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Die USA sind für die EU kein Rettungsanker

Handelsexperte der Linksfraktion im Europaparlament: Transatlantisches Freihandelsabkommen soll Dominanz in der Welt sichern *


Mit dem Freihandelsabkommen EU-USA (Transatlantic Trade and Investment Partnership – TTIP) soll einer der stärksten gemeinsamen Märkte entstehen. Kritiker fürchten, in der weltgrößten Freihandelszone könnte die EU Standards im Beschäftigungs-, Verbraucherschutz- oder Umweltbereich ganz aufgeben. Mit dem EU-Parlamentarier und Handelsexperten der Linksfraktion Helmut Scholz sprach Uwe Sattler über die TTIP.

Das Mandat für die Verhandlungen über ein transatlantisches Freihandelsabkommen ist beschlossen. Warum hat die Linksfraktion im EU-Parlament diesen »Gesprächsauftrag« abgelehnt? TTIP könnte doch Zehntausende Arbeitsplätze schaffen.

Das sind Schätzungen, die die Bertelsmann-Stiftung und das Ifo-Institut vorgelegt haben. Ich halte sie für übertrieben optimistisch. So geht die Bertelsmann-Studie davon aus, dass durch das Abkommen der Handel um 80 Prozent zunehmen würde, weil das angeblich der gemessene Durchschnittseffekt von Handelsabkommen sei. Überprüfen wir das am Abkommen mit Korea, so stellen wir einen Anstieg um nur 35 Prozent fest, während im gleichen Zeitraum der Handel mit allen anderen um 25 Punkte wuchs. Das Abkommen brachte netto also nur zehn Prozent Steigerung. Für Deutschland war das gut, für Frankreich schlecht, denn dort brachte die erleichterte Einfuhr koreanischer Autos eine schwere Krise für Peugeot und kostete viele Arbeitsplätze. Wenn Bertelsmann dann auch noch behauptet, durch das Abkommen würden die Löhne in Griechenland steigen, dann ist das einfach nicht mehr seriös. Richtig ist hingegen die Beobachtung der Studie, dass, wenn ein größerer Anteil am Welthandel künftig zwischen USA und der EU stattfindet, alle anderen Weltregionen Einbußen erleiden. Osteuropa, Afrika und Lateinamerika wären die Verlierer.

Das ist aber nur ein Blick auf nüchterne Zahlen.

Es ärgert mich, dass beide Studien bestimmte Regeln und Gesetze, die wir haben, einfach nur als schlecht für den Handel abtun. Wenn die Bevölkerung in Europa will, dass es auf die Verpackung geschrieben werden muss, wenn genveränderte Substanzen in dem Nahrungsmittel stecken, dann ist das Ausdruck unserer politischen Kultur und eine Errungenschaft. Zudem muss man gerade beim Verhandlungsmandat für die TTIP die aus bisherigen Erfahrungen mit Freihandelsabkommen gewachsenen Sorgen der Menschen berücksichtigen: Wie sieht es zum Beispiel mit dem Schutz vor Genmanipulation in der Landwirtschaft aus, wie entwickelt sich der Daten- und Verbraucherschutz oder kommt es zur Zulassung von Fracking? Das sind Aspekte, die sowohl von Rat und Kommission als auch von Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen im Europäischen Parlament ignoriert wurden. Wir konnten als kleinen Teilerfolg einen Antrag durchbringen, der die Herausnahme der Bereiche Kultur und audiovisuelle Medien aus dem Verhandlungsmandat zur Folge hatte. Solche »rote Linien« sind aber auch auf zahlreichen anderen Feldern notwendig.

US-Außenminister John Kerry sagte, er freue sich auf die Verhandlungen. Freuen Sie sich gar nicht? Sie sind doch Mitglied der USA-Delegation des Parlaments.

Wir haben es mit dem von beiden Seiten politisch gewollten Versuch zu tun, die zwei weltgrößten Märkte – sehen wir vom chinesischen Binnenmarkt ab – miteinander so zu verzahnen, dass ein gemeinsamer Wirtschaftsraum entsteht, der die Wirtschafts- und Finanzpotenziale der EU und der USA zusammenführt. Und das geschieht vor dem Hintergrund einer sehr widersprüchlichen, von vielen Krisenprozessen gezeichneten Entwicklung in der EU und den USA. Der transatlantische Markt soll zugleich Antwort auf eine weltwirtschaftliche Situation sein, die von den wirtschaftlichen Aufholprozessen der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und weiterer Schwellenländer wie Südkorea, Mexiko, der Türkei, Kolumbien und Chile oder der ASEAN-Staaten gekennzeichnet ist. Die bisherige wirtschaftliche Dominanz von USA und EU, damit mittelfristig auch deren politisches Gewicht, wird und ist infrage gestellt.

Es geht also um den Erhalt von Vorherrschaft?

Tatsächlich steht mit TTIP die Frage: Kann durch eine »einfache« Vergrößerung der Märkte bei Festhalten an neoliberaler Wirtschaftspolitik die alte Rolle der USA, und in deren Fahrwasser auch der EU, vor allem ihrer wirtschaftlich und finanzpolitisch stärksten Mitgliedstaaten, als Ordnungsmacht gegenüber dem »Rest der Welt« einfach fortgesetzt werden? Oder muss nicht viel eher eine neue Perspektive für weltwirtschaftliche Zusammenarbeit eröffnet werden, die Antworten für viele globale Herausforderungen aufzeigen könnte?

Die Krise in den USA hat deren Rolle als Ordnungsmacht aber bereits geschwächt.

Die Intentionen, die sich mit der TTIP verbinden, kommen natürlich aus einer problematischen wirtschaftlichen und finanzpolitischen Stellung der USA und auch der EU. Es ist ja keine neue Idee, und gerade die konservativ regierten EU-Staaten drängten seit Langem auf ein solches Abkommen. Aber erst mit Präsident Obamas Rede zur Lage der Nation im Februar kam grünes Licht aus Washington. Die USA verorten sich offensichtlich neu. Zum pazifischen Pfeiler mit den Verhandlungen zu einem »Transpazifischen Handelsabkommen« kommt nun der transatlantische hinzu. Die USA wollen verloren gegangene Wirtschaftsstärke durch die Einbindung anderer Partner kompensieren.

Und die EU?

Natürlich ist auch die EU an solchen Verankerungen interessiert. Davon zeugen die geschlossenen oder im Verhandlungsprozess befindlichen 70 bilateralen oder bi-regionalen Handels-, Wirtschaftspartnerschafts- und Investitionsabkommen. In ihrer gegenwärtigen Verfasstheit sind die USA für die EU aber auch nicht der Rettungsanker. Was sich abzeichnet, ist lediglich für beide Seiten die Fortsetzung der bisherigen Politik mit erweiterten Mitteln.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 21. Juni 2013


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