Schäfer (SPD): "Das deutsche Parlament hat eine außergewöhnliche Stärkung seiner Rechte erfahren" / Gysi (DIE LINKE): "Das Bundesverfassungsgericht hat den Lissabon-Vertrag völlig neu interpretiert"
Der Bundestag debattiert über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag
Einen Tag nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach zwar der Lissabon-Vertrag mit dem Grundgesetz vereinbar sei (siehe "Vertrag von Lissabon mit Grundgesetz vereinbar"), das vom Bundestag verabschiedete "Begleitgesetz" aber verfassungsrechtlich Mängel aufweise, sodass der Vertrag von Lissabon noch nicht ratifiziert werden dürfe, debattierte auch der Bundestag über das Urteil. Dabei zeigte sich, dass Politiker dazu neigen, große Entscheidungen immer zu ihren Gunsten zu interpretieren. Es schien nur Sieger zu geben - wie nach einer Wahl. Dies wurde schon am Tag zuvor deutlich, als die Fraktionen ihre Presseerklärungen abgegeben hatten (siehe hierzu und zu einer Erklärung aus der Friedensbewegung: "Es ist wie nach einer Wahl: Alle erklären sich zum Sieger"). Dennoch verdient die Debatte dokumentiert zu werden, weil in ihr die grundsätzlichen Standpunkte der Fraktionen zum EU-Verfassungsvertrag deutlich werden.
Es sprachen in dieser Reihenfolge:
Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht, 229. Sitzung, Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2009
Plenarprotokoll 16/229
Tagesordnungspunkt 3:
Vereinbarte Debatte: Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon
Vizepräsidentin Petra Pau:
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der gestrige Tag vor dem Bundesverfassungsgericht in
Karlsruhe war ein wichtiger Tag für Deutschland, für
Deutschland in Europa, für den Deutschen Bundestag
wie für den Bundesrat. Es ist gut, dass wir uns hier heute
direkt mit den Konsequenzen dieses Urteils befassen.
Lassen Sie mich drei einleitende Punkte nennen.
Erstens. Der Vertrag von Lissabon ist mit dem Grundgesetz
vereinbar. Das ist ein großer Erfolg für die große
Mehrheit dieses Hauses.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zweitens. Das Zustimmungsgesetz mit den Änderungen
des Grundgesetzes zum Lissabon-Vertrag ist mit
dem Grundgesetz vereinbar. Auch das ist ein großer Erfolg
für die große Mehrheit dieses Hauses.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD:
Ein guter Tag für Europa!)
Drittens. Im Begleitgesetz haben wir als Parlamentarierinnen
und Parlamentarier unsere Beteiligung und
unsere Möglichkeiten zur Mitwirkung nicht in vollem
Umfange genutzt. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht
an dieser Stelle Nein gesagt und uns bestimmte
Aufgaben auferlegt, die wir erfüllen wollen und die wir,
wie ich glaube, auch erfüllen können und werden. Deshalb
diskutieren wir heute.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Lassen Sie uns hier die Maßstäbe zurechtrücken. Wer
heute Zeitung liest, hat manchmal den Eindruck, es gehe
allein um die Beteiligungsrechte von Bundestag und
Bundesrat und weniger um den großen Erfolg der europäischen
Integrationsgeschichte. Dieser Erfolg aber ist
gleichzeitig ein Signal des Deutschen Bundestages und
des Bundesrates zum Beispiel Richtung Irland, wo das
künftige Referendum, also die zweite Runde, erfolgreich
verlaufen soll. Gleichzeitig ist es auch ein Signal an die
Präsidenten Kaczynski und Klaus – auch nachdem das
tschechische Verfassungsgericht so votiert hat –: Es gibt
jetzt keine rechtlichen Hindernisse mehr, die Verfassung
in Form des Reformvertrages von Lissabon zu unterzeichnen. Auch das sollten wir heute an dieser Stelle ganz deutlich machen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Es kommt jetzt sowohl darauf an, was wir diskutieren,
als auch darauf, wie wir es diskutieren. Zum Thema,
wie wir es diskutieren, ist es aus meiner Sicht besonders
wichtig, zu sagen: Nein, die Regierungsfraktionen haben
nicht immer nur recht.
(Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP])
Nein, die Oppositionsfraktionen haben nicht immer nur
unrecht. Nein, das Bundesverfassungsgericht weiß nicht
immer alles besser. Auch diese drei Dinge sollten wir in
die Diskussion mitnehmen.
Wir wollen jetzt – das ist unser Anspruch, den ich
gerne für die SPD-Fraktion zum Ausdruck bringen
möchte – zügig, aber solide und gründlich mit allen
Fraktionen dieses Hauses zu einer fairen Regelung kommen,
die ermöglicht, dass erstens der Deutsche Bundestag
das Begleitgesetz noch in dieser Legislaturperiode
ändert, dass sich zweitens auch der Bundesrat noch in
dieser Legislaturperiode damit befasst und dass drittens
die Ratifikationsurkunde bis Anfang Oktober dieses Jahres
in Rom hinterlegt wird; das wäre auch mit Blick auf
die dann in Irland stattfindende Volksabstimmung ein
wichtiges Signal. Ich glaube, darauf sollten wir alle uns
hier und heute verständigen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
Das deutsche Parlament hat eine außergewöhnliche
Stärkung seiner Rechte erfahren, nicht nur insofern, als
deutlich gemacht wurde, welche Rechte ein Parlament
hat, sondern auch, weil deutlich gemacht wurde, welche
Rechte sich ein Parlament nehmen – manchmal könnte
man auch sagen: was es sich herausnehmen – kann.
Hier zeigt sich ein grundlegendes Problem jeder parlamentarischen
Regierungsform – auch der Regierungsform,
die wir haben und die wir wollen –: Ein Parlament
steht, unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen, ein
Stück weit im Konflikt mit jedweder Regierung. Ein
Parlament hat nämlich immer ein Interesse daran, mehr
gestalterische Möglichkeiten zu bekommen – das gilt
insbesondere für die europäische Ebene –, während eine
Regierung immer darauf bedacht ist, ihre Handlungsmöglichkeiten
zu behalten, sodass sie genügend Verhandlungsmöglichkeiten
hat. Aus unserer Sicht darf nicht der Eindruck entstehen, dass das Parlament störend ist. Vielmehr ist das Parlament ein wichtiger Faktor der
Gestaltung und der Kontrolle der Regierung. Auch das
sollten wir heute betonen.
(Beifall bei der SPD)
Wenn wir diese Aussage selbstkritisch hinterfragen
– es ist wichtig, selbstkritisch zu sein; denn man kann
nur selbstbewusst sein, wenn man auch selbstkritisch
ist –, stellen wir fest, dass wir die Arbeitsweise unseres
Parlaments in Zukunft ein Stück weit werden ändern
müssen. Außerdem muss sich – das Haus ist nicht gerade
übervoll – die Mentalität, also die Einstellung zur Debatte
über die Europäisierung auch unserer Politik verändern.
Das ist nicht nur die Aufgabe der sogenannten
Europaspezialisten, sondern auch eine Aufgabe, der wir
uns in der Alltagsarbeit in allen 22 Ausschüssen des
Deutschen Bundestages stellen müssen. Wir müssen
ganz ehrlich zugeben: In diesem Parlament haben wir in
dieser Hinsicht noch eine ganze Menge Überzeugungsarbeit
zu leisten.
Weil die große Mehrheit der Mitglieder des Deutschen
Bundestages europäische Föderalisten sind, erlaube
ich mir, an dieser Stelle einen deutlichen Beurteilungsunterschied
im Vergleich zur Auffassung des
Bundesverfassungsgerichts herauszustellen. Jawohl, das
Bundesverfassungsgericht hat den Deutschen Bundestag
gestärkt. Es hat aber argumentativ – nicht rechtlich, sondern
argumentativ – das Europäische Parlament geschwächt.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wie hat es
das denn gemacht?)
Die Aussage – so steht es in einem Satz der Begründung
des Urteils –, dass der Lissabon-Vertrag im Hinblick auf
das Europäische Parlament keinen Zugewinn an Demokratie
zur Folge hat
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nicht
genügend!)
– „keinen“ steht da, nicht „nicht genügend“, sondern
„keinen“ –, ist falsch. Das sollten wir deutlich sagen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wenn man das Maastricht-Urteil zur Grundlage
nimmt, darf nicht so getan werden, als hätte sich von
1992 bis 2009 nichts geändert. 1992 gab es keine Form
von gleichberechtigter Mitentscheidung des Europäischen
Parlaments. Durch Lissabon haben wir das in ungefähr
90 Prozent der Fälle. So wie der Lissabon-Vertrag
angelegt ist, nämlich auf eine repräsentative Demokratie,
ist das Europäische Parlament ein zentraler Ort. Es ist
gleichberechtigt mit dem Rat.
Die Begründung, die von Karlsruhe angeführt wurde,
lautet: Gesetzgeber ist insbesondere der Rat, die nationalen
Parlamente haben eine wichtige Stellung, und das
Europäische Parlament tritt hinzu oder hat ein Vetorecht.
– Von einem Vetorecht des Parlaments ist in keinem
Vertrag die Rede, wohl aber von gleichberechtigter
Mitentscheidung. Dies sollten wir unterstreichen.
(Beifall bei der SPD)
Das spielt nicht nur aufgrund der solidarischen Zusammenarbeit
mit dem EP, sondern auch in Anbetracht
der Tradition unseres Hauses eine wichtige Rolle. Es waren
Generationen von Abgeordneten, von 1952 bis 1976,
die eine Direktwahl des Europäischen Parlaments eingefordert
haben. Die SPD stand hierbei Gott sei Dank immer
mit an der Spitze; aber dieses Anliegen wurde auch
von allen anderen – von der FDP, von der CDU/CSU
und später auch von den Grünen – getragen. Auch um
diese Frage geht es heute. Es geht heute nicht nur um
eine Stärkung der Rechte von Bundestag und Bundesrat in Europafragen, sondern auch um eine Anerkennung,
eine Würdigung, eine Stärkung der Rechte des Europäischen
Parlaments.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege
Markus Löning.
(Beifall bei der FDP)
Markus Löning (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
FDP-Fraktion begrüßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
in seinen verschiedenen Aspekten. Wir begrüßen
aber zuallererst, dass das Bundesverfassungsgericht
den Vertrag von Lissabon für verfassungskonform
erklärt hat. Karlsruhe sendet damit ein ganz wichtiges
Signal, auch über Deutschland hinaus.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
Wir begrüßen auch, dass alle Verfassungsbeschwerden
und -klagen zurückgewiesen wurden.
(Dr. Peter Gauweiler [CDU/CSU]: Stimmt
doch überhaupt nicht! Ist doch angenommen
worden!)
Wir halten es für wichtig, dass in der politischen Argumentation,
die sich gegen den Lissabon-Vertrag an sich
gerichtet hat, nun die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts
angelegt werden. Ich bin sehr gespannt auf die
politische Debatte, insbesondere von denjenigen, die gegen
den Vertrag an sich argumentiert haben.
(Beifall bei der FDP)
Es wird jetzt darauf ankommen, dass der Deutsche
Bundestag ein weiteres Signal für die europäische Integration
sendet, und zwar in Richtung Irland. Ich denke,
es ist richtig, dass wir das Begleitgesetz noch in dieser
Legislaturperiode – wir sollten den 4. Oktober, den Tag
der Volksabstimmung in Irland, im Auge haben – überarbeiten,
neu schreiben, auf den Stand bringen, den uns
das Bundesverfassungsgericht aufgetragen hat.
An Deutschland wird der Vertrag von Lissabon nicht
scheitern. Das ist ein wichtiges Signal, das wir nach Irland
senden, aber auch in die Tschechische Republik und
nach Polen; gerade für diese beiden Länder spielt ein anderer
Aspekt eine wichtige Rolle.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns für die weitere
Integration eine Reihe von Leitplanken gegeben. Der eine
oder andere hat in der Debatte gesagt: Was wir da bekommen
haben, ist ein integrationsfeindliches Urteil. – Ich
sehe es anders: Es ist im Gegenteil ein integrationsfreundliches
Urteil. Denn Karlsruhe hat sich in der Begründung
nicht etwa von Integrationseuphorie, sondern
von der Ratio, von der Vernunft, und von demokratischen
Grundsätzen leiten lassen.
Das haben gerade wir als FDP oft genug angemahnt.
Das Demokratiedefizit in der Europäischen Union kann
nicht dadurch geheilt werden, dass dem Europäischen
Parlament mehr Rechte gegeben werden. Es muss dadurch
geheilt werden, dass der Deutsche Bundestag und
die anderen nationalen Parlamente ihre Aufgabe der demokratischen
Kontrolle der Gesetzgebung endlich wahrnehmen.
(Beifall bei der FDP)
Was das angeht, kann ich es mir nicht ersparen, die
Koalitionsfraktionen noch einmal anzuschauen. Eine
ganze Reihe von Entscheidungen, die in den letzten Monaten
getroffen worden sind, wären im Lichte dieses
Urteils anders ausgefallen. Ich erinnere an die Grundrechteagentur
der Europäischen Union, basierend auf
Art. 308 EGV: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
wäre es nicht mehr möglich, dass die Regierung
so etwas ohne Ansehen der Meinung der breiten Mehrheit
des Bundestages durchwinkt.
(Beifall bei der FDP)
Lassen Sie mich im Zusammenhang mit der Debatte
über den Vertrag von Lissabon daran erinnern, dass Bundesregierung
und Bundestag über das Mandat zur
Verhandlung von Vertragsänderungen Einvernehmen
herzustellen haben. Nach dieser Entscheidung hätte der
Bundestag auch hier ganz anders eingebunden werden
müssen. Der Bundestag hätte dem Mandat zustimmen
müssen. Das ist ein wichtiger Unterschied. Hierdurch
werden die Fehler, die von der Großen Koalition in dieser
Legislaturperiode gemacht worden sind, deutlich
aufgezeigt.
(Beifall bei der FDP)
Der Bundestag ist nach diesem Urteil nicht mehr ein
Parlament, das das Recht zur Mitwirkung hat, sondern
nach diesem Urteil hat der Bundestag die Pflicht zur
Mitwirkung. Wir können nicht durch bloßes Zuhören
oder durch Weghören Dinge auf europäischer Ebene
passieren lassen. Nach diesem Urteil sind wir als Vertreter
des deutschen Volkes in der Pflicht, das, was in Brüssel
und in den Ministerräten geschieht, rechtzeitig hier
im Deutschen Bundestag zu behandeln, und zwar gerade
nicht nur – Herr Kollege Schäfer, das haben Sie richtig
gesagt – im Europaausschuss. Ganz besonders in den
einzelnen Fachausschüssen des Deutschen Bundestages
muss der nächste Bundestag mit europäischen Rechtsetzungsakten
und damit, was die Bundesregierung in den
Räten entscheidet, ganz anders umgehen. Der Bundestag
ist hier in der Pflicht, sich frühzeitig zu informieren,
frühzeitig Entscheidungen zu treffen und frühzeitig der
Regierung einen Auftrag mit auf den Weg zu geben.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
Ich glaube, dass wir die Auswirkungen des Urteils auf
die Verschiebungen zwischen den Verfassungsorganen
so kurz nach dem Urteil noch gar nicht richtig überblicken. Es wird zu einer Stärkung gerade derjenigen Abgeordneten führen müssen, die den Koalitionsfraktionen angehören. Es wird gerade bei den Kolleginnen und
Kollegen zu einem stärkeren Selbstbewusstsein gegenüber
der eigenen Regierung führen müssen, die in den
Koalitionsfraktionen sitzen. Sie müssen hier anders und
mit deutlich mehr Selbstbewusstsein auftreten, als das in
der Vergangenheit der Fall gewesen ist.
(Beifall bei der FDP)
Ich wage die Prognose, dass sich das nicht auf die Europapolitik
oder auf das, was auf europäischer Ebene passiert,
begrenzen lassen wird.
Wir brauchen hier – das werden wir auch bekommen –
ein anderes Rollenverständnis des Bundestags im Vergleich
zum Verfassungsorgan Bundesregierung. Dieses
Rollenverständnis wird sich selbstverständlich auch auf
alle anderen Bereiche der Politik ausdehnen – auch auf
das Verhältnis zum Europäischen Parlament –, und es
wird sich auch auf unser Verhältnis zu anderen nationalen
Parlamenten ausdehnen müssen.
Weit über die Kooperationsmöglichkeiten hinaus, die
wir jetzt über die COSAC haben, in der die Europaausschüsse
miteinander kooperieren, brauchen wir ein Netzwerk
der Kooperation zwischen den nationalen Parlamenten.
Wir müssen bei jeder einzelnen Sachfrage in der
Lage sein – bei der Kontrolle der Subsidiarität, aber auch
bei anderen Sachfragen –, sehr viel schneller zu politischen
Vereinbarungen und politischen Abstimmungen
mit anderen nationalen Parlamenten zu kommen. Aus
meiner Sicht ist die Stärkung des Bundestages und der
anderen nationalen Parlamente die eigentliche Stärkung
der Demokratie in Europa, die mit diesem Urteil verbunden
ist.
Lassen Sie mich zu guter Letzt eines noch anfügen:
Die FDP-Fraktion wird sich an der Ausarbeitung eines
neuen Begleitgesetzes beteiligen, wie das von den Koalitionsfraktionen
angeboten worden ist. Wir werden darauf
dringen, dass die BBV in Gesetzesform gegossen
wird. Wir sollten hier keinerlei Risiken eingehen, sondern
wir sollten uns sehr klar darüber sein, was wir wollen.
Wir sollten keine komischen Zwitterpositionen einnehmen,
sondern gesetzlich regeln, was gesetzlich zu
regeln ist.
(Beifall bei der FDP und der LINKEN)
Eines sage ich hier aber auch ganz klar: Für unsere
Kooperation und unsere Zustimmung am Ende werden
wir strengste Maßstäbe an die Inhalte anlegen. Es darf
hier nicht versucht werden, weichzuwaschen. Das, was
wir heute in den Medien von Vertretern der Bundesregierung
teilweise schon vernommen haben, nämlich Versuche,
das Urteil herunterzuinterpretieren, ist nicht akzeptabel.
Es geht hier um die Rechte des Parlamentes und darum,
dass dieses Begleitgesetz verfassungsfest ist. Da
wird es keine Kompromissbereitschaft auf unserer Seite
geben. Wir brauchen ein klares Begleitgesetz, das unzweideutig
verfassungsfest ist.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Zu guter Letzt wiederhole ich das, was ich an dieser
Stelle schon oft gesagt habe: Die beste gesetzliche Regelung
wird nicht helfen, wenn der politische Wille, sie zu
nutzen, nicht da ist. Man muss mehr Demokratie auch
wollen, und man muss mehr Demokratie auch wagen.
Die eigentliche Aufgabe und Herausforderung für dieses
Haus besteht aus meiner Sicht darin, eine Änderung des
Selbstverständnisses zu finden und mehr Demokratie zu
wagen, auch was Europa angeht.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen für die
Unionsfraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Michael Stübgen (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts enthält
für die Bundesregierung, den Deutschen Bundestag
und den Bundesrat zwei zentrale Botschaften.
Erstens. Das Grundgesetz – das kann man gar nicht
oft genug wiederholen – sagt Ja zum Vertrag von Lissabon.
Mit dieser sehr klaren Aussage des Vorsitzenden
Richters des Zweiten Senates, Professor Dr. Voßkuhle,
werden die Anträge der Kläger im Organstreitverfahren
verworfen und zurückgewiesen, ebenso die Verfassungsbeschwerden,
soweit sie das Ratifikationsgesetz und die
Grundgesetzänderung betreffen.
Der Vertrag von Lissabon verstößt nicht gegen das
Grundgesetz; er führt nicht zu einer Entstaatlichung der
Bundesrepublik Deutschland; Art. 20 des Grundgesetzes,
in dem die Bundesrepublik Deutschland als demokratischer
und sozialer Bundesstaat definiert wird, ist
nicht verletzt; auch die Entscheidungshoheit des Deutschen
Bundestages beim Einsatz der Streitkräfte wird
durch die Bestimmungen des Vertrages von Lissabon
nicht ausgehöhlt – um die wesentlichen Klageinhalte zu
wiederholen. Das Bundesverfassungsgericht hat damit
die Verfassungsbeschwerden der Kläger in ihren zentralen
Punkten als unbegründet zurückgewiesen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die zweite zentrale Botschaft lautet: Der Deutsche
Bundestag und der Bundesrat müssen mit den ihnen
nach dem Grundgesetz zustehenden Ausgestaltungsmöglichkeiten
bei der Umsetzung des Vertrages im innerstaatlichen
Recht selbstbewusster umgehen und ihre
Beteiligungsrechte aktiver und umfassender wahrnehmen.
In dem 147 Seiten umfassenden Urteil erläutert das
Gericht auf den letzten Seiten sehr genau, welche Beteiligungsrechte
des Bundestages und des Bundesrates
nicht in dem erforderlichen Umfang ausgestaltet worden sind. Gemeint sind in dem Kontext nicht nur die vereinfachten Verfahren zur Änderung der EU-Verträge, die
nach der Auffassung des Verfassungsgerichts ein aktives
Handeln des Deutschen Bundestages erfordern und einer
ordentlichen Vertragsänderung im Wege eines Ratifikationsverfahrens
gleichkommen müssen. Gemeint sind
auch diejenigen Politikbereiche, die sich in einem dynamischen
europäischen Prozess weiterentwickeln, ohne
dass bereits heute ausreichend erkennbar wäre, in welche
Richtung der Weg geht. Dies betrifft zum Beispiel
die Entwicklungsklauseln im europäischen Strafrecht.
Bei der Weiterentwicklung des EU-Primärrechts darf
es keine Lücken in der demokratischen Legitimation geben.
Dies würde auch dem Prinzip der begrenzten
Einzelermächtigung zuwiderlaufen. Der Deutsche Bundestag
muss also das Begleitgesetz zum Vertrag von Lissabon
ändern, bevor die Ratifikationsurkunde in Rom
hinterlegt werden kann. Die Koalitionsfraktionen von
CDU/CSU und SPD haben hierfür bereits einen Fahrplan
beschlossen, der sicherstellt, dass die erforderlichen
Änderungen nach der Maßgabe der Entscheidung des
Verfassungsgerichts noch vor der Bundestagswahl ins
Gesetz geschrieben werden. Wir drängen in dieser Frage
auf Eile, nicht nur deshalb, weil wir davon überzeugt
sind, dass der Vertrag von Lissabon für die weitere Gestaltung
der Europäischen Union absolut notwendig ist.
Wir drängen auch auf Eile, weil wir eine europäische
Mitverantwortung für die rechtzeitige Inkraftsetzung des
Vertrages von Lissabon in der Europäischen Union tragen
und vom Verhalten des Deutschen Bundestages und
des Bundesrates eine Signalwirkung für die noch ausstehenden
Unterschriften unter das Ratifikationsgesetz in
Polen, Tschechien und Irland ausgeht. Wir werden diese
Verantwortung wahrnehmen, ohne dass wir dabei die
notwendige Sorgfalt außer Acht lassen.
Wer das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im
Ganzen liest, kommt zu dem Ergebnis, dass der Deutsche
Bundestag als Gesetzgeber gestärkt aus dem Verfahren
herausgekommen ist, nicht zuletzt deshalb, weil
das Bundesverfassungsgericht Nachbesserungen beim
Begleitgesetz verlangt hat, mit denen eine aktive Beteiligung
des Bundestages in allen europapolitischen Fragen
verlangt wird, besonders aber bei jenen Fragen, bei denen
der Integrationsweg nicht hinreichend bestimmt ist.
Es reicht nicht, wenn der Bundestag Vertragsänderungen
stillschweigend passieren lässt. Er ist durch das Grundgesetz
zur aktiven Verantwortungswahrnehmung verpflichtet.
Das Bundesverfassungsgericht stärkt den Deutschen
Bundestag auch im Verhältnis zur Bundesregierung. Wir
haben uns in den vergangenen Jahren bei der Zusammenarbeit
in EU-Angelegenheiten auf die Zusammenarbeitsvereinbarung
zwischen Bundestag und Bundesregierung
stützen können und erst vor wenigen Wochen
einen Antrag dazu im Deutschen Bundestag verabschiedet,
in dem Meinungsverschiedenheiten und Auslegungsdefizite
ausgeräumt werden sollten. Das Bundesverfassungsgericht
hat gestern klargestellt, dass dieser
Vertrag mit der Bundesregierung schon wegen seiner unklaren
Rechtsnatur für die Ausgestaltung der Mitwirkungsrechte
nach dem Grundgesetz nicht ausreicht. Wir
werden deshalb nicht umhinkommen, wesentliche Elemente
aus der Vereinbarung in das Gesetz hineinzuschreiben,
zum Beispiel die notwendige Herstellung des
Einvernehmens vor der Aufnahme neuer Mitglieder
bzw. dem Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen oder
vor der Aufnahme von Verhandlungen über Vertragsänderungen.
Im Duktus des Urteils sind dies wesentliche EU-Entscheidungen
bzw. EU-Rechtsetzungsakte. Diese bedürfen
eines Zustimmungsvorbehaltes durch den Deutschen
Bundestag und – soweit betroffen – auch vom Bundesrat.
Wir werden uns sehr eng an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
halten.
Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung in eigener
Sache. Die Zusammenarbeitsvereinbarung besteht seit
über zwei Jahren. Wir haben gerade vor wenigen Wochen
eine Debatte darüber geführt. Aber gerade das Verfahren
zum zweiten Monitoring-Bericht dieser Vereinbarung
und das Ergebnis zum Beispiel des Briefes der
beiden Parlamentarischen Staatssekretäre an den Ausschussvorsitzenden
haben in mir schon damals die Überzeugung
wachsen lassen, dass es grundsätzlich besser
wäre – wie es das Bundesverfassungsgericht jetzt entschieden
hat –, die grundlegenden Normen der Zusammenarbeitsvereinbarung
in einem Gesetz zu regeln. Diesen
Auftrag haben wir jetzt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der SPD und der FDP)
Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch auch darauf
hingewiesen, dass ungeachtet der Stärkung der nationalen
Parlamente im Vertrag von Lissabon die Europäische
Union zu ihrer Legitimation weiterhin auf die Rückkopplung
mit den nationalen Parlamenten angewiesen
ist. Der supranationale Charakter der Europäischen
Union hat nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts
keine staatliche Identität. Er wird sie auch in
Zukunft nicht bekommen, es sei denn – das ergibt sich
aus dem Urteil –, dass unsere Nachfolger im Sinne des
Art. 146 des Grundgesetzes einen echten europäischen
Bundesstaat gründen wollen, und zwar mit einem Referendum
über eine echte europäische Verfassung. Ich
denke aber, diese Fragen können wir getrost unseren
nachfolgenden Generationen überlassen.
Die gestrige Entscheidung definiert eine Grenze der
europäischen Integration nach dem jetzigen Staatenbundmodell,
die gerade von uns als Bundestag bei der
weiteren Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische
Union beachtet werden muss.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einmal
darauf hinweisen, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
den Vertrag von Lissabon nachhaltig unterstützt
und alles daransetzen wird, dass er so früh wie möglich
in Kraft gesetzt werden kann. Der Vertrag von Lissabon
erweitert die Zuständigkeiten der Europäischen Union;
er macht die Europäische Union jedoch zugleich demokratischer,
indem er die Mitentscheidung des Europäischen
Parlamentes und der nationalen Parlamente verbessert
und diesen zum Beispiel ein Klagerecht
gegenüber dem Europäischen Gerichtshof gegen Gesetzgebungsakte einräumt, die nach ihrer Auffassung gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen.
Auch andere institutionelle Neuerungen – zum Beispiel
die Abschaffung der Rotation bei der EU-Ratspräsidentschaft
und die Zusammenführung des Amtes des
Hohen Beauftragten mit dem des EU-Außenkommissars –
sind aus unserer Sicht notwendig und stärken die Handlungsfähigkeit
der Europäischen Union in ihren auswärtigen
Beziehungen. Europa soll künftig seine Interessen
noch wirkungsvoller vertreten können. Dass dies notwendig
ist, zeigt sich beispielhaft an den Themen weltweiter
Klimaschutz und Bewältigung der globalen Finanzkrise.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung
kein Urteil gegen die europäische Integration
gefällt. Ganz im Gegenteil: Es hat auf die Europafreundlichkeit
des Grundgesetzes hingewiesen und die Notwendigkeit
unterstrichen, dass die Legimitation europäischen
Handelns vor allem von den Nationalstaaten
ausgehen muss. Sie bleiben die Herren der europäischen
Verträge. Die Europäische Union hat eben keine Kompetenzkompetenz.
Diese darf ihr nach dem Grundgesetz
auch nicht übertragen werden. Natürlich ist die Europäische
Union eine Rechtsgemeinschaft. Aber sie kann vollen
demokratischen Standards nur zusammen mit dem
Grundgesetz genügen.
Wir haben in den nächsten Wochen eine ganze Menge
zu tun. Wir alle wissen, was wir wollen und was möglich
ist; denn wir alle haben darüber in den letzten Jahren diskutiert.
Deswegen habe ich die große Hoffnung, dass wir
es schaffen, mit großer Mehrheit das Begleitgesetz demokratischer
zu machen – wie es das Bundesverfassungsgericht
vorgegeben hat – und es noch im September
abzuschließen. Ich hoffe, dass der Bundesrat – die
Zusammenarbeit mit ihm wird von besonderer Bedeutung
sein – diesen Weg mitgeht und wir noch vor dem
Referendum in Irland am 4. Oktober unsere Urkunde in
Rom zur Ratifikation des Lissabon-Vertrages hinterlegen
werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
FDP)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, die wenigsten haben über Nacht die
147 Seiten des Urteils gelesen. Wer nicht dabei war und
nicht zugehört hat und trotzdem so redet, als ob er es
wirklich gelesen hätte, sagt deshalb falsche Sätze, zum
Beispiel den Satz, es sei wunderbar, dass das Bundesverfassungsgericht
den Vertrag von Lissabon als grundgesetzgemäß
angesehen habe. Dazu muss man zwei Dinge
sagen: Erstens. Noch nie hat das Bundesverfassungsgericht
einen internationalen Vertrag für grundgesetzwidrig
erklärt.
(Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN])
– Herr Trittin, warten Sie! Zu Ihnen komme ich noch.
Sie haben schon während der Verkündung alles besser
gewusst. Die Richter hatten es noch nicht vorgelesen, da
waren Sie schon wieder oberschlau, lieber Herr Trittin.
Das habe ich mitbekommen.
(Beifall bei der LINKEN)
Zweitens. Entscheidend ist, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts
den Lissabon-Vertrag völlig neu interpretiert haben
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
und mit ihrer Interpretation Bundestag, Bundesrat und
Bundesregierung gebunden haben. Dadurch hat der Vertrag
zum Teil einen neuen Inhalt. Lassen Sie mich zwei
Sachen herausgreifen. Zum Beispiel bleibt die Bundeswehr
eine Parlamentsarmee.
(Zuruf von der SPD)
– Entschuldigung, im Vertrag ist es anders geregelt.
(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Wo steht
das?)
– Das kann ich Ihnen sagen: im Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
Aber das haben Sie nicht gelesen. Dort
steht, dass man die Bestimmung auch so verstehen
könne, dass man das aber für Deutschland anders interpretiere;
das gehe nur, wenn der Bundestag zuvor zugestimmt
habe.
<
(Beifall bei der LINKEN)
Dort steht ebenfalls, dass man die Bestimmung zur
Sozialstaatlichkeit zwar auch so verstehen könne, dass
es aber für die Bundesrepublik Deutschland nur eine Interpretation
gebe; sie müsse in der Zuständigkeit dieses
Parlaments bleiben. Das alles wollen Sie nicht zur
Kenntnis nehmen. Der Lissabon-Vertrag ist durch Interpretation
des Bundesverfassungsgerichts deutlich verändert.
Das ist Tatsache.
(Beifall bei der LINKEN – Lachen des Abg. Jürgen
Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
– Das finden Sie wohl amüsant. Aber das ist gar nicht
amüsant. Das hat das Bundesverfassungsgericht übrigens
schon oft gemacht, Herr Trittin. Zum Beispiel
wurde die Organklage im Zusammenhang mit dem
Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR abgewiesen.
Aber Bayern hat das als Erfolg gefeiert, weil
die Interpretation des Vertrages völlig anders war als zuvor.
Auch das haben Sie nicht mitbekommen.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war damals eine Niederlage für
Bayern!)
Nun gebe ich Ihnen einen Beweis. Wissen Sie, wie
der vorletzte Satz des Urteils lautet? Dort steht: Mit
Rücksicht darauf, dass das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon – Sie sind stolz darauf, dass die Beschwerde dagegen abgewiesen wurde – nur nach Maßgabe
der Gründe dieser Entscheidung mit dem Grundgesetz vereinbar und die Begleitgesetzgebung teilweise verfassungswidrig ist, wurden Bundestag und
Bundesregierung verpflichtet, uns ein Drittel der Kosten
zu erstatten; das haben Sie völlig übersehen. Ich finde
das völlig richtig.
(Beifall bei der LINKEN – Jürgen Trittin
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt,
dass Sie auf zwei Dritteln der Kosten sitzen
bleiben!)
Ein weiterer Hinweis: Das 147 Seiten umfassende Urteil
ist von grundlegender Bedeutung; denn die Richter
des Bundesverfassungsgerichts haben Stellung zur Europäischen
Union, zum europäischen Recht, zum Europäischen
Gerichtshof, zu Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung
sowie übrigens auch zu den Kompetenzen
des Bundesverfassungsgerichts genommen. Selten ist in
einem Urteil so häufig zu diesen Kompetenzen Stellung
genommen worden wie in diesem. Ich glaube, dass wir
alle das Urteil noch sehr gründlich studieren und auswerten
müssen, weil es von großer Relevanz für unsere
künftige Politik ist. Es hat eine Sache festgestellt, die Sie
auch nicht gesagt haben, nämlich dass die 27 souveränen
Staaten Verträge schließen dürfen, die aber nicht so verwirklicht
werden dürfen, „dass in den Mitgliedstaaten
kein ausreichender Raum“ – alles wörtlich – „zur politischen
Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und
sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt“. Das ist ein
ganz wichtiger Grundsatz, der hier aufgestellt wird.
Ich komme zu einer weiteren Sache, nämlich dass das
Begleitgesetz für grundgesetzwidrig erklärt worden ist.
(Zuruf von der SPD: Teilweise!)
Was mich schon erstaunt – auch bei Ihnen, Herr Trittin,
bei Ihnen allen –, ist, dass keiner von Ihren Fraktionen
auch nur einen selbstkritischen Satz sagt, zum Beispiel:
Ja, wir haben etwas Grundgesetzwidriges beschlossen. –
(Zuruf von der SPD: Doch, haben Sie nicht zugehört,
Herr Gysi?)
Das hat keiner von Ihnen gesagt. Das ist das Mindeste,
was ich hier erwartet hätte.
(Beifall bei der LINKEN – Axel Schäfer [Bochum]
[SPD]: Sie haben mir nicht zugehört!
Schade, schade!)
– Ich wusste, dass Sie sich gleich aufregen, aber wahr ist
es trotzdem. Das hat nun einmal das Bundesverfassungsgericht
festgestellt. –
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Gysi, Sie
haben zu zwei Dritteln verloren!)
Das Nächste ist: Was hat das Bundesverfassungsgericht
entschieden? Es hat erstens Europa in den Bundestag geholt.
Das ist wichtig. Es stimmt, was gesagt wurde: Wir
müssen über neue Bedingungen nachdenken. Das ist
wahr. Es wird übrigens auch höchste Zeit, wenn wir die
Akzeptanz der Europäischen Union in der Bevölkerung
erhöhen wollen.
(Beifall bei der LINKEN)
Zweitens hat es das Verhältnis von Legislative und Exekutive
geklärt. Jetzt sage ich es Ihnen einmal ganz deutlich:
Es wird keine Änderung des Vertrages, wie Sie es
wollten – alle vier Fraktionen wollten das –, ohne Zustimmung
des Bundestages geben. Das hat das Bundesverfassungsgericht
festgelegt. Sie wollten, dass Brüssel
ohne Zustimmung des Bundestages Strafrechtsnormen
beschließen kann. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht
gesagt, dass genau das nicht gehen wird.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat es immer noch nicht verstanden!)
Sie haben keine Rechte des Bundestages und keine
Rechte des Bundesrates im Begleitgesetz festgelegt. Genau
deshalb ist es für grundgesetzwidrig erklärt worden.
Das ginge doch auch nicht. Es geht doch nicht, dass sich
Brüssel überlegt, was hier eine Straftat sein könnte, und
der Bundestag noch nicht einmal darüber mitentscheidet.
Sie können doch einmal selbstkritisch sagen, dass Sie
die Rechte des Bundestags in dieser Hinsicht verletzt haben.
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Angelica
Schwall-Düren [SPD]: Es ist Quatsch, was Sie
da sagen!)
Es wird auch keine wichtigen zivil- und familienrechtlichen
Vorschriften aus Brüssel ohne vorhergehende Zustimmung
des Parlaments geben.
Nun müssen wir also ein neues Begleitgesetz schaffen.
Wir werden dabei zusammenarbeiten. Ich stimme
dem Vertreter der FDP zu: Auch mit uns wird es kein
Gesetz geben, das versucht, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
zu umgehen. Aber das ist nicht das
Einzige. Das Bundesverfassungsgericht hat noch etwas
anderes vorgeschlagen, und ich bitte Sie, das gründlich
zu lesen. Es gibt Fälle, in denen die Europäische Union
kompetenzüberschreitend oder identitätsverletzend wirkt.
Es wurde vorgeschlagen, über ein neues Verfahren nachzudenken,
wie man diesbezüglich eine Feststellung des
Bundesverfassungsgerichts einholen kann. Das verlangt
eine Änderung des Grundgesetzes. Ich bitte Sie, diese
Stelle genau zu lesen und uns dann in dem Gremium
gleichzeitig beraten zu lassen, ob wir dieses Gesetz nicht
einbringen, das Grundgesetz ändern und die Möglichkeiten
des Weges zum Bundesverfassungsgericht erweitern.
Letztlich kommen Sie um eines nicht herum – Sie
können hier alle reden, was Sie wollen –:
(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Das hat
was mit Freiheit zu tun!)
Durch Gauweiler, durch Graf Stauffenberg und durch die
Fraktion Die Linke sind die Rechte des Bundestages und
des Bundesrates gestärkt worden.
(Beifall bei der LINKEN – Michael Roth [Heringen]
[SPD]: Auf diesen Satz haben wir gewartet!)
Sie hätten sie geschwächt. Ein Satz von Ihnen hätte fallen
müssen: Danke, Graf Stauffenberg, danke, Herr
Gauweiler, danke, Fraktion Die Linke. –
Danke.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Rainder Steenblock das Wort.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern war ein wichtiger, ein großer Tag für die Demokratie,
für die Demokratie in Deutschland und für die
Demokratie in Europa. Dieses Ereignis wird uns – da haben
alle recht – noch sehr lange beschäftigen: die Menschen,
die ihre Hoffnungen auf Europa setzen, und uns,
die wir das vermitteln müssen und die in den Kontakt
mit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes treten
müssen, um Europa dichter an die Menschen zu bringen.
Lieber Kollege Gysi, die Menschen in diesem Lande
ärgert immer besonders, dass sich nach Wahlen alle zum
Sieger erklären, selbst die Verlierer; auch ich finde das
äußerst ärgerlich, selbst wenn es Vertreter meiner Partei
machen. Ich meine, es ist für die politische Kultur ausgesprochen
wichtig, dass diejenigen, die aus einem Entscheidungsprozess
als Verlierer hervorgegangen sind, ihre Niederlage akzeptieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
In den letzten Monaten hat mich wirklich begeistert,
wie die politische Figur John McCain seine Niederlage
gegen Barack Obama akzeptiert hat; wie er darauf reagiert
hat, war für mich vorbildlich. Die Größe von Politikern
und Parteien zeigt sich nicht beim Feiern von Erfolgen,
sondern insbesondere in der Niederlage. Was Sie
allerdings an den Tag legen, das ist bitter.
Herr Gysi, Sie haben recht – ich bin an dieser Stelle
völlig bei Ihnen –: Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts
ist für die Demokratie in Deutschland ein großer
Erfolg. Das, was Sie mit dieser Klage erreichen wollten,
ist aber etwas völlig anderes als das, was das Bundesverfassungsgericht
festgestellt hat.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Sie sind jahrelang durch dieses Land gezogen und haben
den Vertrag von Lissabon schlechtgeredet.
(Frank Spieth [DIE LINKE]: Warum denn? –
Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Das wissen wir auch nicht!)
Das war sozusagen der Kernpunkt Ihrer Klage, also das,
worauf Sie hingesteuert haben. Sie sind grandios gescheitert!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
All Ihre Kritik am Vertrag ist vom Verfassungsgericht
zurückgewiesen worden.
Lieber Kollege Gysi, lassen Sie uns das, was Sie verbockt
haben, nicht schönreden.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
Zusammen mit dem Kollegen Gauweiler haben Sie uns
die Chance gegeben, die Demokratie in Deutschland
weiterzuentwickeln. Das ist gut so, und das unterstützen
wir. Ihr Tun sollte sich nicht darin erschöpfen, hier den
Vertrag von Lissabon zu kritisieren. Wir, der Deutsche
Bundestag und damit die Volksvertretung, also die Vertretung
der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, sind
diejenigen, die durch dieses Urteil neue Kraft bekommen
haben. Wir haben neue Kompetenzen bekommen,
und – Markus Löning hat darauf hingewiesen – diese
Kompetenzen müssen wir auch nutzen. Das ist unsere
große Chance.
Daraus ergibt sich eine Reihe von zusätzlichen Fragen,
die wir klären müssen. Eine zentrale Frage ist, wie
die Verfassungsorgane in dieser Republik zueinander
stehen. Eine Antwort, die wir bekommen haben, betrifft
das Verhältnis von Bundesregierung und Parlament. Dieses
Verhältnis wird sich ändern, und das wird erhebliche
Konsequenzen haben.
Ich finde, der Bundesinnenminister hat heute eine
schlechte Erklärung abgegeben, als er gesagt hat: Eigentlich
wird sich gar nichts ändern; es müssen lediglich
einige Änderungen an den Gesetzesformulierungen vorgenommen
werden. Das ist falsch: Wenn wir dieses Urteil
ernst nehmen, wird sich in diesem Hause viel ändern.
Wir alle, die Parlamentarier, werden mehr Verantwortung
bekommen. Diese Verantwortung müssen wir annehmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der
SPD)
Das ist wichtig.
Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen.
Wenn wir in Zukunft das Verhältnis der Verfassungsorgane
untereinander neu gestalten, geht es auch darum,
die Rolle des Verfassungsgerichtes neu zu gestalten. Das
Urteil des Verfassungsgerichtes enthält auch darauf Hinweise;
ich verweise auf bestimmte Fragestellungen bezüglich
des Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht
und EuGH. Dieses Thema wird Sie in der
nächsten Legislaturperiode beschäftigen müssen; ich
werde dem Parlament leider nicht mehr angehören.
(Beifall des Abg. Dr. Peter Gauweiler [CDU/
CSU] – Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das bedauere
ich auch!)
– Das ist kein Grund zum Klatschen.
(Heiterkeit)
Ich selber habe mich dazu entschieden; das ist auch gut so.
Gerade was die europapolitischen Fragen angeht,
wird es nicht nur eine Herausforderung sein, den Prozess
europäischer Gesetzgebung zu begleiten, sondern auch,
im Parlament selber entsprechende Arbeitsstrukturen zu
entwickeln; das ist nicht einfach. Darüber hinaus wird es
Arbeitsstrukturen auf europäischer Ebene – Stichwort
„Zusammenarbeit zwischen den nationalen Parlamenten“
– geben müssen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
besagt sehr deutlich, dass die nationalen Staaten
den Staatenverbund Europa gestalten. Das ist eine integrationsfreundliche
Gestaltung. Das Verfassungsgericht
hat noch einmal sehr klar gesagt: Dieses Grundgesetz
will – erlaubt also nicht nur – die europäische Integration
im Staatenverbund.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das ist wichtig. Das ist eine ganz deutliche Ansage in
Richtung der Nationalisten, von welcher Seite auch immer
sie kommen.
Wir wollen als deutsche Bundesrepublik mit dem
Grundgesetz die europäische Integration. – Das ist ein
sehr wichtiger Satz in dem Urteil.
Deshalb müssen wir die Nationalstaaten in die Lage
versetzen, zu kooperieren. Ich will jetzt gar nicht die Debatte
um die zweite Kammer noch einmal aufmachen,
aber: Wir müssen als Parlamentarier solche Strukturen
schaffen, dass wir nicht nur unsere Regierungen kontrollieren,
sondern auch diesen europäischen Prozess auf der
Ebene der europäischen Parlamente miteinander besser
diskutieren können – die COSAC ist dazu nach meiner
Kenntnis nicht in der Lage –; das steht an.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)
Natürlich müssen wir auch mit den Parlamentariern
aus dem Europäischen Parlament – Axel Schäfer hat darauf
hingewiesen – anders und besser zusammenarbeiten.
Ich interpretiere das Urteil nicht als Schwächung der
europäischen Parlamentarier, sondern als Stärkung der
nationalen Parlamentarier. Auch die europäischen Parlamentarier
sind gut beraten, glaube ich, von ihrer Seite
aus aktives Engagement in diese Kooperation mit den
nationalen Parlamenten zu investieren.
In fast allen europäischen Ländern gibt es zum Teil
Unverständnis, Misstrauen in europäische Entscheidungsstrukturen.
Als Parlamentarier, als diejenigen, die
auf nationaler Ebene vom Volk oder auf europäischer
Ebene gewählt worden sind, müssen wir die Verantwortung
annehmen, das heißt kooperieren. Es geht nicht an,
dass jeder in seinem eigenen Pott oder in seiner eigenen
Partei rührt; wir müssen zusammenarbeiten.
Zum Schluss möchte ich gern noch Folgendes ansprechen:
Wir werden diesen Prozess nur dann hinbekommen,
wenn wir unsere Rolle als Parlamentarier tatsächlich
mit mehr Rückgrat spielen, als wir das bisher
gemacht haben; das meine ich jetzt nicht als individuellen,
persönlichen Vorwurf.
(Frank Spieth [DIE LINKE]: Hört! Hört!)
Wir haben in diesem Land eine politische Kultur, die
eher auf Parlamentarier-Bashing ausgerichtet ist. Wir arbeiten
für das Volk, weil wir vom Volk gewählt sind und
die Verantwortung annehmen. Natürlich sind auch wir
mit Fehlern behaftet, wie alle. Aber wenn ich an all die
Debatten denke, in denen es um die Bezahlung der Politiker,
um die Ausstattung der Politiker, um die Reisen
der Politiker geht, komme ich zu dem Schluss: Wir müssen
sehr selbstbewusst sagen: Wir arbeiten. Wir können
die Regierung kontrollieren. Wir können die Entscheidung
auf europäischer Ebene mitgestalten; das kommt
jetzt dazu. Dahinter stehen muss das Selbstbewusstsein,
zu sagen: Wir stehen hier als diejenigen, die gewählt
worden sind – mit Rechten und Pflichten. Wenn das in
populistischer Manier kleingeredet wird, sollten wir das
parteiübergreifend bekämpfen; denn wir sind diejenigen,
die das Mandat haben, über dieses Land zu entscheiden.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Steenblock, die Wünsche des gesamten Hauses,
denke ich, begleiten Sie in Ihren neuen Lebensabschnitt.
(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Es wird trotzdem
nicht seine letzte Rede gewesen sein!)
Das Wort hat der Kollege Michael Roth für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was ist dem Vertrag von Lissabon in den vergangenen
Monaten und Jahren nicht alles entgegengeschleudert
worden? Hydra! Camouflage! Marktradikales Monster!
– Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts besagt eindeutig:
Er ist weder ein asoziales Subjekt noch ein militaristischer
Moloch.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Michael
Stübgen [CDU/CSU])
Ich erlaube mir, aus dem Urteil zu zitieren:
Der konstitutive Parlamentsvorbehalt für den Auslandseinsatz
der Streitkräfte besteht auch nach einem
Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon fort. Der Vertrag von Lissabon überträgt der Europäischen Union keine Zuständigkeit, auf die Streitkräfte
der Mitgliedstaaten ohne Zustimmung des jeweils
betroffenen Mitgliedstaates oder seines
Parlaments zurückzugreifen.
Außerdem heißt es darin:
Der Vertrag von Lissabon beschränkt die sozialpolitischen
Gestaltungsmöglichkeiten des Deutschen
Bundestages nicht in einem solchen Umfang, dass
das Sozialstaatsprinzip ... in verfassungsrechtlich
bedenklicher Weise beeinträchtigt und insoweit notwendige demokratische Entscheidungsspielräume unzulässig vermindert wären.
Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist dieses
Urteil eine Ermutigung für alle Europapolitikerinnen
und Europapolitiker in den Fraktionen, die sich tagtäglich
darum bemühen, dieses europäische Einigungswerk
demokratischer, transparenter und handlungsfähiger zu
gestalten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der FDP)
Es ist aber auch ein Weckruf für alle anderen Abgeordneten,
auch hier in diesem Hause, die sich mitunter etwas
arrogant oder desinteressiert über diejenigen äußern,
die im Europaausschuss sitzen und tagtäglich versuchen,
ihre Arbeit zu leisten – nicht um ihrer selbst willen, sondern
damit dieses Integrationsprojekt auch weiterhin in
eine gute Zukunft geführt werden kann. Es ist, liebe Mitglieder
der Bundesregierung, natürlich auch ein Stoppsignal
für alle Exekutiven, sei es in Brüssel, sei es in
Berlin, die der Auffassung sind, dass der Parlamentarismus
bzw. seine Stärkung Sand im Getriebe des europäischen
Räderwerks sind. Auch das muss man so klar und
deutlich benennen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
Dennoch hat mich das Urteil – das sage ich unumwunden
– enttäuscht. Ich frage mich, ob der Deutsche
Bundestag die Rolle eines Europaparlamentes zu übernehmen
in der Lage ist, wie wir es heute in der Überschrift
einer respektablen Zeitung haben lesen dürfen.
Wir alle wissen – das ist jetzt auch schon mehrfach gesagt
worden –: Allein die Änderung des Begleitgesetzes,
auch wenn alle Fraktionen daran mitwirken sollen, müssen
und dürfen, reicht nicht aus.
Ich befürchte auch, dass wir bis zum Ende dieser Legislaturperiode
nicht alle Fragen, deren Beantwortung
uns das Verfassungsgericht aufgetragen hat, klären können.
Deswegen erwarte ich von uns allen, ob wir diesem
Parlament dann noch angehören oder nicht, dass wir die
Inhalte dieses Urteils auch als Arbeitsauftrag für die
nächste Legislaturperiode verstehen und dann grundsätzlicher,
in aller Ruhe und Sorgfalt noch einmal darüber
nachdenken, was das für den Europaausschuss heißt,
was das für die Zusammenarbeit der Fachausschüsse
heißt, was das im Einzelnen für die Fraktionen heißt und
was das für die Zusammenarbeit zwischen den Kolleginnen
und Kollegen im Europäischen Parlament und den
Abgeordneten des Deutschen Bundestages heißt. Ich
meine, hier sind keine Schnellschüsse gefragt.
Wir müssen aber anerkennen – das hat uns das Bundesverfassungsgericht
aufgegeben –: Europa ist Innenpolitik.
Heribert Prantl hat heute so schön geschrieben –
wir haben uns hier im Plenum und im Ausschuss so oft
darüber beklagt, dass dies nicht geschieht –:
Europa muss... ins Deutsche übersetzt werden.
Ich meine, das gilt auch im übertragenen Sinne. Wir
müssen es den Bürgerinnen und Bürgern erklären. Wir
müssen auf die Defizite, aber gleichzeitig auch auf die
Chancen hinweisen. Hier setzt meine Kritik am Urteil
des Bundesverfassungsgerichtes an.
Es ist selbstverständlich, dass für das Bundesverfassungsgericht
das Konzept der nationalen Souveränität
verpflichtend ist. Ich frage mich aber, ob sich so im
21. Jahrhundert die Globalisierung politisch gestalten
lässt. Wir reden tagtäglich über den Klimaschutz. Wir reden
darüber, dass die Welt friedlicher werden soll. Können
wir das wirklich allein nationalstaatlich regeln? Die
überwiegende Mehrheit von uns wollte die Möglichkeiten
zu Mehrheitsentscheidungen auf europäischer Ebene
ausweiten, weil wir uns ein handlungsfähiges Europa gewünscht
haben, das sich nicht klein macht, sondern sich
seiner internationalen Verantwortung bewusst ist und
auch diese Verantwortung übernehmen kann. Dafür
braucht es aber auch eine entsprechende Entscheidungsfähigkeit,
die ich derzeit noch nicht zu sehen vermag.
Für mich galt immer ein Satz: Die Europäische Union
ist selbstverständlich eine Union von Staaten, sie ist aber
auch eine Union der Bürgerinnen und Bürger. Dies hat
sich ja bei den Direktwahlen zum Europäischen Parlament
immer wieder manifestiert.
Das Bundesverfassungsgericht bemisst die Frage, wie
die Zukunft Europas gestaltet werden soll, allein am
Maßstab des Grundgesetzes. Dazu ist es verpflichtet.
Wir alle wissen aber auch, dass jeder Vertrag von den
27 nationalen Kulturen und Traditionen jedes Mitgliedstaates
geprägt ist und in einem überwölbenden Kompromiss
zustande gebracht werden muss. Deswegen
weiß natürlich jeder Europapolitiker zuallererst und zuvörderst:
Es ist immer ein wenig Demut, Toleranz und
Respekt gegenüber den 26 anderen Partnern – möglicherweise
werden es, wie einige hoffen, noch mehr – in
der Europäischen Union nötig.
Ich frage mich: Wie kann man das alles unter einen
Hut bringen? Das Bundesverfassungsgericht bleibt ein
wichtiger Akteur. Aber es kann uns nicht alles im Kleinen
vorgeben. Vielmehr müssen wir als Parlament diese
Aufgaben selbstbewusst wahrnehmen und dürfen uns
dabei nicht alles vorschreiben lassen.
(Beifall bei der SPD)
Ja, das ist eine Stärkung der Demokratie auf nationaler
Ebene. Ich finde es schade, dass Rainder Steenblock,
der sich diesbezüglich immer durch Kompetenz und Engagement
ausgezeichnet hat, im nächsten Bundestag
nicht mehr dabei sein wird. Kolleginnen und Kollegen
wie ihn brauchen wir in den nächsten Legislaturperioden
noch viel mehr, als es in den vergangenen Jahren der Fall
war. Es ist schade, dass Kolleginnen und Kollegen, die
sich der europäischen Idee verpflichtet fühlen, in der
nächsten Legislaturperiode nicht mehr dabei sein werden.
Dazu, wie wir die Demokratiedefizite auf der EUEbene
beheben können, sagt das Bundesverfassungsgericht
nichts. Ich habe meine Zweifel, ob die Frage allein
damit beantwortet ist, dass wir das Europäische Parlament
schlechter reden, als es aus meiner ganz persönlichen
Sicht realiter ist.
(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)
Bei allem Respekt sind weder Herr Gauweiler noch
die Fraktion Die Linke die Helden des gestrigen Tages.
Die Helden sind für mich die Europapolitikerinnen und
Europapolitiker des Alltags, die sich tagtäglich darum
bemühen, europapolitischen Themen Aufmerksamkeit
zu verschaffen, die der Regierung Beine machen, die
sich selbstbewusst in das komplizierte und komplexe europäische
Räderwerk einbringen und damit die demokratische
Legitimation des europäischen Gesetzgebungsprozesses
stärken. Ich wünsche mir viel mehr solcher
Kolleginnen und Kollegen im nächsten Deutschen Bundestag.
Dann könnte manches gelingen, was uns das
Bundesverfassungsgericht bislang noch nicht zutraut.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler aus der
Unionsfraktion.
Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Steenblock hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass die heutige Debatte an einen Wahlabend
erinnert, an dem es lauter Sieger gibt. Nachdem
das Bundesverfassungsgericht gestern entschieden hat,
dass der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung
mir nicht 30 Prozent, sondern 50 Prozent meiner Kosten
erstatten müssen, fühle ich mich zur Hälfte als Sieger.
Die andere Hälfte als Verlierer nehme ich gerne in Kauf,
weil es sich um ein sehr gutes Urteil handelt, das da erstritten
worden ist.
Ich möchte Ihnen zunächst ein paar Punkte zu dem
Vorwurf vortragen, dass das Europaparlament schlechtgeredet
worden ist. Das ist nicht der Fall. Das Bundesverfassungsgericht
hat sich zum Europaparlament
überhaupt nicht politisch geäußert. Es hat rechtlich festgestellt,
dass das Europaparlament nicht gleichheitsgerecht
gewählt ist.
(Zurufe von der LINKEN: So ist es!)
Es hat weiter erklärt, dass es deshalb nicht geeignet
ist, politische Leitentscheidungen zu treffen, die in einer
Demokratie repräsentativ und zurechenbar sein müssen.
Das Bundesverfassungsgericht hat damit gleichzeitig
Ihre Kompetenzen gestärkt, meine Damen und Herren.
Das sollte einen Bundestagsabgeordneten ermuntern,
statt ihm Anlass zur Kritik zu geben.
(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie
bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich möchte Ihnen sieben Punkte darstellen, die mir im
Hinblick auf das Urteil wesentlich erscheinen. Erstens.
Das Bundesverfassungsgericht stellt ausdrücklich klar,
dass das Prinzip der souveränen Staatlichkeit eine
Schranke der Integrationsermächtigung ist.
(Zuruf von der LINKEN: So ist es!)
Die Bundesregierung und der Bundestag haben dies
in ihren Schriftsätzen ausdrücklich bestritten. Insofern
führt das Bundesverfassungsgerichtsurteil zu einer Klärung
dieser verfassungsrechtlichen Streitfrage.
Zweitens. Einer der wesentlichen Streitpunkte war die
Frage – das wissen Sie, Herr Schäfer –, ob es richtig ist,
dass im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren bei
Anwendung der sogenannten Brückenklauseln eine Vielzahl
von Bestimmungen der EU-Verträge ohne Befassung
des Bundestages und der anderen nationalen Parlamente
geändert werden kann. Das ist von anderer Seite
als „Selbstkastrierung des Parlaments“ bezeichnet worden.
Diese Selbstkastrierung des Parlaments ist durch
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts verhindert
worden, weil das von diesem Hause mit riesiger Mehrheit
beschlossene Begleitgesetz in wesentlichen Punkten
geändert und unter vielen Aspekten ergänzt werden
muss, um den Anforderungen des Grundgesetzes bei der
Anwendung des Vertrags Geltung zu verschaffen.
Der dritte Punkt. Die Flexibilitätsklausel des Art. 352
AEUV – auch das war ein Einwand der Kritiker – birgt
die Gefahr in sich, dass die EU die Kompetenzkompetenz
für die Gesetzgebungszuständigkeit und damit letzten
Endes faktisch die Souveränität von unserem eigenen
Souverän an sich zieht. Das Bundesverfassungsgericht
hat ausdrücklich bestätigt, dass diese Bedenken zu Recht
bestehen. Es ist mir völlig unbegreiflich, wie Sie darüber
hinwegreden können.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Paul
Lehrieder [CDU/CSU] und Gert Winkelmeier
[fraktionslos])
Es verlangt deshalb, dass die Inanspruchnahme dieser
Klausel – und zwar entgegen den Regelungen des Vertrags,
nach denen die Zustimmung der nationalen Parlamente
nicht nötig ist – in Deutschland der Ratifikation
durch Bundestag und Bundesrat bedarf. Das ist ein gewaltiger
Sieg. Damit ist das, was Sie hier beschlossen
haben, ins Gegenteil verkehrt worden.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Viertens. Das Bundesverfassungsgericht hat – das
stimmt; da haben Sie recht – zwar das Zustimmungsgesetz
zum Vertrag von Lissabon als verfassungsmäßig angesehen,
allerdings ausdrücklich – darauf haben Sie schon
hingewiesen – nur nach Maßgabe der vom Gericht formulierten
Entscheidungsgründe. Das Gericht hat an vielen
Stellen zu jedem Vertragspassus – das zieht sich
durch das ganze Urteil – einschränkende Interpretationen
vorgenommen und Auslegungsmöglichkeiten, die
der Wortlaut des Vertrags zulässt und die mit dem
Grundgesetz unvereinbar wären, ausgeschlossen.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Paul
Lehrieder [CDU/CSU] und Gert Winkelmeier
[fraktionslos])
Es hat fünf besondere Gebiete genannt, in denen die Zuständigkeit
– schütteln Sie nicht den Kopf, sondern lesen
Sie das Urteil – unter keinen Umständen, höchstens in
einem sehr eng begrenzten Bereich, weitergegeben werden
darf. Es hat insbesondere das Strafrecht, das staatliche Gewaltmonopol, die Staatsausgaben und die Prinzipien
des Sozialstaates genannt. Es ist gut für den
Deutschen Bundestag, dass das – erstmals – in dieser
Klarheit festgestellt werden konnte.
Fünftens. Das Bundesverfassungsgericht hat betont,
dass – das war uns besonders wichtig – das Prinzip der
begrenzten Einzelermächtigung nach wie vor zentral für
den Staatenverbund ist. Nur weil dieses Prinzip nach wie
vor gilt, ist der Vertrag überhaupt mit dem Grundgesetz
– mehrfach heißt es: „noch“ – vereinbar.
(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: So ist es!)
Das Bundesverfassungsgericht hat auch darauf hingewiesen,
dass die Fülle von Einzelermächtigungen, die es
nach dem Vertrag von Lissabon geben wird, die Gefahr
in sich birgt, dass hier eine flächendeckende Kompetenz
geschaffen wird. Dem hat das Bundesverfassungsgericht
jetzt erstmalig in dieser Form einen Riegel vorgeschoben.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Es verteidigt nämlich gegen eine mögliche Auslegung
des Vertrags seine Kompetenz, ultra vires gehenden, also
die Grenzen der Ermächtigung überschreitenden, EURechtsakten
in Deutschland die Gefolgschaft zu verweigern.
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch nicht neu!)
Den Vorrang des EU-Rechts und die Zuständigkeit
des Bundesverfassungsgerichts durch einen völkerrechtlichen
Vorbehalt abzusichern, wird die Aufgabe der
nächsten Wochen und Monate sein. Ich bitte die Bundesregierung
herzlich, uns allen hier Klarheit zu verschaffen.
(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Wieso die
Bundesregierung?)
– Die Bundesregierung kann das durch einen entsprechenden
Vorbehalt, der erklärt werden muss, absichern.
Das sollten Sie eigentlich wissen. Das steht am Anfang
der Debatte.
Sechstens – ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin
– hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich
festgestellt, dass die demokratische Legitimation der
EU-Organe unzulänglich ist und demokratischen Anforderungen
nicht genügt.
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Aber die sagen, dass das so sein muss!)
Deswegen ist immer von „noch verfassungsgemäß“ die
Rede.
Siebtens und letztens. Das Urteil macht bedeutende
Vorgaben für die weitere Entwicklung der europäischen
Integration. Das gilt insbesondere für die Notwendigkeit
einer verfassungsgebenden Volksabstimmung.
Herr Kollege Steenblock, Sie haben in Ihrer Abschiedsrede
die Befugnisse und das Recht des Parlaments
betont. Ich danke Ihnen. Aber dieses Urteil bedeutet für
dieses und das nächste Parlament einen Kompetenzschub.
Es dient uns nicht zum Ruhme, dass es dazu eines
Urteils des Bundesverfassungsgerichts bedurfte.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der FDP und der
Abg. Jörg Tauss [fraktionslos] und Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Ich möchte Ihnen herzlich mit auf den Weg geben, auch
als Staatsbürger, der Sie ja sind: Ein Parlament, das seine
Kompetenzen aufgibt, gibt sich selber auf. Dies zu verhindern,
sind wir da.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der FDP und der
Abg. Jörg Tauss [fraktionslos] und Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Diether Dehm für die
Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
Meine Damen und Herren! Ich kann es Ihnen nicht ersparen:
Die Medien vom heutigen Tage wie Süddeutsche
Zeitung, Handelsblatt und Welt sind eine einzige Ohrfeige
für die Bundesregierung und für die Mehrheit des
Bundestages. Ich zitiere aus der FAZ von heute:
Ein deutlicheres Attest ihrer Selbstentmündigung
hätten die Parlamentarier kaum ausgestellt bekommen
können.
Vom gespielten Jubel der Regierung ist die Rede. Sie
hätte einen starken Stier kaufen wollen und von Karlsruhe
eine kleine Kuh geliefert bekommen; jetzt jubiliere
sie: Immerhin ein Rindvieh.
Hätte die Koalition die Rechte des Bundestages nicht
abgewertet, Karlsruhe hätte die Rechte nicht aufwerten
müssen. Das ist doch die Wahrheit.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Sie beschließen ein grundgesetzwidriges Gesetz, werden
ertappt und ernennen sich zum Sieger.
Die Medien haben naturgemäß versucht, den Erfolg
der Linken so klein wie möglich zu halten.
(Zurufe von der SPD: Oh! – Markus Löning
[FDP]: Das macht ihr schon selber! Dazu
braucht ihr die Medien nicht!)
Hinter den Medien stehen ja meist CDU/CSU, FDP und
ein paar Finanzhaie. Aber immerhin hat Herr Professor
Mayer, der Prozessbevollmächtigte der Gegenseite und
damit unser Gegner, heute Morgen im Ausschuss gesagt,
künftige Oppositionsfraktionen müssten der Linken
dankbar sein; denn unsere Klage habe die Minderheitenrechte
im Deutschen Bundestag gestärkt, was gänzlich
neu sei. Lieber Rainder, sollen wir uns jetzt darüber ärgern
oder sollen wir uns darüber freuen, dass der gegnerische Prozessbevollmächtigte uns gesagt hat, durch uns seien die Minderheitenrechte gestärkt worden?
(Beifall bei der LINKEN – Rainder Steenblock
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das hat
nichts mit eurer Klage zu tun!)
Aufrüstung und Kriege ums Öl wurden zwar gestern
nicht gestoppt, aber der widerwärtige Versuch – so steht
es im Lissabon-Vertrag –, über den Einsatz der Bundeswehr
in Brüssel zu entscheiden statt allein im Deutschen
Bundestag.
(Widerspruch bei der SPD – Dr. Carl-Christian
Dressel [SPD]: So ein Unsinn!)
Das ist durch den Vorbehalt des Bundesverfassungsgerichtes
gestoppt worden.
Der Neoliberalismus, der die Finanzkrise bewirkt hat,
wurde nicht gestoppt. Aber das Gericht hat deutlich das
Sozialstaatsprinzip betont, ausdrücklich gegen EUBürokratie
und Europäischen Gerichtshof. Das Bundesverfassungsgericht
betont: Wir sind und bleiben zuständig
für den Schutz der Verfassungsidentität, zu der der
Sozialstaat gehört. Auch diese soziale Würde des Menschen
ist also nicht verhandelbar. Darüber ist jetzt klar
entschieden worden.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Also passen Sie nicht mehr im vorauseilenden Gehorsam
Ihre Gesetze an den Neoliberalismus der EU an! Ich
erwähne in diesem Zusammenhang das niedersächsische
Vergabegesetz hinsichtlich öffentlicher Bauaufträge und
nenne nur das Stichwort Rüffert-Urteil. Lassen Sie
EuGH-Angriffe auf Volkswagen und auf die Tariflöhne
nicht mehr zu, sondern streiten Sie mit den Gewerkschaften
und klagen Sie vor dem Bundesverfassungsgericht!
Seit gestern bietet sich die Gelegenheit förmlich
an, dagegen zu klagen. Das sollte auch wahrgenommen
werden.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Der Bundestag ist nach dem Urteil zudem gehalten,
sich mehr um internationale Verträge zu kümmern, die
die Lebenssituation der Menschen unmittelbar betreffen.
Das gilt vor allem für die neoliberalen Angriffe über die
WTO auf die ärmsten Menschen auf allen Kontinenten.
Sollten die Menschen draußen erschrocken sein über
die monströsen Schwächen, die der Bundesregierung
und der Mehrheit des Bundestages attestiert worden
sind, dann können sie in dieser Beziehung beruhigt sein:
Sie haben eine starke Linke in den Deutschen Bundestag
gewählt.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert
Winkelmeier [fraktionslos])
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel
für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Dr. Carl-Christian Dressel (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es
kommt einem schon merkwürdig vor, nach einer nationalkonservativen
Allianz aus PDS und anderen Europaskeptikern
und Europagegnern hier reden zu können. Es
gilt für uns nach wie vor das, was die Präambel des
Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland beinhaltet,
nämlich dass das deutsche Volk von dem Willen
beseelt ist, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten
Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Diese Äußerung hat das Bundesverfassungsgericht in
den Mittelpunkt seiner gestrigen Argumentation gestellt.
Ich sage: Darüber können wir alle froh sein.
Ich darf den heute schon wiederholt erwähnten
Heribert Prantl zitieren, der die richtige Schlussfolgerung
gezogen hat:
Diesem spektakulären, glänzenden und klugen
Karlsruher Urteil gelingt die Kunst, den europäischen
Integrationsprozess nicht aufzuhalten, sondern
ihn – bei einem deutschen Zwischenstopp –
demokratisch zu befruchten.
Ich denke, das ist die zentrale Botschaft. Das ist auch
eine Botschaft an diejenigen, die sich hier gerne als Gewinner
feiern lassen; denn von Gewinnen kann man nur
reden, wenn man mit seinen Zielen durchkommt. Wenn
man das Urteil nicht von hinten zu lesen beginnt, sondern
von vorne, dann sieht man, was Sie zum Gegenstand
Ihrer Anträge beim Bundesverfassungsgericht gemacht
haben, dann stellt man fest, dass Sie sich allein
gegen das Zustimmungsgesetz und nicht gegen das Begleitgesetz
gewendet haben. Also Gewinner? Fehlanzeige,
nur herbeigeredete Gewinner.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD –
Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das stimmt
doch gar nicht! Der Kollege Gauweiler! –
Dr. Peter Gauweiler [CDU/CSU]: Das ist nicht
richtig!)
Es ist wichtig, dass wir uns darüber klar werden, was
mit dem Urteil gesagt wurde. Wenn Sie noch mehr aus
dem Urteil hören möchten, kann ich Ihnen noch mehr
vorlesen. Auch wenn es Ihnen nicht recht ist, trage ich
vor – Seite 91 –:
Das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon
ist mit den Anforderungen des Grundgesetzes, insbesondere
mit dem Demokratieprinzip, vereinbar.
Das Wahlrecht … ist nicht verletzt.
Oder auf Seite 93:
Die Europäische Union entspricht demokratischen
Grundsätzen.
Oder:
Die mit den Antrags- und Beschwerdeschriften vorgetragene,
im Mittelpunkt der Angriffe stehende
Behauptung, mit dem Vertrag von Lissabon werde das demokratische Legitimationssubjekt ausgetauscht, ist unzutreffend.
Anderes brauchen wir nicht zu sagen. Jeden dieser
Sätze, die ich verlesen habe, sehe ich als einen knallenden
Schlag ins Gesicht derjenigen auf der linken Seite
dieses Hauses, die sich als Sieger fühlen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wichtig ist auch, dass im Deutschen Bundestag einmal
vorgetragen wird, was der Vorsitzende des Zweiten
Senats, Vizepräsident Voßkuhle, zu Beginn der Urteilsverkündung
gesagt hat. Er sprach von Vorurteilen und
eindeutigen Vorverständnissen, über die das Bundesverfassungsgericht
nicht gerichtet hat. Welche Vorurteile
und Vorverständnisse sind das? Das ist das, was ich am
Anfang schon herausgearbeitet habe: Das sind die Europafeindlichkeit
und die überzogene Europaskepsis, die
es leider auch in diesem Hause gibt. Wenn wir die Akzeptanz
in der Bevölkerung erhöhen wollen, müssen
auch wir uns klar zu Europa und zur europäischen Einigung
bekennen, und diejenigen, die Probleme mit Europa
und der europäischen Einigung haben, dürfen nicht
weiter versuchen, sich als Sieger des gestrigen Tages
darzustellen.
(Beifall bei der SPD)
Ein kleines Detail, Herr Dehm, wenn ich Sie beim Telefonieren
stören darf: Der Prozessbevollmächtigte des
Deutschen Bundestages, Professor Mayer, hat im Ausschuss
gesagt, dass man sich bei Ihnen bedanken kann.
Dazu sage ich: Interessant ist, dass sich Professor Mayer
auf die Frage der Zulässigkeit bezogen hat, auf die
Frage, wann sich eine Oppositionsfraktion an das Bundesverfassungsgericht
wenden kann. Das hatte mit dem
Inhalt, mit der materiellen Frage oder der Begründetheitsfrage
nicht das Geringste zu tun.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das stimmt
nicht! Ausdrücklich auch Militäreinsätze!)
So viel zum selbsternannten, gefühlten Gewinner.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein, das
stimmt nicht! Ausdrücklich auch Militäreinsätze!)
Ich sehe ein Handeln der Bundesregierung – darüber
sind wir uns in diesem Hause einig – nicht als veranlasst
an, Kollege Gauweiler.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Lesen Sie
doch erst einmal das Urteil!)
Für uns ist und bleibt es wichtig, dass wir das Begleitgesetz
ändern und dass wir unsere Geschäftsordnung ändern;
darauf hat noch niemand Bezug genommen.
(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Richtig!)
Ich halte es für zentral, dass wir wichtige Änderungen in
der Geschäftsordnung vornehmen, damit wir unseren
Aufgaben, die uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben
hat, im Rahmen unserer Möglichkeiten nachkommen
können. Das ist für mich die wichtige Botschaft.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
FDP)
Ich halte es für ebenso wichtig und für ein bedeutendes
Signal an die übrigen Mitgliedstaaten, dass Folgendes
zum Ausdruck gebracht wurde: Wir in Deutschland
wollen nach wie vor die europäische Einigung, und wir
möchten, dass unsere befreundeten Mitgliedstaaten mit
uns an der europäischen Einigung arbeiten. Deswegen
ist es unser Ziel, trotz der Wahlen zum 17. Deutschen
Bundestag Ende September dieses Jahres noch im Laufe
dieser Wahlperiode schnell die notwendigen Änderungen
durchzuführen, um dieses Signal, das über unsere
Grenzen hinaus wirkt, zu geben, ein Signal zugunsten
der Einheit Europas und zugunsten dessen, was in der
Präambel des Grundgesetzes schon festgestellt wird:
dem Ziel, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten
Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.
Wir sprechen auf der einen Seite über das Urteil; auf
der anderen Seite sollten wir das, was angegriffen worden
ist, nicht vergessen: den Vertrag von Lissabon. Es
steht uns zu, nochmals darauf hinzuweisen, dass der Reformvertrag
von Lissabon der Europäischen Union die
Fähigkeit verleihen wird, sich den Herausforderungen
des 21. Jahrhunderts zu stellen und im Sinne der Bürgerinnen
und Bürger auf der Basis unserer europäischen
Werte die Europäische Union fortzuentwickeln.
Ich wage eine Prognose, die uns alle betrifft: Wir werden
noch im Laufe der 16. Wahlperiode das Begleitgesetz
und unsere Geschäftsordnung ändern. Aber wir
müssen uns darüber im Klaren sein, dass dies kein statisches
System sein kann, sondern dass wir – das sehe ich
gemäß dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts an
uns alle – darauf Acht geben müssen, dass in der Praxis,
die wir hier im Deutschen Bundestag, aber auch Sie im
Bundesrat dann an den Tag legen, der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen wird, sodass
wir dem Demokratieprinzip immer und unangreifbar
Rechnung tragen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Das Wort hat der Kollege Gunther Krichbaum für die
Unionsfraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der SPD)
Gunther Krichbaum (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kollege Steenblock hat recht: Gestern war ein
guter Tag für die Demokratie. Wenn man den Ausführungen
so mancher Kollegen hier folgt, dann muss man
sich die Frage stellen: Über was streiten wir eigentlich?
Jeder fühlt sich als Sieger. Wenn sich jeder als Sieger
fühlt, dann bin ich für den weiteren Gang der vor uns liegenden
parlamentarischen Beratungen sehr optimistisch.
Denn das kann ja dann alles sehr gut über die Bühne gehen, wenn wir uns in diesen wesentlichen Punkten schon einig sind.
Herr Kollege Gysi, gestatten Sie mir bitte folgenden
Hinweis: Es wäre zum ersten Mal in der Geschichte des
Bundesverfassungsgerichts, dass ein Sieger auf zwei
Drittel seiner Verfahrenskosten sitzen bleibt.
(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Bayern musste alles bezahlen!)
Die Kostenteilung ist hier ein sehr sicheres Indiz; bei
Kollege Gauweiler waren es immerhin 50 Prozent. Diese
Quote zeigt, wie das Bundesverfassungsgericht es sieht.
Derjenige, der sich dafür interessiert, sollte sich einfach
einmal die Kostenverteilung ansehen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das erleichtert, glaube ich, den Überblick.
Es war ein guter Tag für die Demokratie. Warum?
Weil der Vertrag von Lissabon seitens des Bundesverfassungsgerichts
als verfassungskonform angesehen wird.
(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Sehr richtig!)
Wir als Parlamentarier haben schon deshalb Vorteile,
weil der Vertrag von Lissabon unsere Rolle, die Rolle
der nationalen Parlamente aufwertet.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Das Begleitgesetz müssen wir in der Tat neu aufrollen,
aber mit sehr konkreten Vorgaben, die uns Parlamentariern
den Rücken stärken. Deswegen haben wir,
wenn man es so nennen möchte, eine Win-win-Situation:
Die Parlamente sind die Gewinner des gesamten Verfahrens.
Damit meine ich nicht nur das Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht.
Weil wir hier in einer öffentlichen Debatte sind und so
manches, was man den Berichterstattungen der Medien
entnehmen durfte, eher zur Begriffsverwirrung der Bürger
beigetragen hat, möchte ich Folgendes ausführen:
Warum fühlen sich die meisten als Sieger? Ich glaube, es
lohnt sich, einen Blick auf das bisherige Verfahren zu
werfen. Traditionell ist die Außenpolitik der Europäischen
Union stets sehr regierungsgeprägt gewesen. Seit
dem Maastricht-Urteil hat der Deutsche Bundestag seine
Europatauglichkeit aber kontinuierlich verbessert.
Wir haben heute einen Europaausschuss, der sich
nicht nur aus Mitgliedern des Deutschen Bundestages,
sondern auch – und zwar aus guten Gründen – aus Kollegen
des Europäischen Parlaments zusammensetzt. Wir
haben einen Unterausschuss Europarecht. Wir haben die
COSAC-Konferenz, eine Kooperation der nationalen
Europaausschüsse. Wir haben mittlerweile ein Verbindungsbüro
mit Mitarbeitern der Fraktionen und der Bundestagsverwaltung
in Brüssel. Seit zwei Jahren besteht
außerdem eine Zusammenarbeitsvereinbarung zwischen
Bundestag und Bundesregierung. Dieses Parlament hat
kontinuierlich für mehr Rechte gekämpft und diese auch
bekommen. Deswegen betrachten wir die gestrige Entscheidung
als einen Katalysator, der uns hilft, auf diesem
Weg weiterzumachen. Sie können daher sicherlich nachempfinden,
dass wir uns über dieses Urteil freuen.
Es geht aber noch um etwas anderes, das bei dieser
Debatte nicht ganz in Vergessenheit geraten sollte. Bei
aller Betonung der Parlamentsrechte: Wir haben ein großes
Interesse daran, dass unsere Regierung, egal welcher
Couleur, in Brüssel handlungsfähig bleibt. Wir müssen
in Brüssel, in Europa sprechfähig bleiben. Uns wäre
nicht geholfen, wenn Regierungsmitglieder bei jeder
Entscheidung, die von der ursprünglichen Vorgabe abweicht,
in die Maschine steigen und nach Berlin zurückfliegen
müssten, um sich das neuerliche Votum des Parlaments
einzuholen. Das würde die Europapolitik lähmen.
Wir wollen die Europapolitik und Europa gerade mit
dem Vertrag von Lissabon handlungsfähiger machen.
Deswegen wird es bei der Neufassung des Begleitgesetzes
im Kern darum gehen, eine Balance zu finden. Wir
möchten ein austariertes Verhältnis finden zwischen den
berechtigten Interessen der Parlamentarier des Bundestages
und unserem Wunsch nach einer handlungsfähigen
und sprechfähigen Regierung in Brüssel.
(Markus Löning [FDP]: Er ist der Sprecher der
Bundeskanzlerin!)
Ich komme zu den einzelnen Punkten, die Kollege
Gauweiler angesprochen hat. Ja, die Brückenklausel
ging dem Bundesverfassungsgericht zu weit, auch die
Einschränkung beim Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung,
wobei es von Beginn an bei diesem Prinzip
bleiben sollte. In der Summe kann man aber feststellen,
dass das Bundesverfassungsgericht damit aussagen
möchte: Fahrt bitte auf Sicht, gleichsam mit angezogener
Handbremse, auch bei der europäischen Integration,
wenngleich die europäische Integration erstmals als ausdrückliches
Verfassungsziel postuliert wurde.
Man muss allerdings auch einen Blick auf das Bundesverfassungsgericht
selbst werfen, das sich in einem
ständigen Konkurrenzverhältnis zum EuGH sieht. Deswegen
haben auch ein Bundesverfassungsgericht und die
dortigen Richter ein elementares Interesse daran, dass
ihre eigenen Rechte gewahrt bleiben. In diesem Zusammenspiel
ist das Urteil sicherlich auch zu sehen. Es ist
ein Grundsatzurteil und wird weit über den gestrigen Tag
hinaus wirken. Es ist vielleicht noch bedeutender als das
Maastricht-Urteil.
Ich möchte noch eines aufgreifen, was Kollege
Gauweiler in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel
gesagt hat. Ich zitiere – –
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollege Krichbaum, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dr. Gysi?
Gunther Krichbaum (CDU/CSU):
Danach.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Sie holten keine Luft. Ich hatte keine Möglichkeit,
zwischen Ihren Sätzen etwas zu sagen.
Gunther Krichbaum (CDU/CSU):
Sie wundern sich, für wie viel frischen Wind wir hier
sorgen können.
Das Zitat des Kollegen Gauweiler lautet:
Das Urteil werde die „europäische Gesinnung“ der
Bürger stärken und damit eine „proeuropäische,
volkspädagogische Wirkung“ haben.
Mit dem Wort Volkspädagogik, das der Kollege
Gauweiler benutzt hat, tue ich mich etwas schwer. Aber
wenn das Urteil zu einem dient, dann mit Sicherheit
dazu, dass die Akzeptanz der Bürger in Bezug auf die
europäische Integration nach dem gestrigen Urteil und
dem Ausspruch, dass der Vertrag von Lissabon der Verfassung
entspricht, steigen wird. Die Bürger können sich
fortan darauf verlassen, dass die Verfassungstauglichkeit
und die Verfassungsgemäßheit dieses Vertrages – gleichsam
wie durch den TÜV – bestätigt wurden. Das fördert
die Akzeptanz der Bürger auch in die europäische Integration.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Bitte.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Kollege, da hier immer wieder darüber diskutiert
wird, ob es seitens des Bundesverfassungsgerichts bezüglich
der Frage eines Einsatzes der Bundeswehr irgendeine
Art von Korrektur gegeben hat, möchte ich Sie
fragen, ob Sie mir bestätigen können, dass auf den
Seiten 135 und 136 des Urteils ausgeführt wurde, dass es
eine Bestimmung gibt, nach der, falls ein Mitgliedsland
überfallen wird, die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in
ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung im Einklang
mit Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen
schulden, und dass dann dargelegt wird, warum diese
Regelung für Deutschland nicht ohne einen Beschluss
des Bundestages gilt.
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der
SPD – Zuruf von der SPD: Weil wir einen Parlamentsvorbehalt
haben! Das ist doch eine
ganz alte Kiste! Das sollten Sie aber wissen,
Herr Kollege!)
– Lassen Sie mich doch einmal zu Ende reden! – Können
Sie mir also bestätigen, dass das Bundesverfassungsgericht
durchaus akzeptiert hat, dass es eine Bestimmung
gibt, die man auch anders hätte verstehen
können
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wir haben sie
nie anders verstanden! – Weiterer Zuruf von
der CDU/CSU: Nein! So war das nicht gemeint!
Niemals!)
– es gab übrigens auch den Willen, sie anders zu verstehen
–, dass man dem aber einen Riegel vorgeschoben
hat?
(Markus Löning [FDP]: Was ist das denn für
ein Verfassungsverständnis?)
Gunther Krichbaum (CDU/CSU):
Herr Kollege Gysi, ich habe das Urteil, das 147 Seiten
umfasst, nicht über Nacht auswendig gelernt. Ich habe es
aber gelesen. Wenn Sie das Urteil genau lesen, werden
Sie auf eine Passage stoßen, in der das Bundesverfassungsgericht
darauf hinweist, dass die im Vertrag von
Lissabon vorgesehene gegenseitige Beistandspflicht
über die Regelungen, die wir ohnehin schon haben, nicht
hinausgeht.
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es! –
Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Richtig!)
In genau diesem Kontext und in diesem Licht ist das
Ganze zu sehen. Parlamentsvorbehalte gab es schon in
der Vergangenheit. Insofern wird durch den Vertrag von
Lissabon keine neue Situation geschaffen.
(Markus Löning [FDP]: Ja! So ist es!)
Infolgedessen gelangt das Bundesverfassungsgericht in
diesem Punkt völlig zu Recht zu dem Schluss, dass der
Vertrag von Lissabon der Verfassung entspricht.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Herr Gysi, Sie
sollten das Urteil lieber einmal etwas genauer
lesen!)
Wie wird es nun weitergehen? Der Europaausschuss
wird mehrere Sondersitzungen durchführen, und wir
werden das weitere Verfahren konkret ausgestalten.
Ende August dieses Jahres wird dann die erste Lesung
im Deutschen Bundestag anstehen. Es ist eine reine
Selbstverständlichkeit, dass dieses Gesetz dann aus der
Mitte des Bundestages eingebracht werden sollte. Alles
andere widerspräche dem Geist des gestrigen Urteils.
Natürlich wird es immer gerne gesehen, wenn, wie es
auch heute geschehen ist, seitens der Bundesregierung
Formulierungshilfe angeboten wird.
(Markus Löning [FDP]: Nein! In diesem Fall
nicht!)
Aber dieser konkrete Fall ist die Stunde des Parlaments,
und es geht um die Rechte des Parlaments. Ich glaube,
wir tun sehr gut daran, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zu berücksichtigen und die Maßgaben
im neuen Begleitgesetz eins zu eins abzubilden.
Unbestritten ist, dass wir unter Zeitdruck stehen. Deswegen
muss das Ganze jetzt zügig über die Bühne gehen.
Wenn wir das nicht mehr in dieser Legislaturperiode
schaffen, können wir im Hinblick auf das Referendum,
das in Irland noch durchgeführt werden muss, keinen
positiven Impuls mehr geben. Hinzu kommt, dass wir
nicht wissen, wie sich die Situation in Großbritannien
weiterentwickeln wird. Es gibt übrigens auch Zeiten, in denen ein Christdemokrat für die Gesundheit eines Labour-Ministerpräsidenten in Großbritannien betet.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
In diesem Sinne sage ich zum Schluss: Ich bin zuversichtlich,
dass es uns, wenn wir zügige Beratungen
durchführen, gelingt, das notwendige Begleitgesetz und
den Vertrag von Lissabon auf den Weg zu bringen, damit
Europa erfolgreich in seine Zukunft gehen kann.
Danke.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache.
Quelle: www.bundestag.de (pdf-Datei, externer Link)
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