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Europäischer Ferienfleiß im Bundestag

Die Ratifikation des Lissabonner Vertrags soll durchgeboxt werden

Von Gregor Schirmer *

In den letzten Wochen wurde es unter Hochdruck ausgehandelt, heute berät der Bundestag zum ersten Mal darüber: das neue Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag.

Die Bundestagsabgeordneten werden heute (26. Aug.) die vom Bundesverfassungsgericht zum Thema Lissabon-Vertrag verhängte Strafarbeit in erster Lesung abliefern. Zur Erinnerung: Die Karlsruher Richter hatten zwar im Urteil vom 30. Juni erklärt, dass zum EU-Vertrag »keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken« bestehen. Bedenken hingegen hatten sie gegen das EU-Begleitgesetz. Es wurde insoweit für verfassungswidrig erklärt, als die Beteiligungsrechte des Bundestages und Bundesrates in der EU-Politik nicht ausreichend sind. Bundesregierung und Bundespräsident wurde verboten, die Ratifikationsurkunde abzuschicken, bevor die Rechte des Parlaments neu ausgestaltet sind.

Die zuständigen Abgeordneten verfielen in außergewöhnlichen Fleiß. Statt des einen vom Gericht monierten Gesetzes liegen jetzt gleich vier von den Koalitionsfraktionen gezimmerte Gesetzentwürfe vor. Umfang: 38 Seiten. Sprache: für normale Bürger unverständlich. Eine öffentliche Diskussion gab es nicht.

Das erste Gesetz soll die Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der EU ausweiten. Es legt fest, in welchen Fällen die Regierung für ihr Abstimmungsverhalten in Brüssel ein Gesetz oder einen Beschluss des Bundestags und gegebenenfalls des Bundesrats braucht. Peinlichst vermieden wurde dabei, auch nur in einem Pünktchen über die unumgehbaren Mussvorschriften des Gerichts hinauszugehen und weiteren demokratiefreundlichen Anregungen aus dem Urteil zu folgen. Von der wilden Entschlossenheit der CSU, das Urteil nach Treu und Glauben umzusetzen, ist nichts übrig geblieben. Die Hinweise des Gerichts etwa auf die Ergänzungsbedürftigkeit der parlamentarischen Demokratie »durch plebiszitäre Abstimmungen« wurden in den Wind geschlagen. Völkerrechtliche Vorbehalte, die das konstitutive Entscheidungsrecht des Bundestages über Einsätze der Bundeswehr bestätigen und dem Vorrang jedweden Europarechts vor jedwedem Bundesrecht, also auch vor dem Grundgesetz, widersprechen, werden nicht für nötig erachtet.

Zwei weitere Gesetze regeln die Zusammenarbeit von Regierung und Bundestag sowie von Bund und Ländern in Angelegenheiten der EU. Eines ist sicher: Das Parlament wird von der Regierung mit einer Papierflut ohnegleichen überschwemmt werden. Auf dem Gebiet der EU-Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik darf dafür nur ein schmales Bächlein von Informationen fließen. Der Bundestag und gegebenenfalls der Bundesrat können zur Mitwirkung der Regierung an EU-Vorhaben Stellungnahmen abgeben. Die Bundesregierung, so heißt es, legt diese in ihren Verhandlungen zugrunde. Wenn es um Rechtsakte der EU geht, muss die Regierung einen »Parlamentsvorbehalt« einlegen, falls der Beschluss des Bundestags »in einem seiner wesentlichen Belange nicht durchsetzbar ist«. Aber dann kommt der Pferdefuß: »Das Recht der Bundesregierung, in Kenntnis der Stellungnahme des Bundestages aus wichtigen außen- oder integrationspolitischen Gründen abweichende Entscheidungen zu treffen, bleibt unberührt.« Das heißt: Im Streitfall entscheidet die Regierung doch, was sie will. Das widerspricht der Intention des Bundesverfassungsgerichts.

Es ist im Vorfeld der heutigen Bundestagssitzung viel herumgeredet worden, dass die »Handlungsfähigkeit« der Bundesregierung in Brüssel nicht eingeschränkt werden dürfe. Das Parlament wird als mögliches Hindernis statt als Grundlage exekutiver Handlungsfähigkeit gesehen. Im übrigen kann sich jede Regierung ohnehin kraft ihrer Parlamentsmehrheit die für ihren Verhandlungsspielraum in Brüssel nötigen Beschlüsse besorgen.

Das vierte Gesetz regelt, wie eine Zuständigkeitsklage beim EU-Gerichtshof erhoben werden kann. Kleine Fraktionen sollen ein solches Recht nicht bekommen. Die Linksfraktion hat ein fünftes Gesetz vorgelegt. Sie will die innerstaatlichen Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts durch eine Grundgesetzänderung absichern.

Die Begleitgesetze sollen noch im September in Kraft treten. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht keine Fristen vorgeschrieben. Die Bedeutung der Sache würde eher dafür sprechen, die Entscheidung dem neu gewählten Bundestag zu überlassen. Es gibt keinen Grund für die parlamentarische Hast, außer, die störrischen Iren bei der zweiten Volksabstimmung über den Lissabon-Vertrag im Oktober zu einem Ja zu verführen.

* Aus: Neues Deutschland, 26. August 2009


Der Folketing bindet die Regierung

In Dänemark ist Praxis, was in Deutschland undenkbar erscheint

Von Andreas Knudsen, Kopenhagen **

In Dänemarks sind Stellungnahmen des Parlaments zu Rechtsakten der EU verbindlich - ohne erkennbaren Nachteil für die Handlungsfähigkeit der Regierung, die sich auf die parlamentarische Mehrheit stützen kann.

Schon der Gründungsvertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957 spricht von einer sich ständig vertiefenden Union der Mitgliedsstaaten. Dieses Prinzip wurde 1992 im Maastricht-Vertrag bestätigt und löste zum ersten Mal in der Geschichte der EU ein Nein in einem Mitgliedsland aus: Die dänische Bevölkerung verwarf den Vertrag in einem Volksentscheid. Er konnte schließlich 1993 nur in Kraft treten, indem Dänemark Ausnahmen zugestanden wurden.

Um dem Wunsch der Bevölkerung wie auch der einheimischen Parlamentarier nach Kontrolle der europäischen Politik nachzukommen, intensivierte der Europaausschuss des dänischen Folketing (Parlament) seither seine Arbeit. Er bezieht zu allen Fragen Stellung, bevor ein Minister oder der Ministerpräsident nach Brüssel reisen. Dieses Mandat bindet ihn bei den Verhandlungen über eine Direktive oder Verordnung. Dieses Verfahren, das es so ähnlich auch in Finnland und Österreich gibt, war in Dänemark schon länger üblich und wurde 2004 formal beschlossen.

Für die 17 EU-Ausschussmitglieder allein wäre die Vielzahl der Themen nicht zu schaffen. Vorbereitet wird ihre Entscheidung deshalb in den Fachausschüssen. Hier haben die Fraktionen die Möglichkeit, die Beschlussfassung für das Verhandlungsmandat eines Ministers frühzeitig zu beeinflussen. Die Ausschussmitglieder haben Zugang zu allen relevanten Unterlagen, auf denen der Regierungsvorschlag basiert.

Zeichnet sich eine parlamentarische Mehrheit für Änderungen der Regierungsvorlage ab, werden diese entsprechend eingearbeitet. Die Ausschussmitglieder haben diesen Einfluss ohne zusätzliche parlamentarische Debatte, da die Folketingabgeordneten in den allermeisten Fragen eine hohe Fraktionsdisziplin zeigen. Die Risiken bei diesem Verfahren für die Regierung sind überschaubar. Mit einer klaren Mehrheit im Rücken - wie in Dänemark in den letzten acht Jahren - ändert sich in der Regel nur wenig an ihrer Vorlage. Wird der dänische Vertreter in Brüssel überstimmt, muss er den Ausschuss darüber informieren.

Deutliche Grenzen sind dänischen Ministern durch die zum Maastricht-Vertrag hinterlegten Vorbehalte gesetzt. Auf einigen Gebieten wie Verteidigung und rechtliche Zusammenarbeit haben sie daher kaum Einfluss auf europäische Entscheidungen. In Dänemark werden die Vorbehalte mittlerweile zum Teil als hinderlich für die Durchsetzung von Interessen in der EU angesehen. Sie könnten nur durch eine neuerliche Volksabstimmung aufgehoben werden. Die ist jedoch nicht in Sicht, auch wenn darüber gelegentlich diskutiert wird.

** Aus: Neues Deutschland, 26. August 2009


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