im Zentrum Dublins gibt es in Irland nicht. Hier bezogen 1916 die Aufständischen gegen die Briten ihr Hauptquartier, bis heute erinnern sorgsam bewahrte Einschusslöcher an den 1922 schließlich erfolgreichen Freiheitskampf. Gegenüber auf der O'Connell Street steht eine Statue für den Arbeiterführer Jim Larkin mit den Versen: »Und die Tyrannei stieß sie in Dublins Gosse / Bis Jim Larkin kam / Und den Ruf der Freiheit und des Stolzes ertönen ließ.« Vor der Abstimmung über den EU-Vertrag gehörte der Platz völlig den Gegnern des Abkommens. An Pathos ließen auch sie es nicht fehlen. »Sie starben für eure Freiheit«, heißt es auf einem Plakat unter Hinweis auf die Helden von 1916.

Von der extremen Linken bis zur extremen Rechten reicht die Ablehnung des Vertrags. Lissabon sei lediglich die Neuauflage der in den Niederlanden und Frankreich abgelehnten EU-Verfassung und damit eine Verhöhnung der Völker Europas durch Politiker und Eurokraten; Lissabon höhle die Souveränität Irlands aus, entmachte das Land durch den Verlust eines ständigen Kommissars in Brüssel, unterwandere die irische Neutralität, zerstöre die Wettbewerbsfähigkeit durch Steuerharmonisierung. Extrem Konservative sehen durch »Abtreibung, Euthanasie und homosexuelle Ehen« selbst das moralische Fundament der irischen Gesellschaft bedroht.

Die Nein-Kampagne ist höchst erfolgreich. Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus, doch selbst Befürworter räumen ein, dass die Gegner im Aufwind sind. Dabei gefallen sie sich zunehmend in der »Asterix gegen Rom«-Haltung: Mit Ausnahme der Partei Sinn Féin, die seit dem Beitritt Irlands im Jahr 1973 gegen jeden EU-Vertrag gestimmt hat, treten alle führenden Parteien und Interessenverbände für ein Ja ein – auch wenn nicht selten führende Mitglieder gegen Lissabon argumentieren. Auch die Kirche verbreitete am Sonntag (8. Juni) eine verschwommene Stellungnahme.

Während sich die Befürworter lange auf inhaltsleere Appelle (»Gut für Irland«) an die Bürger beschränkten, beherrscht die bunte Allianz der Gegner die Straßen. Vor einem Fußballmatch in Dublin, das von 90 000 Menschen besucht wurde, war am Sonntag gerade ein Häufchen junger Aktivisten für ein Ja unterwegs, während vier verschiedene Nein-Gruppen klar den Ton angaben. »Steht ein für uns!«, rief ein Passant aufmunternd einem Aktivisten der Gruppe »Libertas« zu, die für eine Ablehnung des EU-Vertrags wirbt. Finanziert wird »Libertas« von dem umstrittenen Millionär Declan Ganley, der sich zu einem Schrecken des Establish-ments entwickelt hat. Er weiß, dass die Mehrheit der Gegner und Unentschlossenen angibt, den Vertrag »nicht zu verstehen«.

Sinn Féin ruft all jene, die den Vertrag nicht verstehen, zum Nein auf. Die Befürworter hingegen haben sich so wenig zündende Botschaften einfallen lassen wie: »Lasst uns daran arbeiten, dass Europa besser funktioniert.« Die Gegner sind überzeugt, dass ein »besserer« Vertrag möglich sei. Keine einzige Gruppe will aber einen Austritt aus der EU. »Ein Nein wird unsere Position nur stärken, Europa wird umdenken müssen«, meint der Sozialist Law-rence. »Wenn die Niederlande und Frankreich Nein sagen durften, warum soll es uns nicht gestattet sein?«

Brian Cowen, Ministerpräsident seit Anfang Mai, hat auf derartige Fragen bisher keine Antworten.

Hintergrund - EU zittert vor Votum der Iren

Alles ist möglich, wenn die Iren heute darüber abstimmen, ob der »Vertrag von Lissabon« ratifiziert und damit Rechtsgrundlage der EU werden darf. In Brüssel weiß man das seit dem 7. Juni 2001, als 50,4 Prozent der Iren den »Vertrag von Nizza« ablehnten. Die Krise, in die die Europäische Union durch ein neuerliches »No« der Iren gestürzt würde, wäre wesentlich schlimmer als jene von 2001, sagen EU-Diplomaten.

»Es gibt keinen Plan B«, warnte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso vor dem Votum in Irland. Dafür, dass alles gut geht – was nach EU-Ansicht natürlich ein Ja bedeuten würde – spricht für Brüssel einiges. Kein Land hat seit dem Beitritt 1973 so von der EU-Mitgliedschaft profitiert wie Irland: Das einstige Armenhaus der Union ist mittlerweile zweitreichstes EU-Mitglied, nur noch übertroffen von Luxemburg. Allen bisherigen Umfragen zufolge ist die Stimmung in Irland besonders EU-freundlich. Regierungschef Bertie Ahern trat zurück und übergab das Amt an Brian Cowen, damit das Referendum nicht zu einer Abrechnung mit der eigenen Politik wird.

Nach den gescheiterten Referenden über die EU-Verfassung von 2005 in den Niederlanden und Frankreich wurde ein neuer EU-Vertrag ausgehandelt. Niederländern und Franzosen sollte nicht zugemutet werden, nochmals über denselben Entwurf abzustimmen. Der neue Vertrag – der die wesentlichen Bestimmungen der Verfassung enthält – wurde im Dezember 2007 in Lissabon unterzeichnet. Bisher haben die Parlamente von 15 Staaten zugestimmt.

Sollte die Ratifizierung in Irland scheitern, könnte der Vertrag nicht wie geplant im Januar 2009 in Kraft treten. Der Nizza-Vertrag würde vorerst weiter gelten. (ND/dpa)



* Aus: Neues Deutschland, 12. Juni 2008


Irland entscheidet

Referendum über den EU-Lissabon-Vertrag am heutigen Donnerstag. In Brüssel geht die Angst vor einem »No«-Votum der Bevölkerung um

Von Claudia Haydt **


Nicht nur in Brüssel als EU-Sitz, auch in anderen europäischen Metropolen geht die Angst um. Am heutigen Donnerstag entscheiden 2,8 Millionen Wahlberechtigte in Irland über den Lissabon-Vertrag – und der Ausgang ist ungewiß. Dabei hätte ein mehrheitliches »No«-Votum weitreichende Folgen. Bis 22 Uhr bleiben die Abstimmungslokale offen. Mit ersten Ergebnissen wird in Dublin am Freitag nachmittag gerechnet.

Am vergangenen Freitag veröffentlichte die Irish Times erstmals Umfrageergebnisse, in denen das Nein-Lager die Nase vorn hat. Demnach sprachen sich 35 Prozent der Befragten gegen den Vertag aus und 30 dafür. Grundsätzlich, so aktuelle Einschätzungen aus Irland, würden die Vertragsgegner von einer niedrigen Beteiligung am Urnengang eher profitieren, da ihre Anhänger besser mobilisiert sind.

Die französische Regierung verschob kurzfristig eine für den gestrigen Mittwoch vorgesehene Parlamentsdebatte über die Ziele ihrer bevorstehenden EU-Präsidentschaft. Offensichtlich befürchtete sie, noch kurz vor der irischen Abstimmung weitere Argumente gegen den EU-Vertrag zu liefern. Die französischen Kommunisten bezeichneten das taktische Manöver umgehend als »Eingeständnis der Schwäche«.

Seit dem »Nein« gegen den Verfassungsvertrag 2005 in Frankreich und den Niederlanden versuchen die Regierungen der EU-Staaten, unkalkulierbare demokratische Prozesse wie Volksabstimmungen zu vermeiden. Irland ist das einzige der 27 Mitgliedsländer, das aus der Reihe tanzt. Die irische Verfassung regelt in Artikel 6, daß alle Gewalt vom Volk ausgeht. Vergleichbare Regelungen gibt es zwar auch anderswo, allerdings nicht bindend für die Durchführung von Referenden. In Irland hatte der Oberste Gerichtshof 1987 in einem aufsehenerregenden Prozeß entschieden, daß Souveränitätsrechte der irischen Bevölkerung nicht auf andere Institutionen übertragen werden können, ohne daß eine Volksabstimmung darüber stattfindet.

Anlaß des damaligen Richterspruchs war eine Klage des Wirtschaftshistorikers Raymond Crotty bezüglich der seinerzeitigen Ratifizierung der Europäischen Einheitsakte. Aktuell sorgt das Urteil dafür, daß allein die Iren unter 490 Millionen EU-Bürgern die Möglichkeit haben, über den Lissabon-Vertrag zu entscheiden. In den anderen 26 Ländern werden bestenfalls die Parlamente gefragt, in manchen bestimmen die Regierungen allein.

Wenn heute in Irland keine Mehrheit für den Vertrag zustandekommt, dann wäre der Ratifizierungsprozeß der EU- »Verfassungsreform« gestoppt. Es bestände in Irland zwar die Möglichkeit, ähnlich wie nach der Ablehnung des Nizza-Vertrags 2001 auch über den Lissabon-Vertrag noch einmal abstimmen zu lassen – was zu einer noch deutlicheren Ablehnung führen könnte. Auch Versuchen, durch zusätzliche Protokolle zum Vertrag einige Bedenken der irischen Bevölkerung zu zerstreuen, werden wenig Chancen eingeräumt. Dieses Instrument wurde bereits im Rahmen des Nizza-Vertrages zur Garantie der irischen Neutralität eingesetzt, wodurch seine Glaubwürdigkeit massiv gelitten hat: Die irische Neutralität wird zwar noch proklamiert, doch ist das Land längst fest in die NATO und EU-Militärpolitik integriert.

Der Flughafen des nordatlantischen Militärpaktes in Shannon, die Beteiligung Irlands an den EU-Battlegroups, die 400 im Tschad eingesetzten irischen Soldaten - all dies spielte während der öffentlichen Diskussion um den Lissabon-Vertrag in Irland eine große Rolle. Sollte die Auszählung der Stimmen ein »Nein« ergeben, wäre das zunächst ein großer Erfolg der Gegner einer militarisierten, antisozial verfaßten EU. Als eventueller Ausweg bliebe lediglich eine drastische Reduzierung des Vertrages auf einige zentrale institutionelle Reformen. Wie das aussehen würde, ist jedoch unklar. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso erklärte zumindest: »Es gibt keinen Plan B«.

Roger Cole von der Irischen Allianz für Frieden und Neutralität, einer der Aktivisten des »Nein-Lagers«, formuliert die Erwartungen vieler linker Aktivisten: »Mit einer Ablehnung des Vertrages gewinnen wir eine wichtige Schlacht. Der Kampf gegen die Militär- und Wirtschaftspolitik der Union wird uns jedoch noch lange beschäftigen.«

** Aus: junge Welt, 12. Juni 2008


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