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EU am Scheideweg

Hintergrund. Soll die Europäische Union per Volksabstimmung zum Bundesstaat werden? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre das reaktionär

Von Gregor Schirmer *

Die Befürworter von Volksentscheidungen in Angelegenheiten der EU – zu denen ich gehöre – haben Knall auf Fall prominente Verbündete bekommen. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) tönt: »Ich will, daß die Menschen in Zukunft stärker an der Entscheidung über europäische Fragen beteiligt werden. Wir müssen das Grundgesetz so ändern, daß künftig in drei Fällen Volksbefragungen zwingend vorgeschrieben werden: wenn weitere Kompetenzen an Brüssel übertragen werden sollen; wenn die EU weitere Mitglieder aufnehmen will; und wenn neue Hilfsprogramme in der Euro-Krise aufgelegt werden sollen, die über die bisherigen Rettungsschirme hinausgehen.« (Der Spiegel 26/2012, S. 23)

Sein Koalitionsfreund, der Bundeskassenwart Wolfgang Schäuble (CDU), geht in derselben Spiegel-Nummer noch ein gutes Stück weiter. Unter dem Motto »Mehr Rechte und Kompetenzen nach Brüssel« skizziert er einen EU-Bundesstaat mit einer »echten Regierung«, die sich aus der EU-Kommission »entwickeln muß«; mit einem direkt gewählten Präsidenten; einem durch das Recht zur Gesetzesinitiative aufpolierten Parlament; einem parlamentarischen Zwei-Kammer-System nach deutschem oder USA-Vorbild; einer Fiskal- und Bankenunion und einem Finanzminister, der »ein Vetorecht gegen einen nationalen Haushalt« hat und »die Höhe der Neuverschuldung genehmigen« muß. (Eine Sozial-, Ökologie- und Friedensunion hat Schäuble »vergessen«.) Wenn nicht alle mitmachen, müssen »wir die neuen Institutionen erst einmal nur für die Euro-Zone schaffen«. Wenn man zum Schluß kommt, daß mit Schäubles Neo-EU »die Grenzen des Grundgesetzes erreicht sind«, dann muß halt nach dem Willen des Bundesverfassungsgerichts »das deutsche Volk entscheiden«. Und eine Volksabstimmung darüber könnte »schneller kommen«, als es der hellsichtige Finanzminister »noch vor wenigen Wochen gedacht hätte«.

Verschwommene Vision

Der oberste Sozialdemokrat Sigmar Gabriel will da nicht hinten anstehen (Interview in Welt am Sonntag vom 1.7.2012): »Wir stehen vor nichts Geringerem als einer Neugründung der Europäischen Union. Und bei dieser Frage werden wir am Ende des Prozesses auch unsere Bevölkerung fragen müssen.« (Warum erst am Ende und nicht schon am Anfang?) »Wir brauchen eine Reform an Haupt und Gliedern der EU. Wir müssen ein ganz neues Konzept der EU schaffen, das die Menschen mitnimmt.« (Sollten »die Menschen« nicht besser das neue Konzept selbst schaffen, als von ihm »mitgenommen« zu werden?) Die Vereinigten Staaten von Europa sieht er »nicht näherrücken«. Einen bundesstaatlichen Aufbau der EU kann er sich »aber gut vorstellen«. »Es wird der Tag kommen, an dem wir das Grundgesetz ändern müssen.« Er weiß nur noch nicht genau, ob dafür die Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag ausreicht (den Bundesrat hat er vergessen), oder »ob das Volk über eine erneuerte Verfassung abstimmen muß«.

Und zu guter Letzt: Der machtlose Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, hat im Bund mit drei anderen EU-Oberen, dem Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso, dem Euro-Zirkel-Chef Jean-Claude Juncker und dem EU-Zentralbank-Präsidenten Mario Draghi (der Präsident des Europäischen Parlaments durfte nicht mitmachen) einen Bericht an den Europäischen Rat vom 29. Juli 2012 vorgelegt (EUCO 120/12), der dort bei den Staats- und Regierungschefs und auch in der europäischen Öffentlichkeit wenig Anklang und Echo fand. Die vier haben »die Vision« einer »echten« Wirtschafts- und Währungsunion, die auf vier »wesentlichen Bausteinen« beruht: 1. Integrierter Finanzrahmen mit einem einheitlichen europäischen Bankenaufsichtssystem mit oberster Verantwortung und Befugnissen zum präventiven Einschreiten in bezug auf alle Banken auf europäischer Ebene. 2. Integrierter Haushaltsrahmen mit »effektiven Mechanismen zur Verhütung und Korrektur einer nicht tragfähigen Haushaltspolitik in jedem Mitgliedstaat« und »Emission gemeinsamer Schuldtitel«. 3. Integrierter wirtschaftspolitischer Rahmen mit »durchsetzbarer« Politikkoordinierung. 4. Als Zierde des Unternehmens sollen nicht näher umrissene »stabile Mechanismen« geschaffen werden, »die die Legitimität und Rechenschaftspflicht bei der gemeinsamen Beschlußfassung sicherstellen«. Das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente müssen »auf jeden Fall eng eingebunden werden« (was immer »einbinden« heißt, jedenfalls nicht »entscheiden«). Diese mit vielen Konjunktiven und Verschwommenheiten versehene »Vision« einer bundesstaatlich organisierten Wirtschafts- und Währungsunion soll in den nächsten zehn Jahren Wirklichkeit werden.

Kommt etwas ins Rollen in Richtung auf einen EU-Bundesstaat? Ich halte das nicht für wahrscheinlich. Nach zwanzigjähriger Erfahrung mit der EU seit dem Sündenfall Maastricht, dem hoffnungslosen Fall Nizza, dem Zwischenfall Amsterdam, dem Reinfall Verfassung bis zum schlimmsten Fall Lissabon fehlt mir der Glaube, daß die Eingebungen der genannten Protagonisten mehr sind als Wahlkampflärm und Manöver, die von der Unfähigkeit, die Wirtschafts- und Finanzkrise zu bewältigen, ablenken sollen.

Probe aufs Exempel

Die nächstliegende und eigentlich einfach zu bewältigende Probe aufs Exempel wäre die Implementierung einer entsprechenden Bestimmung über Volksabstimmungen in das Grundgesetz. Die Linksfraktion kann da mit einem seit langem vorliegenden Entwurf aushelfen. Wenn die europäische Integration in Gestalt der EU von einem Unternehmen der herrschenden Eliten, der Regierungen, Bürokratien, Konzerne und Banken zu einem solidarischen Projekt europäischer Völker, der EU-Bürgerinnen und Bürger werden soll, dann müssen die Bevölkerungen der Mitgliedstaaten das entscheidende Wort in wichtigen Fragen der Union sprechen können. Anders bleibt die Formel von »der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas« leeres Geschwätz oder eine Lüge.

Nach dem gegenwärtig herrschenden – nach meiner Meinung sehr problematischen – deutschen Verfassungsverständnis sind Volksabstimmungen, außer zur Neugliederung des Bundesgebietes nach Artikel 29 GG, ausgeschlossen, obwohl Artikel 20 Absatz 2 GG festlegt, daß das Volk seine Staatsgewalt nicht nur durch Wahlen und besondere Organe der Gesetzgebung, sondern auch durch Abstimmungen ausübt. Also muß und kann der europafreundliche Artikel 23 GG dahingehend ergänzt werden, daß Gesetze über die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland zur Neufassung oder Änderung der vertraglichen Grundlagen der EU oder zu gleichartigen Verträgen der Zustimmung durch einen Volksentscheid bedürfen. Die Entscheidungsgewalt der Menschen muß in allen Mitgliedstaaten durchgesetzt werden. Auf der EU-Ebene muß und kann vereinbart werden, daß die Ratifikation primärrechtlicher EU-Verträge und gleichartiger Vereinbarungen die Zustimmung der Mehrheit der Abstimmenden in einem Volksentscheid in jedem Mitgliedstaat am selben Tag voraussetzt. Wie sonst soll die EU – wie es in Artikel 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) so schön heißt – eine »Union der Völker« und nicht nur der Staaten werden?

Zuviel Demokratie? Es ist nicht einzusehen, warum Irland der einzige Mitgliedstaat bleiben muß, in dem Volksabstimmungen zu EU-Fragen verfassungsrechtlich zwingend vorgeschrieben sind. Alle Rufe nach mehr Demokratie und Bürgernähe in der EU bleiben Schall und Rauch, wenn sie nicht durch konkrete Entscheidungsrechte der Menschen untersetzt werden. Ich mache mir nicht die Illusion, daß Volksentscheide per se zu einer anderen EU führen. Aber sie können die Möglichkeiten dazu öffnen helfen und die im Gang befindliche Pervertierung der Europa-Idee stoppen.

Übertragung von Souveränität

Geradeheraus gesagt: Ich halte eine bundesstaatliche Verfaßtheit der EU weder für realistisch noch für erstrebenswert, sondern für reaktionär und letztlich europafeindlich.

Eine alternative Verfassung muß für demokratische gesellschaftliche Veränderungen offen sein. Ein strukturelles Manko an Demokratie in der EU muß verfassungsrechtlich zumindest gemildert werden: Jede – auch jede gerechtfertigte – Übertragung einer Kompetenz von der nationalen auf die europäische Ebene beinhaltet zwangsläufig einen Verlust an Entscheidungsrechten der nationalen Parlamente. In der Union landen diese Entscheidungsrechte nur begrenzt beim Europäischen Parlament, sondern maßgeblich beim Rat, also einem Gremium der nationalen Exekutiven. Die Regierungen werden auf diese Weise in Brüssel ihre eigenen Gesetzgeber. Das geht wider die rechtsstaatliche Gewaltenteilung. Mittel dagegen könnten verfassungsrechtliche Bestimmungen sein, die dem Europäischen Parlament wie dem Rat Gesetzesinitiative zubilligen und die parlamentarische Mitbestimmung auf alle Bereiche ausdehnen, für die eine Zuständigkeit der EU besteht.

Zugleich müssen die nationalen Parlamente wirksamere Mitgestaltungs- und Einspruchsrechte erhalten. Ein weiteres Demokratieproblem: Die ohnehin vorhandene Hegemonie der großen und mächtigen Mitgliedstaaten muß durch Abstimmungsregeln im Rat begrenzt werden, die einen angemessenen Einfluß der kleinen und mittleren Mitgliedstaaten sichern. Das im Verfassungsvertrag vorgesehene Verfahren der qualifizierten Mehrheit macht die Großen zu Gewinnern, die Kleinen zu Verlierern. Gegenüber den Nizza-Regeln würde das Stimmengewicht Deutschlands von 8,4 auf 17,0 Prozent steigen, das kleine Malta würde von 0,9 auf 0,1 Prozent zurückfallen. Das kann so nicht bleiben, auch wenn man anerkennt, daß Malta mit 360000 Einwohnern nicht dasselbe Stimmengewicht wie Deutschland mit 78 Millionen haben kann. Die Gleichberechtigung der Völker der EU erfordert andere Lösungen.

Die EU ist (noch) kein Suprastaat und will nach dem Selbstverständnis ihrer Mitglieder auch keiner sein. Sie ist kein europäischer Bundesstaat mit 27 nicht mehr souveränen Teilstaaten, ähnlich wie die Bundesrepublik Deutschland mit ihren 15 Ländern. Sie weist aber wesentliche Merkmale von Staatlichkeit auf: Parlament, Gesetzgebung, Exekutive in Gestalt der Kommission, Bürgerschaft, Grundrechte, Verbindlichkeit von Beschlüssen für die Mitgliedstaaten, Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht, Gerichtsbarkeit, Währungs- und Zollhoheit, Binnenmarkt, Außengrenzen. Die Entwicklungen zur Suprastaatlichkeit sind nach meiner Meinung so weit ausgeprägt, daß die Grenzen der Übertragung von Souveränitätsrechten an die EU überschritten sind, jenseits derer die Souveränität der Mitgliedstaaten in ihrer Substanz ausgehöhlt ist. Die Mitglieder der EU sind in vieler Hinsicht de jure keine voll souveränen Staaten mehr. Realiter kann die Souveränität von schwachen Mitgliedstaaten gegen Null gehen. Das zeigt die Behandlung Griechenlands in der Finanzkrise, wo nicht mehr die griechischen Verfassungsorgane, geschweige denn das griechische Volk, sondern die EU, der Weltwährungsfonds und die Großbanken das Sagen haben.

Die EU ist aber (noch) kein Staat. Gegen die Staatswerdung sind Begrenzungen europäischer Zentralgewalt festgeschrieben: Die zwei geltenden primärrechtlichen, verfassungsähnlichen EU-Verträge sind völkerrechtliche Verträge zwischen 27 Staaten, für die die Regeln des Völkerrechts, insbesondere das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 gelten. Die Mitgliedstaaten sind die »Herren« der Verträge. Sie entscheiden über den Beitritt, über Vertragsänderungen und über den Austritt. Die EU ist also nach wie vor oder immer noch eine Organisation von Staaten, deren Souveränität zwar durch Abtretung von Hoheitsrechten und damit verbundener Zuständigkeiten empfindlich eingeschränkt wird. Die Mitgliedstaaten können sich aber de jure ihre volle Souveränität durch Austritt aus der Union nach Artikel 50 EUV zurückholen. Sie können im ordentlichen Verfahren der Vertragsänderung nach Artikel 48 EUV an die EU übertragene Hoheitsrechte zurückrufen. Wesentliche Souveränitätsrechte verbleiben bei den Mitgliedstaaten: Die »heilige« Steuerhoheit und damit die Abhängigkeit der EU von den finanziellen Beiträgen der Mitgliedstaaten; die Gewährleistung der »inneren Sicherheit« mit Polizei, Geheimdiensten, Justiz und Strafvollzug, also das »Gewaltmonopol«; die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ich sehe keine Neigung der Mitgliedstaaten, daran etwas zu ändern.

Die Union und ihre Mitglieder

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Gewichtigkeit der Nationalstaaten in Relation zur Rolle der EU und ihrer Organe zurückgegangen ist. Sie wird in Zukunft noch weiter absinken. Das ist unvermeidlich. Die Probleme wachsen, die auf nationalstaatlicher Ebene nicht gelöst werden können, sondern nur durch vereinigte europäische Anstrengungen. Das erfordert die Übertragung entsprechender Kompetenzen an EU-Organe. Aber die Nationalstaaten und ihre Souveränität sind heute und morgen nicht überholt. Es gibt Probleme, die sehr wohl und sogar besser auf nationalstaatlicher Ebene gelöst werden. Und es gibt Kämpfe, die zuvörderst auf nationaler Ebene ausgefochten werden müssen. Linke Politik ist weder mit einem Rückzug auf den Nationalstaat auf Kosten der europäischen Integration, noch mit einer Preisgabe des Nationalstaats zugunsten einer voll souveränen Union vereinbar. Es geht um das richtige Verhältnis zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten.

Die Mitglieder der EU bleiben Völkerrechtssubjekte, Mitglieder der Vereinten Nationen und anderer universaler und regionaler internationaler Organisationen, Partner bilateraler und multilateraler völkerrechtlicher Verträge. In Artikel 5 Absatz 1 EUV werden zur Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der EU und den Mitgliedstaaten der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung und für die Ausübung der Kompetenzen der EU die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit festgeschrieben. Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung besagt, daß »die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig (wird), die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben« (Absatz 2). Der Grundsatz der Subsidiarität schreibt vor, daß »die Union in den Bereichen, die nicht (wie die Währungs- und Zollunion) in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig (wird), sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind« (Absatz 3). Und weiter: »Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus.« (Absatz 4)

Das sind streitträchtige Bestimmungen, deren Anwendung weniger durch juristische Definitionen und Gerichtsurteile, sondern mehr durch das reale Kräfteverhältnis zwischen den Mitgliedstaaten entschieden wird. Die Vertragsinhalte, die institutionellen und Verfahrensregeln, vor allem auch die festgelegten Zuständigkeiten der EU, sprechen dafür, daß den Nationalstaaten doch noch ein erhebliches, ja letztlich entscheidendes Gewicht im Getriebe der Union verbleibt. Und logischerweise ist das Gewicht der großen und mächtigen Mitglieder, allen voran Deutschlands, am größten.

Nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 ist die Schwelle von einem Staatenverbund zu einem Bundesstaat (noch) nicht überschritten. Das Urteil enthält Sätze über den politisch-juristischen Charakter der EU und über die Entwicklung der europäischen Union, die einem Übermaß an Einschränkung einzelstaatlicher Souveränität und damit verbundener Beschränkung der Befugnisse des deutschen Parlaments ein Verbotszeichen setzen sollen. In Ziffer 1 der Leitsätze des Urteils wird die EU als Staatenverbund definiert: »Der Begriff des Verbundes erfaßt eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän gebliebener Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben.«

Ungewollter EU-Staat

Im Artikel 1 EUV wird behauptet, der Vertrag stelle eine »neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas« dar. In den Präambeln des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV-Lissabon) und der Grundrechte-Charta ist die Rede von einem »immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker«, von einer »immer engeren Union«. Auch die Vorgängerverträge beanspruchten, jeweils neue Stufen einer immer engeren Union einzuläuten. Wie »eng« soll sie werden? Welche »neuen Stufen« soll sie noch durchlaufen? Was ist die »Finalität« der Union? Das Wort ist unpassend, weil es einen endgültigen Zustand der EU suggeriert, der nicht eintreten wird. Gegenwärtig hat der Begriff »Finalität« einen fatalen Beigeschmack. Daß die EU einem finalen Zerfall entgegen geht, ist nicht mehr ausgeschlossen.

Soll die »immer engere« Union, nachdem sie in diese Richtung schon weit entwickelt worden ist, endgültig und juristisch offiziell in einen europäischen Bundesstaat einmünden? Einen europäischen Bundesstaat, in dem die Mitglieder als Gliedstaaten – ähnlich wie die Länder in der Bundesrepublik – eingestuft werden, will gegenwärtig und in absehbarer Zukunft kaum jemand haben. Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht, weil sie davon keine Verbesserung, eher eine Verschlechterung ihrer Lebenslage erwarten und erkämpfte Rechte und Freiheiten nicht aufs Spiel setzen wollen. Die europäischen Völker, die großen wie die kleinen, nicht, weil sie um ihre historische und kulturelle Identität fürchten. Die politisch Herrschenden nicht, weil sie ihre Machtstellung, auf jeden Fall die Souveränität über die Außenpolitik und die Sicherheitspolitik nach außen und im Inneren, behalten wollen und weil sie keinesfalls einen in einer EU-Föderation unvermeidlichen Finanzausgleich zwischen finanzstarken und finanzschwachen Ländern akzeptieren. Die großen und mächtigen Staaten nicht, weil ihre beherrschende Stellung in der gegenwärtigen EU besser durchzusetzen ist als in einer bundsstaatlichen. Die kleinen und schmächtigen Mitglieder nicht, weil sie in der verbliebenen Souveränität einen Schutzschild gegen Übergriffe sehen. Die Kapitalbosse nicht, weil zu viel regulierende EU-Staatlichkeit die ungebremsten Konkurrenzkämpfe der Konzerne und Großbanken innerhalb des gemeinsamen Marktes und um Marktpositionen außerhalb der EU behindern kann und ihr Profitstreben stört. Die Nichteuropäer aller Kontinente von den USA über Rußland bis nach China nicht, weil sie aus unterschiedlichen Gründen eine ökonomische, wissenschaftlich-technische, politische und militärische Machtzusammenballung in Gestalt eines EU-Staates nicht wollen können. Und die Linken nicht, weil ein europäischer Bundesstaat nach Lage der Dinge nur eine imperialistische Weltmacht sein könnte.

Auch praktische Gründe stehen der Staatswerdung der Union entgegen: Die erhaltenswerte sprachliche Vielfalt ohne eine allgemein akzeptierte Verständigungssprache. Die Entwicklung einer eigenständigen europäischen Zivilgesellschaft, die mehr ist als die Vernetzung nationaler Organisationen und Bewegungen, steht erst in den Anfängen. Eine europäische Identität und Subjektivität der Menschen ist noch nicht entstanden.

Einheit in Vielfalt

In historisch absehbarer Zeit wird es keinen EU-Bundesstaat und keine Vereinigten Staaten von Europa geben. Und das ist gut so. Es liegt im Interesse der europäischen Völker, darunter auch der linken Kräfte, daß der nationale Kampfplatz, auf dem sie den größten Einfluß geltend machen können, erhalten bleibt. Die EU soll nicht in einen Suprastaat auswachsen, in dem die Souveränität der Mitgliedstaaten verschwunden ist. Sie soll sich als ein demokratisch verfaßter politischer, ökonomischer, ökologischer, sozialer und rechtsstaatlicher Verbund europäischer Staaten, Bürger und Völker entwickeln. Dieser Verbund soll auf den Prinzipien der Freiwilligkeit und Gleichberechtigung beruhen. Die Mitgliedstaaten sollen einen wesentlichen Bestand an souveränen Rechten behalten. Die Existenz unterschiedlicher Nationalstaaten in der EU und die Sorge um den Erhalt ihrer Souveränität, vor allem um die Wahrung von Entscheidungsrechten der nationalen Parlamente, ist nichts Rückständiges und Rückwärtsgerichtetes. Sie sind eher Voraussetzungen für eine demokratische Union und die vielbeschworene »Einheit in der Vielfalt«.

In weiterer historischer Perspektive ist es nicht ausgeschlossen, daß ein Europa, das den Weg zu einer antikapitalistischen Gesellschafts- und Staatsordnung einschlägt, sich, wenn die Völker demokratisch-selbstbestimmt so entscheiden, als Vereinigte Staaten von Europa organisiert. Eine Gesellschaftsordnung des demokratischen Sozialismus ist nach meiner Meinung letztlich nur auf europäischer, nicht auf nationalstaatlicher Ebene machbar. Der Übergang zu einer solchen Ordnung in Europa erfordert vielleicht und ermöglicht neuartige staatlich-rechtliche, aber auf jeden Fall freiwillig eingegangene Verbindungen der Menschen und Völker.

* Gregor Schirmer ist Professor für Völkerrecht. Er war Stellvertreter des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen der DDR und Stellvertretender Abteilungsleiter im ZK der SED

Aus: junge Welt, Mittwoch, 15. August 2012


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