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Zu hohe Erwartungen? Vor dem EU-Gipfel zur Verteidigungspolitik

Interview mit Christian Mölling, Stiftung Wissenschaft und Politik (NDR-Sendung "Streitkräfte und Strategien")


Andreas Flocken (Moderator):
Gipfeltreffen der Europäischen Union sind bereits seit langem Routine. Wenn allerdings in der kommenden Woche die Staats- und Regierungschefs in Brüssel zusammenkommen, dann ist das diesmal etwas Besonderes. Denn auf diesem EU-Gipfel soll es um die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehen. Ein Gebiet, auf dem es seit Jahren viele Versäumnisse und große Defizite gibt. Denn beim Thema Streitkräfte wird noch immer vor allem in nationalen Kategorien gedacht.

Hierüber habe ich Christian Möllling von der Stiftung Wissenschaft und Politik gesprochen. Zunächst habe Christian Mölling gefragt, ob ein solcher EU-Gipfel nicht viel zu spät kommt und längst überfällig ist:


Interview Andreas Flocken / Dr. Christian Mölling

Mölling: Ja, der Gipfel war lange überfällig. Der Gipfel bedeutet, dass sich die Staats- und Regierungschefs selbst einmal mit dem Thema Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa auseinandersetzen. Das hat es seit 5 Jahren schon nicht mehr gegeben, dass man auf der höchsten politischen Ebene sich über diese Fragen zumindest einmal unterhält und ein paar Beschlüsse fasst.

Flocken: Und welche Erwartungen haben Sie an den Gipfel?

Mölling: Meine persönlichen Erwartungen oder meine Erwartungen als Wissenschaftler sind mittlerweile relativ gering. Auch wenn wir viel dafür plädiert haben, dass bei diesem Gipfel wegweisende Entscheidungen getroffen werden, die Staats- und Regierungschefs sehen zwar auf der einen Seite ein, dass dringend große Entscheidungen getroffen werden müssen. Sie sind aber noch nicht richtig guten Mutes, diese Entscheidungen zu treffen. D.h. also, das, was bei dem Gipfel wahrscheinlich rauskommen wird, wird viel Kleinkram sein.

Flocken: Wo sind denn Ihrer Meinung nach die entscheidenden Defizite der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Können Sie da ein paar Beispiele nennen?

Mölling: Wir haben derzeit noch 1,5 Millionen Soldaten. Die Zahl sinkt rapide. Dass die Zahl sinkt, ist kein Problem. Das Problem ist, dass die Armeen mittlerweile nicht mehr all das haben, was sie eigentlich brauchen. Das könnte man regeln. Die Tatsache, dass nicht mehr jedes Land Kampfpanzer, Flugzeuge oder Fregatten hat, das ist ja erst mal kein Problem. Aber man müsste sich besser organisieren. Und das schaffen wir zurzeit in Europa noch nicht.

Flocken: Nun tagen die Außen- und Verteidigungsminister der EU ja schon seit Jahren immer wieder regelmäßig zusammen. Wir haben mit Catherine Ashton auch eine Hohe Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik. Aber warum können diese ganzen Personen nicht die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik entscheidend voranbringen?

Mölling: Es gibt zwei Gründe dafür: Das eine ist, dass die Außen- wie auch die Verteidigungsminister bislang nicht den Mut gehabt haben, ihren Bevölkerungen zu sagen: Liebe Leute, wir können eure Sicherheit nicht mehr alleine gewährleisten. Das tut uns leid, aber wir müssen das immer mit anderen zusammen machen, weil die Probleme, die wir haben, so groß sind oder auch von der Qualität her etwas sind, was nicht in unserem Land oder vor unserer Grenze stattfindet, sondern was weit, weit weg von uns stattfindet. Und deswegen müssen wir uns mit anderen zusammentun. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist, dass es um Entscheidungen geht, die nur Staats- und Regierungschefs treffen können. Beispiel: Wenn es darum geht, ein großes industriepolitisches Programm aufzulegen, dann kann das kein Verteidigungsminister allein entscheiden, sondern er muss das gemeinsam mit seinen Kollegen aus der Industrie, den Ökonomie- oder den Wirtschaftsministern und zum Teil auch mit den Finanzministern zusammen machen. Die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, das können nur Staats- und Regierungschefs.

Flocken: D.h. die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss eigentlich Chefsache werden?

Mölling: Sie muss und sie sollte Chefsache werden. Deswegen ist es gut, dass wir diesen Gipfel im Dezember haben. Er droht allerdings zurzeit, weil die Vorbereitung wieder von den Verteidigungs- und Außenministern gemacht wird, ein Rückschlag zu werden. Und die Rolle der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik, Frau Ashton, ist in diesem Zusammenhang auch nicht diejenige, die die Initiative ergreift und sagt, jetzt machen wir einen großen Schritt in Richtung mehr gemeinsamer Verteidigung in Europa.

Flocken: Sie befürchten einen Rückschlag auf dem EU-Gipfels – warum? Woran können Sie das festmachen?

Mölling: Es gibt ja schon lange Vorbereitungen. Der Gipfel ist seit einem Jahr in Vorbereitung. Man hat gesagt, man will diesen Gipfel zur Verteidigung haben. Dann ist erstmal lange Zeit lang gar nichts passiert, d.h., man hat also die Vorbereitung schleifen lassen und jetzt gibt es Schritt für Schritt Vorbereitungsberichte und aus denen kann man ja ablesen, was eigentlich die politischen Ambitionen der Europäer sind. Und die sind minimal. Da geht es ein bisschen um Verbesserung von Einsatzmechanismen, usw. usf. Viel bürokratischer Kleinkram, der zwar jeweils einzeln ein bisschen hilfreich ist, aber der der politischen Bedeutung auf der einen Seite und den Problemen, die wir haben, im Bereich der europäischen Verteidigung, überhaupt nicht gerecht wird.

Flocken: Welche konkreten Maßnahmen müsste es denn geben, um die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik voranzubringen?

Mölling: Ich glaube, es gibt zwei Bereiche von Maßnahmen, die man sich vorstellen kann. Das eine ist, dass die Europäer erstmal zu einer gemeinsamen Problemsicht kommen müssen. Wir sind im Jahr fünf der großen Defizite in den Verteidigungshaushalten. Wir haben aber bisher unter den Verteidigungsministern oder unter den Außenministern in Europa noch kein gemeinsames Verständnis, was denn eigentlich die Lage ist. Wie viel haben wir denn eigentlich zurzeit an Militärgerät auf dem Hof stehen? Wo haben wir zu wenig und wo haben wir zu viel? Man wundert sich immer darüber, aber diese Bestandsaufnahme, die eigentlich am Anfang aller Überlegungen stehen müsste, die gibt es nicht. Das wäre also der erste Schritt. Der zweite Schritt wäre, konkrete Dinge zu beschließen, wie zum Beispiel ein gemeinsames Technologieprogramm für Drohnen, die auch nach außen hin sichtbar werden. Wo sowohl die Industrie als auch die Bevölkerung sieht – da kommt etwas, da passiert was. Und wo man sagt: Ich kann mir vorstellen, was gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik für uns bedeutet.

Flocken: Sie fordern ein europäisches Drohnenprogramm, aber das kostet natürlich viel Geld.

Mölling: Das ist richtig. Ich sag mal, wenn man aus der sehr kostspieligen Tradition von Sicherheits- und Verteidigungspolitik zwischen den Mitgliedsstaaten herauskommen will, dass jeder noch alles hat, wenn man umsteuern will – dann wird man dafür Geld in die Hand nehmen müssen. Zurzeit ist die Prämisse, vor allen Dingen auch in Berlin, es gibt kein neues Geld.

Flocken: Und ohne Geld wird es keine vernünftige oder weitreichende, weitsichtige europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik geben?

Mölling: Ganz genau. Die wird es nicht geben. Das bedeutet nicht, dass wir insgesamt Unmengen mehr an Geld in die Hand nehmen müssen. Wir haben andere Bereiche, in denen wir viel, viel Geld sparen können. Wir haben immer noch 35.000 gepanzerte Fahrzeuge in Europa. Davon sind mindestens ein Drittel so alt, dass man sie gar nicht mehr benutzen kann. Die Frage ist, warum haben wir diese Situation überhaupt noch? Warum ändern wir das nicht umgehend und nehmen das dadurch frei werdende Geld und stecken es in neue Projekte, die dann zwar zu kleineren Armeen führen, die aber moderne Armeen sind.

Flocken: Warum wird denn das Geld nicht in neue Projekte gesteckt und immer noch in alte Systeme?

Mölling: Weil dummerweise heute noch jeder Staat von Malta bis Frankreich, der Ansicht ist, er müsste eigentlich alles haben. Er hat zwar schon lange nicht mehr alles parat, nicht mehr alle Schiffe, nicht mehr alle Soldaten usw., aber es ist ein Mythos und eine Illusion, die die Außen- und vor allem die Verteidigungsminister für sich weiterhin aufrecht erhalten wollen. Sie wollen sagen, wir können souverän entscheiden. Das ist die Idee dabei. Man kann aber nicht mehr allein ein Problem lösen. Wie zum Beispiel Frankreich in Mali. Frankreichs Operation in Mali wäre ohne die Unterstützung der sonstigen Europäer nicht möglich gewesen.

Flocken: Die EU hält ja seit Jahren jeweils zwei multinationale Gefechtsverbände in Bereitschaft, die sogenannten EU-Battlegroups. Das sind Verbände von jeweils rund 1.500 Soldaten. Sie sind bisher aber noch nie eingesetzt worden, auch nicht in der Mali-Krise. Deutschland will das nun ändern, indem man einen Verband zu einem Ausbildungsverband umstrukturiert. Um beispielsweise malische Soldaten auszubilden. Sind denn diese reformierten Battlegroups ein mögliches wirksames Instrument für die gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik?

Mölling: Nein. Die europäischen Battlegroups sind eigentlich eine Theorie. Sie sind bisher nicht eingesetzt worden, aber sie sind immer weiter und weiter ausbuchstabiert worden. Sie sind im Grunde genommen ein praktischer Elfenbeinturm, den sich die Verteidigungsminister da geschaffen haben. Zweitens muss man sehen – hier geht es um gerade einmal 1.500 Mann. Der Umfang der europäischen Streitkräfte beträgt aber insgesamt 1,5 Millionen. D.h., sie drehen hier im Promillebereich. Das ist Fine-Tuning, nicht das Angehen der Strukturprobleme, die die europäische Verteidigung zum jetzigen Zeitpunkt hat. Und drittens – der Fall, auf den sich diese Battlegroups jetzt vorbereiten sollen, nämlich eine Ausbildungsmission, die quasi am Freitagnachmittag beschlossen wird und am Montagmorgen ins Feld zieht, diesen Fall hat es in Jahrtausenden von Kriegsgeschichte bisher noch nicht gegeben. D.h. also, wir werden beim Angehen der Probleme in Europa immer theoretischer, anstatt uns wirklich mit den praktischen Fragen auseinanderzusetzen. Mit der Frage, wie bauen wir effektivere Streitkräfte auf, die lange nicht mehr so groß sein müssen, wie sie jetzt sind. Diese Fragen gehen wir zurzeit noch viel zu theoretisch an.

Flocken: Die EU hat bereits seit 10 Jahren eine europäische Sicherheitsstrategie, sie ist 2003 formuliert worden. Jetzt ist aber auch zu hören, dass die EU eine neue Sicherheitsstrategie brauche. Was soll da anders werden?

Mölling: Die Hoffnung, die sich damit verbindet, eine neue Sicherheitsstrategie zu schreiben, ist, dass über den Prozess des Schreibens die Europäer näher zueinander kommen. Auch das ist blanke Theorie. Ich würde sagen, das wird nicht funktionieren. Der zweite Punkt ist: Strategie an sich ist wunderschön, Strategie gibt es aber nur dann, wenn es eine Implementierung gibt. Wir haben eine alte Sicherheitsstrategie, die nicht implementiert worden ist, die also keine Strategie ist, sondern nur ein Stück Papier ist. Und der dritte Punkt ist: Jede Form von „Wir verständigen uns, mal darüber, nachzudenken, was wir in Zukunft machen wollen“ erlaubt den europäischen Verteidigungsministern und auch den Regierungen vor der Realität des Hier und Jetzt zu flüchten. Auf einmal kann man wieder darüber reden, wie schön Europa sein könnte, wenn wir alles besser machen würden. Die Probleme, die wir haben, liegen aber im Hier und Jetzt. Und deswegen bin ich dafür, keine Sicherheitsstrategie zu schreiben, sondern als erstes einmal aufzuschreiben: Was hat Europa heute denn bereits? Und was können wir damit erreichen? Ich glaube, wir werden überrascht sein, was wir dann herausfinden werden, wie viel wir eigentlich noch können.

Flocken: Was würden wir denn herausfinden? Was meinen Sie?

Mölling: Wir würden zum Beispiel herausfinden, dass wir zurzeit in Europa zweihundert hochmoderne Kampfhubschrauber haben und wenn alles so weitergeht wie bestellt, werden wir in zehn Jahren vierhundert moderne Kampfhubschrauber haben. Das ist erstmal eine Zahl, wo man sagen muss: So einen großen Schrumpfungsprozess, wie oftmals behauptet, haben wir in Europa in bestimmten Bereichen nicht. Zweitens kann man diese Kampfhubschrauber zum Teil für die Aufgaben verwenden, für die wir zurzeit Drohnen einsetzen wollen. Das heißt, hier ergeben sich auf einmal – wenn man anfängt, durchzuzählen und aufzulisten, was wir in Europa eigentlich haben – ganz neue Möglichkeiten mit Blick auf die Frage „Wie organisieren wir uns eigentlich und was müssen wir eigentlich Neues kaufen?“. Bestimmte Sachen müssen wir gar nicht kaufen. Davon haben wir immer noch genug und wir kriegen mehr davon.

Flocken: Das heißt, Sie meinen, dass man mit den Hubschraubern, die man jetzt bestellt hat, künftig Drohnen ersetzen könnte?

Mölling: Zu einem bestimmten Teil kann man mit den Hubschraubern, die man in den nächsten Jahren anschaffen möchte, Drohnen ersetzen. Das gilt nicht, wenn Sie über lange Strecken hinweg aufklären müssen. Es bedeutet aber insbesondere für den Einsatz sogenannter Kampfdrohnen, also wenn es darum geht, relativ nah bei den Streitkräften Feuerunterstützung zu leisten, dass man dies natürlich auch mit Kampfhubschraubern machen kann. Die haben sogar einige Vorteile in dem Zusammenhang. Wichtig ist aber vor allem, dass man die Frage stellen kann. Wenn man sich aufgeschrieben hat „Was haben wir denn alles?“. Dann kann man sagen „Wie können wir das denn eigentlich einsetzen?“. Ich will Ihnen ein anderes Beispiel nennen. Wir haben in Europa ungefähr dreitausend Transporthubschrauber. Ich würde mir wünschen, dass die Staats- und Regierungschefs diese Zahl zur Kenntnis nehmen und ihre Verteidigungsminister fragen: „Warum haben wir dreitausend Hubschrauber und leihen uns in Afghanistan von privaten Anbietern zusätzliche Hubschrauber?“ Wie kann das sein? Warum gebe ich das Steuergeld meiner Bürger dafür aus, auf der einen Seite in Deutschland Hubschrauber stehen zu haben und auf der anderen Seite mir Hubschrauber für Afghanistan leihen zu müssen?

Flocken: Warum stehen denn die Hubschrauber in Deutschland? Offiziell heißt es ja immer, dass es einen Mangel an Hubschraubern, vor allem an Transporthubschraubern, gebe.

Mölling: Das ist ja offensichtlich nicht der Fall, wenn ich dreitausend Hubschrauber in Europa habe. Das hat etwas damit zu tun, dass die Staaten untereinander sich nicht grün sind, wer wie viel wofür ausgeben soll und wer welchen Anteil zahlt. Viele Staaten sagen, dass sie schon genug von alledem zahlen. Das heißt, da geht das Feilschen um jeden Cent los. Gleichzeitig geben wir halt unheimlich viel Geld dafür aus, diese Sachen auf dem freien Markt zu beschaffen. Das kann man ja machen. Wenn wir der Ansicht sind, es ist günstiger und effektiver, Hubschrauber auf dem freien Markt zu beschaffen, dann sollen wir das tun. Dann brauchen wir aber diese dreitausend Hubschrauber in Europa nicht mehr. Dann können wir doch die nationalen Hubschrauberverbände abschaffen, wenn wir sie sowieso nicht einsetzen.

Flocken: Angesichts der Sparzwänge bei den Streitkräften ist viel von einer Arbeitsteilung bei den Militärs die Rede. Pooling und Sharing ist ja oft das Stichwort, das hier dann fällt. Die Vorstellung ist, dass ein Land auf bestimmte militärische Fähigkeiten verzichtet, zum Beispiel auf das Verlegen von Seeminen, weil andere EU-Streitkräfte diese Fähigkeit haben. Wäre das nicht in Zukunft ein effektiver Beitrag, um die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik voranzubringen? Gibt es bereits solche Beispiele?

Mölling: Ja, es gibt solche Beispiele. Es gibt solche Beispiele vor allem in den Auslandseinsätzen. Europa geht seit zwanzig Jahren nur noch gemeinsam in den Einsatz, weil wir gar nicht mehr einzeln die Bandbreite an soldatischen Fähigkeiten vorhalten können, die man braucht. Das heißt, es hat nicht mehr jedes Land Pioniere, es hat nicht mehr jedes Land Spezialisten für das Sprengen von Munition, die vor Ort irgendwo liegen geblieben ist. Das muss man auch nicht haben, wenn man sich anständig organisiert, wie wir das seit zwanzig Jahren in den Auslandseinsätzen machen - Ad hoc. Das funktioniert wunderbar, denn wir sind immer noch die bestorganisierte Streitmacht in der Welt. Das Problem ist, wenn es nach Hause geht. Dort, wo wir eigentlich die Vorbereitungen treffen könnten für eine sinnvolle, gute Organisation der Streitkräfte, die wir später einsetzen wollen. Doch zu Hause funktioniert das nicht. Da wollen wir auf einmal wieder alles national organisieren und das ist das große Problem. Der einzige Grund, warum diese nationale Organisation zu Hause manchmal aufgegeben wird, ist, wenn einem Land die Gefahr droht, eine bestimmte militärische Fähigkeit zu verlieren. So ist das zum Beispiel zwischen Schweden und Norwegen gewesen. Wenn sich diese Länder nicht zusammengetan hätten, hätten sie heute gar keine Artillerieverbände mehr. Das heißt also: Nur angesichts des kompletten Verlustes bestimmter militärischer Fähigkeiten sind die Staaten bereit, Kompromisse zu machen. Aber diese gehen nicht allzu weit.

Flocken: Was heißt das beispielsweise konkret für die Bundeswehr? Könnte die Bundeswehr nicht auch auf bestimmte militärische Fähigkeiten verzichten, in der Erwartung, dass diese dann von anderen Staaten, von Bündnispartnern, gestellt werden?

Mölling: In der Tat, die Bundeswehr könnte auf bestimmte Fähigkeiten verzichten...

Flocken: Zum Beispiel?

Mölling: Wir brauchen längst nicht mehr so viele Kampfflugzeuge wie wir zurzeit haben und wie wir sie immer noch beschaffen. Da könnten wir sicherlich abrüsten und deutlich weniger wären ausreichend, wenn wir bereit sind, uns in Europa auf andere zu verlassen. Wir könnten zum Beispiel sagen, dass die Luftverteidigung in Europa eine alltägliche Friedensaufgabe ist. Die Luftstreitkräfte Europas patrouillieren jeden Tag im europäischen Luftraum. Dafür brauchen wir keine zweitausend Kampfflugzeuge in Europa. Das schaffen wir locker mit der Hälfte. Wir müssten einfach nur bereit sein, zu sagen: „Wir machen das nicht mehr, wir verlassen uns hier auf andere.“

Flocken: Aber warum wird das nicht gemacht? Warum verlässt man sich nicht auf die Partner?

Mölling: Man verlässt sich nicht auf die Partner, weil man behauptet, dass man von ihnen nicht abhängig werden möchte. Das heißt, wir bezahlen teuer für die Idee der Unabhängigkeit von unseren Partnern. Man hat Angst, im Einsatz alleine gelassen zu werden. Oder aber man hat Angst, dass man auf einmal alle Aufgaben schultern muss, also dass Deutschland alle Aufgaben schultern muss und die anderen quasi Trittbrettfahrer würden. Das sind meiner Meinung nach vorgeschobene Gründe. Denn all diese Probleme haben wir erstens in den bisherigen Einsätzen nicht gesehen und zweitens haben wir gar keine andere Wahl mehr, weil wir sowohl militärisch als auch politisch schon jetzt in erheblichem Maße von unseren Partnern abhängig sind.

Flocken:
Christian Mölling von der Stiftung Wissenschaft und Politik, zum anstehenden EU-Gipfel zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Eine Langfassung des Interviews finden Sie auf der Internetseite von Streitkräfte und Strategien, unter ndr.de/info.

* Aus: NDR Info: Das Forum STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 14. Dezember 2013; www.ndr.de/info


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