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Europa. Kein Bürgermärchen

"Ja" oder "Nein" zum EU-Verfassungsvertrag?

Von Elmar Altvater*

2005 ist ein Schicksalsjahr für die EU - es entscheidet über Erfolg oder Misserfolg einer europäischen Verfassung. Die dazu in acht EU-Staaten anberaumten Referenden könnten dazu führen, dass der Verfassungsvertrag endlich öffentlich debattiert wird, wie das seinem Stellenwert für die Zukunft der Union entspricht. Allerdings werden in Deutschland und den meisten EU-Ländern allein die Parlamente ihr Votum abgeben - der eurokratischen Entstehung der Verfassung folgt deren bürgerferne Absegnung.

Ein Verfassungskonvent hat einen Verfassungsvertrag vorgelegt, der von den Regierungen der EU ein Jahr später angenommen wurde. Bis 2006 soll dieser Vertrag nun ratifiziert werden. In den meisten der 25 Mitgliedsstaaten stimmen die Parlamente ab, in acht Ländern wird es Referenden geben. In Spanien haben bereits am 20. Februar 76,7 Prozent zustimmend votiert, allerdings bei einer Beteiligung von nur 42 Prozent.

Von besonderem Gewicht ersche! int das Plebiszit in Frankreich am 29. Mai, zeichnet sich doch nach jüngsten Umfragen eine Mehrheit des "Non" ab. In Deutschland hingegen wird jedes Risiko ausgeschlossen, indem die Wähler nicht befragt werden, sondern noch vor dem 29. Mai Bundestag und Bundesrat über die EU-Verfassung befinden und mit einem klaren "Ja" ein Signal nach Frankreich senden wollen. In diese Botschaft von Berlin nach Paris werden zivilgesellschaftliche Organisationen aus ganz Europa hineinfunken, mit einem deutlichen "Nein" zum Verfassungsvertrag. Warum? Was spricht gegen eine "Verfassung für Europa"?

Zunächst einmal gar nichts, im Gegenteil. Doch ein "Verfassungsvertrag" ist ein Widerspruch in sich, ein Oxymoron. Eine Verfassung wächst aus einem gemeinschaftlichen Konsens, ungeschrieben wie in der englischen Tradition oder wie in Kontinentaleuropa als "Grundgesetz" kodifiziert. Dass eine Verfassung wie der Kauf eines Autos durch Vertrag zwischen Rechtssubjekten, den 25 EU-Mitgliedsstaaten nämli! ch, zustande kommen soll, hat zwei Gründe. Der erste scheint trivial, verweist aber bereits auf ein ernsthaftes Manko. Der Verfassungsvertrag hat nämlich 448 Artikel und dazu etwa 300 Seiten Protokolle, Anhänge und Erklärungen, die Bestandteil des Vertrages sind. Die Verfassung kann daher - dank ihrer eurokratischen Entstehung - kaum als besonders transparent und bürgerfreundlich bezeichnet werden. Hätte der Innenminister Höcherl aus der Adenauer-Ära seinen berühmten Satz: "Man kann doch nicht immer mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen" auf den Verfassungsvertrag der EU bezogen und nicht auf das deutsche Grundgesetz - man hätte ihn verstehen können.

Der zweite Grund ist prinzipieller Natur. Die EU hat sich durch wiederholte Erweiterung geographisch fast über den gesamten Kontinent ausgedehnt, von Finnland bis Portugal, von Zypern bis Irland, doch hat diese Integration zwei Gesichter, die sich im Verfassungsvertrag spiegeln. Durch Deregulierung und einen verstär! kten Handel auf liberalisierten Märkten hat eine Art "negativer Integration" - durch die Bildung von europäischen Institutionen eine "positive Integration" stattgefunden. Dieser Prozess kam bisher ohne eine europäische Verfassung aus, denn die Verträge von Rom, Maastricht, Amsterdam oder Nizza haben die Integration und die Arbeit der Institutionen reguliert. Deren Regelungen sind großteils in den Verfassungsvertrag übernommen worden. Doch eine lebendige Verfassung, die als Krönung des Integrationsprozesses zu betrachten wäre - als eine konsensuale Konstitution europäischer Identität - kommt nicht durch die Ratifikation eines Vertrags zustande, in den andere Verträge Eingang finden. Eine solche Verfassung kann nur der Entscheidung des Souveräns zu verdanken sein - den Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union.

Die Verfassung schreibt im wesentlichen die "negative Integration" fest. Die Kriterien des Maastricht-Vertrags und des Stabilitätspaktes von 1997 erhalten Verfassungsrang (III-178 bis III-184). "Vorrangig" ist das Ziel der "Preisstabilität" (I-3, I-30, III-177, 185), auch um der internationalen Wettbewerbsfähigkeit willen (III-185). Die Etablierung der Marktfreiheiten (III-130), eines Eigentumsrechts ohne soziale Bindungen (II-77), des "Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" (III-177, III-178) und die Verpflichtung auf weltweiten Freihandel (III-314) runden die neoliberale Ausrichtung ab. Die Beschäftigungs- und Sozialpolitik wird daher konsequent den "Grundzügen der Wirtschaftspolitik" untergeordnet (III-206, 179). Ein "sozialer Dialog" ist zwar vorgesehen (I-48; III-211), doch Mitbestimmungsrechte gibt es nicht (II-87).

Der Verfassungsvertrag entspricht in hohem Maße der von Friedrich August von Hayek in den frühen sechziger Jahren beschriebenen "Verfassung der Freiheit": Ein starker Staat soll die genannten Freiheiten sichern, doch Ungleichheiten darf dieser Staat nicht korrigieren - dazu ! fehlt der Verfassungsauftrag. Rechts- und Machtstaat ja, Sozialstaat nein. Da werden Erinnerungen an die Debatte aus den fünfziger Jahren wach, als es um das Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes ging.

Auch die Europäische Zentralbank (EZB) wird durch die Verfassung auf diese Doktrin verpflichtet, wie sie schon im Maastricht-Vertrag formuliert ist (III-185-202, III-198). Daher wird es noch schwieriger als es bisher schon ist, eine Politik zu ändern, die mit ihren rigiden Vorgaben für Budgetdefizite und Neuverschuldungen über Europas Wirtschaft den Mehltau der Stagnation gelegt hat und mitverantwortlich dafür ist, dass Millionen Menschen ihre Arbeit verloren haben.

Stellen wir uns vor, die SPD würde Konsequenzen aus Münteferings Kapitalismus-Schelte ziehen und nicht nur qualmende Rhetorik verbreiten - sie würde also eine Keynesianische Beschäftigungspolitik auch um den Preis der Verletzung des Stabilitätspaktes verfolgen (wovor sie Müntefering wohl bewahren wird) - da! nn könnte ein solcher Kurs nach der Ratifizierung des Verfassungsvertrags als verfassungsfeindlich ausgelegt werden. Mit anderen Worten, was als "freiheitlich-demokratische Grundordnung" firmiert, findet im europäischen Verfassungsraum auf einem schmalen Handtuch Platz.

Mit Blick auf eine europäische Sicherheitspolitik verpflichtet die Verfassung dazu, die "militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" (I-41, Abs. 3), und verlangt eine Rüstungsagentur "für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung", um "zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors" durchzusetzen (III-311). Das ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Man muss sich fragen, warum gehört die Verpflichtung zur Aufrüstung in eine Verfassung? Außerdem liest sich der Artikel III-311 wie ein Verfassungsgebot zur Subventionierung von Rüstungsunternehmen und ist damit verfasster "Stamokap" pur.

Schließlich fragt man sich nach dem Bedrohungsszenario, das eine Rüstungsagentur oder eine verbesserte Rüstungstechnologie rechtfertigt. Die EU ist ja "von Freunden umzingelt" und für den "Kampf gegen den Terrorismus" reichen die herkömmlichen Waffensysteme. Doch in Artikel III-309 ist ein ganzer Katalog von "Missionen" aufgeführt, bei denen die Union "auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann". Einsätze, die im Übrigen nicht durch die UNO mandatiert sein müssen (III-310, Abs. 1) und in "Drittländern" stattfinden können.

Die EU stellt sich damit als neuer Weltpolizist auf, um zerrüttete Staaten zur Räson zu bringen, den globalen Freihandel, die Energieversorgung und die Menschenrechte zu sichern oder bei "humanitären Katastrophen" einzugreifen. Das alles ist zwar heute schon möglich - künftig aber soll es unter dem Dach einer europäischen Verfassung geschehen. Die politischen Diskurse haben mit den "Missionen" gegen den Irak 1991, gegen Jugoslawi! en 1999, Afghanistan 2001 und noch einmal gegen den Irak 2003 Rechtfertigungen produziert, die es nun erlauben, den nächsten Zug zu machen: Die Idee einer "Friedensmacht" Europa - nach dem Ende des Kalten Krieges propagiert - wird zu Grabe getragen, und der Sargdeckel durch die Verfassung beschwert.

Eine Verfassung soll sich durch Offenheit gegenüber der Zukunft und eine möglichst breite Zustimmungsfähigkeit für Menschen aus verschiedenen Ländern, Klassen und Religionen auszeichnen. Letzterem dient die Benennung von Grundrechten der europäischen Bürgerinnen und Bürger aus dem Vertrag von Nizza (Teil II). Doch viele dieser Rechte werden dadurch entwertet, dass sie "dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet" (Art III 177-185) sind und sich diesem Generalvorbehalt unterzuordnen haben. Es ist insofern nur konsequent, wenn den europäischen Bürgern anstelle eines "Rechts auf Arbeit" nur das "Recht zu arbeiten" gewährt (II-75) wird. Obendrein we! rden die Grundrechte in der EU-Grundrechtscharta durch beigefügte Erläuterungen ausgehöhlt und ihrer Wirksamkeit beraubt (s. II-112, 7, Erklärung Nr. 12).

Dass der Verfassungsvertrag Verfassungsfragen und politische Projekte vermischt, heißt im Klartext: der Versuch, das neoliberale Projekt mit Verfassungsrang auszustatten, hat zur Folge, dass sich die Gegner bestimmter Momente der EU-Politik - etwa die Kritiker der Bolkestein-Richtlinie - gegen die Verfassung wenden müssen, auch wenn sie eine europäische Verfassung im Prinzip befürworten. Verliert Wirtschaftspolitik damit nicht jede Flexibilität, auf globale Herausforderungen oder konjunkturelle Entwicklungen angemessen zu reagieren? Kann Sicherheit gegen äußere Bedrohungen nicht eher durch gemeinsame Abrüstung als einseitige Aufrüstung erreicht werden? Der Konvent und die Regierungschefs der 25 EU-Staaten haben sich diesen Fragen strikt verweigert. Ihnen scheint es vorrangig darum gegangen zu sein, das "alte Europa" mit Hi! lfe des Verfassungsvertrags auf die neoliberale Linie des "neuen Europas" zu bringen.

Für eine Nicht-Ratifizierung gibt es also gute Gründe und die sind weder anti-europäischer noch neonationalistischer Natur. Darin unterscheidet sich die Kritik, die von der Linken kommt, von rechten Verfassungsgegnern, denen es um die Erhaltung von nationaler Souveränität geht. Die Annahme des vorliegenden Verfassungsvertrags wäre allein schon deshalb fatal, weil eine Krise des neoliberalen Projekts, die absehbar ist, sofort zur Verfassungskrise würde; denn die Verfassung erlaubt keine Alternativen. Entweder schränkt sie den Raum für Alternativen in unzumutbarer Weise ein und erdrosselt jede Initiativen oder aber sie erweist sich als ein Kilo Papier, an dessen Vorschriften sich niemand halten kann. Dies wäre ein "Nein" der Geschichte zum Verfassungsvertrag. Besser wären ein (selbst)bewusstes "Nein" in den Parlamenten wie bei den Referenden und eine EU-Verfassung, die ihre Entstehung einer ! breiten Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger verdankt.

Referenden zur europäischen Integration

(eine Auswahl [1])

Land, DatumGegenstandJa-Anteil (in Prozent)
Frankreich,
23. April 1972
EWG-Erweiterung68,3
Norwegen,
24. - 26. September 1972
EG-Beitritt46,5
Dänemark,
2. Oktober 1972
EG-Beitritt63,3
Großbritannien,
5. Juni 1975
EG-Mitgliedschaft67,2
Grönland,
23. Februar 1982
EG-Mitgliedschaft45,9
Dänemark,
3. Juni 1992
Maastricht-Vertrag47,9
Frankreich,
20. September 1992
Maastricht-Vertrag51,1
Dänemark,
18. Mai 1993
Maastricht-Vertrag56,8
Norwegen,
28. November 1994
EU-Beitritt47,8
Schweiz,
8. Juni 1997
EU-Beitrittsverfahren25,9
Irland,
7. Juni 2001
Vertrag von Nizza46,1
Slowenien,
23. März 2003
EU-Beitritt89,2
Polen,
7./8. Juni 2003
EU-Beitritt77,4
Schweden,
14. September 2003
Beitritt zum Euro-Gebiet41,8
Lettland,
20. September 2003
EU-Beitritt67,0

[1] Bisher gab es 40 Referenden in den Staaten Europas, die auf die eine oder andere Weise mit Entscheidungen über Integrationsschritte innerhalb der EU in Verbindung standen.

* Aus: Freitag 17, 29. April 2005


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