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Friedensmacht Europa?

Sicherheitspolitik der EU aus geopolitischer Perspektive

Von Jürgen Rose*

Als sicherheitspolitische Antwort auf den Unilateralismus der USA, die Arroganz ihrer militärischen Machtentfaltung, die völkerrechtverachtende Präventivkriegsideologie und den globalen Hegemonieanspruch der augenblicklich dort herrschenden neokonservativen »Crazies« entwickelt das alte Europa seit einiger Zeit mit Nachdruck seine »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik«. Vor allem aber trug das Völkerrechtsverbrechen des Irak-Krieges dazu bei, die Anstrengungen, eine autonom handlungsfähige »Europäische Verteidigungsunion« zu schaffen, weiter zu intensivieren. In letzter Konsequenz liefe dies auf eine Emanzipation Europas von der qua NATO perpetuierten Vormachtsstellung der USA hinaus.

Prinzip Gewaltfreiheit?

Derartige Bestrebungen rufen indes teils heftige Kritik hervor. Zum einen wittern in der Wolle gefärbte Atlantiker und NATO-Maniacs prompt Anti-Amerikanismus und malen die Schrecken »schlechtester gaullistischer Tradition« an die Wand. Zum anderen scheint die Vision einer gaullistisch inspirierten Europäischen (Verteidigungs-)Union den fundamentalpazifistischen Nerv zu treffen. Reflexartig werden als vermeintliche Alternativen dagegen Forderungen erhoben nach der »Wiedererweckung des Völkerrechts«, der »weltweiten Stärkung der UNO-Rechtsstrukturen« oder gar der »Wiedererzwingung einer internationalen Politik, die auf der Geltung der UN-Charta und auf friedlichem Interessenausgleich beruht«. Hinter einer derartigen Reaktion steckt gemeinhin die Vorstellung, eine internationale Rechtsordnung und der Frieden schlechthin ließen sich schaffen und bewahren, ohne notfalls auf das Mittel der Gewalt zurückgreifen zu können – gewaltfrei also.

Frieden aber ist nicht identisch mit einem Zustand der Gewaltfreiheit oder Gewaltlosigkeit, er muß, wie schon im Jahre 1795 der Königsberger Philosoph Immanuel Kant in seiner nach wie vor epochalen Schrift »Zum ewigen Frieden« dargelegt hat, gestiftet werden. Frieden ist demnach der Zustand, in welchem Zwang und Gewalt ausschließlich zur Sicherung des Rechts angedroht und notfalls angewendet werden. Anders ausgedrückt: Die Möglichkeit von Frieden überhaupt basiert auf der Wirkungsmächtigkeit einer Rechtsordnung, die von der Fähigkeit abhängt, sie notfalls mit staatlichen Macht- und Gewaltmitteln auch gegen Regelbrecher durchzusetzen.

UN-Gewalt

Dieser Grundsatz gilt nicht nur auf der innerstaatlichen Ebene, sondern analog auch im Hinblick auf eine internationale Friedensordnung zwischen den Staaten. Den Kristallisationskern des gegenwärtigen Völkerrechts bildet die Charta der Vereinten Nationen. Unbestreitbar stellen friedliche Beilegung von Konflikten zwischen den Staaten und Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen die Raison d’ętre der UNO dar. Dennoch geht eine Idealisierung der Vereinten Nationen als einer Institution der organisierten Gewaltlosigkeit an der Realität vorbei, birgt doch die UN-Charta ein ausgefeiltes Instrumentarium von Sanktionsmitteln, um ihr gegenüber den Schurken auf der Weltbühne Geltung zu verschaffen – vorausgesetzt der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bringt den Willen, den Mut und die Einigkeit hierfür auf.

Die einschlägigen Kautelen finden sich im Kapitel VII der Satzung der Vereinten Nationen (SVN). In dreizehn Artikeln wird dort detailliert und akribisch geregelt, welche »Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen« der Sicherheitsrat zur »Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit« ergreifen darf. Diese reichen von der »Feststellung der Friedensgefährdung« (Art. 39 SVN) über »friedliche Sanktionsmaßnahmen« (Art. 41 SVN) bis hin zu »militärischen Sanktionsmaßnahmen« (Art. 42 SVN). Des weiteren ist dort festgelegt, daß alle UNO-Mitgliedstaaten verpflichtet sind, »... dem Sicherheitsrat auf sein Ersuchen Streitkräfte zur Verfügung [zu] stellen, Beistand [zu] leisten und Erleichterungen einschließlich des Durchmarschrechts [zu] gewähren« (Art. 43 SVN). Darüber hinaus sind die UN-Mitglieder verpflichtet, »Kontingente ihrer Luftstreitkräfte zum sofortigen Einsatz bei gemeinsamen internationalen Zwangsmaßnahmen bereitzuhalten, um die Vereinten Nationen zur Durchführung dringender militärischer Maßnahmen zu befähigen« (Art. 45 SVN). Auch ein ständiger Generalstabsausschuß ist vorgesehen, »um den Sicherheitsrat in allen Fragen zu beraten und zu unterstützen, die dessen militärische Bedürfnisse zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, den Einsatz und die Führung der dem Sicherheitsrat zur Verfügung gestellten Streitkräfte, die Rüstungsregelung und eine etwaige Abrüstung betreffen« (Art. 47 SVN). Die Aufgabe des ständigen Generalstabsausschusses besteht darin, den Sicherheitsrat bei der Aufstellung von Plänen für die Anwendung von Waffengewalt zu unterstützen (Art. 46 SVN). Fürwahr ein umfangreiches und ausgeklügeltes Arsenal an militärischen Gewaltmitteln, das die Satzung der Vereinten Nationen für den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der völkerrechtlich als einzige Instanz legitimiert ist, militärische Gewaltmaßnahmen zum Zwecke der Durchsetzung des Völkerrechts anzuwenden, bereit hält. Daraus wird evident, daß die UNO eine Organisation darstellt, die mitunter in sehr martialischem Gewande aufzutreten vermag. Im Vergleich dazu besitzt der im Verfassungsvertrag der Europäischen Union vorgesehene, zuweilen heftig kritisierte Grad an »Militarisierung« ein weit geringeres Ausmaß.

Wer nun die Geltung der UN-Charta in der internationalen Politik wiedererzwingen will – und dieser Forderung ist vorbehaltlos zuzustimmen –, muß sich ergo im Klaren sein, daß er damit zugleich und unvermeidlich auch für die Anwendung militärischer Gewalt gemäß den in der Satzung der Vereinten Nationen fixierten Regularien plädiert – aber eben auch ausschließlich im Rahmen und gemäß den Regeln dieser Charta!

Die NATO – ein Auslaufmodell

Diese letzte Überlegung weist die Richtung hin zur Konzeption einer zukünftigen »Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion«. Wenn die Diagnose zutrifft, daß es sich bei den USA um eine immer unverhohlener imperialistisch agierende Weltmacht handelt, die erstens unter dem Tarnbegriff des Krieges gegen den globalen Terrorismus nichts weiter als die ökonomische Kolonialisierung des Planeten mit militärischen Mitteln betreibt, zweitens den Völkerrechtsbruch in Serie nach dem Motto »Quod licet Iovi non licet bovi« zum Prinzip erhebt und sich drittens mit der von George W. Bush verkündeten nationalen Präventivkriegsdoktrin zur mittlerweile dramatischsten Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit entpuppt, dann liegt es im existentiellen Interesse Europas, eine tragfähige sicherheitspolitische Alternative gegen diese Form von Amokpolitik zu entwickeln. (...)

Die NATO stellt für Europa keine ernsthafte Alternative zur Bewältigung ihrer zukünftigen Sicherheitsprobleme mehr dar. Zum einen, weil sich die Verteidigungsallianz aufgrund Wegfalls der Geschäftsgrundlage überlebt hat – eine ernstzunehmende militärische Bedrohung für das Bündnis existiert nämlich gegenwärtig nicht und zeichnet sich auch für die Zukunft nicht ab. Zum anderen (...) wollen die USA überall und jederzeit intervenieren können – und zwar allein, unbehindert von kleinmütigen Alliierten, langatmigen Konsultationen und komplizierten Konsensprozeduren. Aus Sicht der USA schwächt das Atlantische Bündnis somit eher die eigene Handlungsfreiheit (...) Präferabel erscheint danach allenfalls eine NATO, die sich auf eine strategische Arbeitsteilung verpflichten ließe, gemäß der die USA die Kriege führen und die Europäer die Trümmerbeseitigungstruppe stellen. (...)

Die militärische Effektivität der Allianz wird seitens der gegenwärtigen amerikanischen Administration in Anbetracht der neuartigen Risikoszenarien als eher nachrangig erachtet, da sie ohnehin von der Vorstellung ausgeht, künftig in jeweils aktuell zu formierenden Ad-hoc-Koalitionen unter amerikanischer Führung zu agieren. Viel interessanter ist aus dieser Sicht die Nutzung der NATO als eines politischen Gremiums zur Legitimationsbeschaffung für die von der Vormacht angezettelten globalen Kriege. Zugleich sollen möglichst viele potentielle Koalitionäre im »Krieg gegen den Terror« oder gegen die jeweils aktuellen »Schurkenstaaten« eingebunden werden. Darüber hinaus bietet eine derartige Organisation vielfältige, flexibel gestaltbare Kooperationsmöglichkeiten, die vom geheimdienstlichen Informationsaustausch über die Unterbindung illegaler Finanztransaktionen bis hin zur logistischen Unterstützung, rüstungstechnologischem Transfer und ähnlichem mehr reichen. Von nicht zu unterschätzender Attraktivität ist für die atlantische Führungsmacht zudem die Option, die von Fall zu Fall recht disparaten Interessenlagen der europäischen Verbündeten nach dem Motto »divide et impera« rücksichtslos zur Durchsetzung eigener Interessen gegeneinander auszuspielen. (...)

Petrodollar-Kartell

Überlagert wird der im engeren Sinne bündnispolitische Aspekt durch eine weitere Dimension, nämlich die geoökonomische Konkurrenzsituation zwischen den Weltwirtschaftsgiganten USA und EU. Geprägt wird diese Konstellation durch die seitens der USA mit unlauteren militärischen Mitteln betriebene ökonomische Kolonialisierung des Planeten, der entgegenzuwirken die bedeutendste Wirtschaftsmacht der Welt, repräsentiert durch die Europäische Union, ein existentielles Interesse haben muß.

Gerade deshalb tangiert die Entwicklung im Irak massiv die Interessen der Europäischen Union: Mit dem Eroberungskrieg im Zweistromland nämlich versuchten sich die USA eine unschätzbare geoökonomische und -strategische Schlüsselposition in einer der ölreichsten Regionen der Erde zu sichern. Zukünftig wollten sie entscheidend auf die Preis- und Lieferpolitik der OPEC Einfluß nehmen können und nicht zuletzt im Weißen Haus bestimmen, wer zukünftig auf dem Weltmarkt wieviel Öl zu welchem Preis in welcher Währung bekommen wird – im Hinblick auf die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft gegenüber den europäischen und asiatischen Hauptkonkurrenten auf dem Weltmarkt eine höchst komfortable Position. Mittlerweile wird irakisches Öl, das Saddam Hussein seit Jahren nur noch gegen Euro verkauft hatte, wieder ausschließlich in US-Dollar fakturiert – ganz so wie in dem 1974 zwischen den USA und der OPEC geschlossenen Geheimabkommen festgelegt. Und diese Dollars müssen in den Konkurrenzökonomien Europas und Asiens erstmal qua Export primär nach USA verdient werden. Dazu kommt, daß eine erfolgreiche Absicherung der irakischen Eroberung den US-Energiekonzernen die ungestörte Ausbeutung der Öl-Bonanza für die kommenden Jahrzehnte garantieren würde, wie überhaupt die US-Wirtschaft sich am Wiederaufbau des darniederliegenden Landes eine goldene Nase verdienen darf.

Gelänge es dagegen der Europäischen Union, mittels adäquater Wirtschafts- und Handelsstrategien das nach dem Nahostkrieg von 1973 etablierte Petrodollar-Kartell der USA aufzusprengen, wäre der Anfang vom Ende des Imperium Americanum eingeläutet. Die Konsequenz bestünde in einem rapiden Abschwellen des Kapitalstroms in Richtung USA – derzeit liegt er bei etwa zwei Milliarden Dollar pro Tag(!) – aufgrund der verringerten Attraktivität des US-Dollars. Damit wiederum gerieten die USA als weltgrößter Schuldner in eine äußerst prekäre ökonomische Abhängigkeit von ihren Gläubigern in Europa und Asien. Nach über einem halben Jahrhundert globaler ökonomischer Dominanz der USA seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges böte sich der Europäischen Union erstmals die reale Aussicht, den Spieß umzudrehen und nunmehr ihrerseits maßgeblich die Außen- und Wirtschaftspolitik der USA zu beeinflussen. Nicht mehr die Federal Reserve mit Alan Greenspan, sondern die EZB mit Jean-Claude Trichet fungierte als Taktgeber der internationalen Finanz- und Währungspolitik.

Der überragende Effekt einer solchen Entwicklung indessen resultiert aus dem Umstand, daß der Status der USA als unangefochtener militärischer Supermacht unmittelbar abhängt von der Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung – sie allein generiert die unverzichtbaren ökonomischen Ressourcen für den gigantischen US-Militärapparat. Aktuell beläuft sich das jährliche Leistungsbilanzdefizit, das die USA im weltweiten Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital aufweisen, auf nahezu 600 Milliarden US-Dollar, während zugleich das amerikanische Rüstungsbudget zirka 400 Milliarden US-Dollar verschlingt. Etwas simplifiziert ausgedrückt finanziert demnach der Rest der Welt die Militärmaschinerie, welche die USA für ihre imperiale Machtentfaltung benötigen, und legt sogar noch ungefähr weitere 200 Milliarden US-Dollar oben drauf, um die Kosten der Kolonialkriege zu berappen, die von den USA zur Perpetuierung ebendieser, für sie höchst präferablen Weltwirtschaftsordnung geführt werden. In dem Maße, wie es gelingt, die ausbeuterischen und parasitären Strukturen einer gemäß US-Muster globalisierten Weltwirtschaft, die einseitig zum Vorteil der USA funktioniert, zu verändern, wird die Fähigkeit der USA zur globalen militärischen Machtentfaltung dahinschwinden wie Schnee in der Sonne.

Für eine Europäische Union, die sich vom Vasallenstatus gegenüber der atlantischen Hegemonialmacht befreien will, folgt daraus, daß der Königsweg zur Unabhängigkeit mitnichten darin bestehen kann, nun ihrerseits Status und Potenz einer globalen Militärmacht anzustreben, sondern vielmehr im klugen Gebrauch von Diplomatie und wirtschaftlicher Stärke im Rahmen einer eigenen geoökonomisch fundierten Globalstrategie. Darüber hinaus erscheint speziell aus deutscher Sicht nach Jahrzehnten der uneingeschränkten »Luftherrschaft« der »Atlantiker« über den Domänen der strategischen Debatte die Zeit reif für eine »gaullistische« Wende.

Ein Alternativmodell

Welchem Maßstab aber müßte eine zukünftige »Europäische Verteidigungsunion« genügen und nach welchen Kriterien wäre sie zu konstruieren? Die Conditio sine qua non stellt fraglos die strikte Verpflichtung auf und die Bindung an das Völkerrecht dar – und zwar des in der Charta der Vereinten Nationen definierten, nicht des von juristischen Zuhältern nach der jeweiligen Interessenlage des US-Hegemonen zurechtgebogenen. Im Klartext: Im Rahmen einer zukünftigen »Europäischen Verteidigungsunion« dürfte militärische Gewaltanwendung ausschließlich entweder auf der Grundlage eines eindeutigen, gemäß Kap. VII SVN erteilten Mandates des UN-Sicherheitsrates rsp. alternativ der OSZE als regionaler Abmachung der Vereinten Nationen (Kap. VIII SVN) erfolgen oder aber im Rahmen individueller bzw. kollektiver Selbstverteidigung gemäß Art. 51 SVN. Unzweifelhaft ausgeschlossen bleiben müßte jegliche Form der Selbstermächtigung wie sie in der Vergangenheit bereits mehrfach durch die US-dominierte NATO praktiziert wurde.

Kultur der Zurückhaltung

Darüber hinaus wären die Mitgliedstaaten der Europäischen Union gefordert, ihre gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Interessen, also Gegenstand und Geltungsbereich einer zukünftigen »Europäischen Verteidigungsunion«, zu definieren. Mindestens zwei Faktoren wären diesbezüglich zu beachten: Erstens, nicht einer verengten militärischen Sichtweise anheim zu fallen und in der Folge dann nach dem Muster USA jedes politische Problem als Nagel zu definieren, bloß weil man über einen schlagkräftigen militärischen Hammer verfügt. Und zweitens wäre zu berücksichtigen, daß der militärische Interessenhorizont der Europäischen Union keinesfalls globale Dimension besitzt, sondern regional begrenzt bleibt. Die für Europa sicherheitspolitisch relevanten Problemlagen existieren nämlich ohnehin an seiner Peripherie.

Während sich im Osten mittlerweile auf der Grundlage einer komplementären Interessenkonstellation mit der Russischen Föderation der Beginn einer langwährenden strategischen Partnerschaft abzeichnet, bedarf die Situation auf dem Balkan und in Südosteuropa sicherlich bis auf weiteres eines stabilisierenden Engagements. Darüber hinaus hat die Europäische Union mit der Eingliederung der osteuropäischen Beitrittsländer eine Herkulesaufgabe vor sich, der sich absehbar als nächstes die nicht minder gewaltige Herausforderung einer unbedingt notwendigen Integration des restlichen Südosteuropas sowie der Türkei anschließen wird.

Des weiteren bestimmen die teils hochbrisanten Problem- und Konfliktlagen der nahöstlichen und nordafrikanischen Mittelmeeranrainerstaaten die Interessenlage der Europäischen Union und betreffen sie unmittelbar.

All diese politischen, ökonomischen, demographischen und ökologischen Probleme und Konflikte entziehen sich a priori einer Lösung mit militärischen Mitteln. Deshalb gilt es besonderes Augenmerk auf die traditionellen Stärken der Europäischen Union zu richten, nämlich geduldige Diplomatie, multilaterale Konfliktlösung, Stärkung der Vereinten Nationen, kurz: mühsame Friedensarbeit. Die unabdingbare materielle Unterfütterung derartiger Friedenspolitik vermag das erhebliche ökonomische Potential zu leisten, das die Europäische Union hierzu in die Waagschale werfen kann und das den Vergleich mit demjenigen der USA mitnichten zu scheuen braucht. Nicht die »Enttabuisierung des Militärischen« ist in diesem Kontext demnach gefragt, sondern die Rückbesinnung auf eine der Vernunft und der Humanität verpflichtete »Kultur der Zurückhaltung«, gerade was die Anwendung militärischer Macht angeht.

Nichtsdestoweniger kann es Situationen geben, in denen der Rückgriff auf das militärische Potential einer zukünftigen »Europäischen Verteidigungsunion« die letzte Option darstellt, um einen Konflikt, der bereits eskaliert ist oder unmittelbar zu eskalieren droht, soweit zu sedieren, daß Diplomatie überhaupt wieder eine Chance hat, sich im Sinne einer politischen Konfliktlösung mit friedlichen Mitteln auszuwirken – die unter der Ägide der Europäischen Union unlängst in Mazedonien stattgefundene »Mission Concordia« mag vielleicht einen Eindruck hiervon vermitteln.

Der konzeptionelle Schlüsselbegriff hinsichtlich einer zukünftigen »Europäischen Verteidigungsunion« lautet demnach: Begrenzung – und zwar in mehrfacher Hinsicht:

Erstens geht es nicht um Hegemonie oder gar Imperialismus qua militärischer Machtentfaltung nach dem abschreckenden Beispiel der USA, sondern im Gegenteil um die friedenssichernde und friedensverträgliche Beschränkung der militärstrategischen Ambitionen der Europäischen Union. Nicht »Frieden schaffen mit aller Gewalt«, sondern: »Der Frieden ist der Ernstfall«, muß die Devise lauten.

Zweitens wird die Sicherheit der Europäischen Union eben gerade nicht durch sicherheitspolitische Ersatzhandlungen »am Hindukusch« verteidigt wie ein bundesdeutscher Verteidigungsminister mit seinem wahrhaft genialen Geistesblitz dem staunenden Publikum weiszumachen versucht, sondern allenfalls im Mittelmeer und an dessen Küsten. Der Aktionsradius der zukünftigen »Europäischen Verteidigungsunion« muß also auch geographisch vernünftig limitiert bleiben.
Mit möglichst wenigen Waffen

Und schließlich gilt, daß militärisches Dominanzstreben oder gar militaristischer Größenwahn ŕ la USA der Raison d’ętre einer zukünftigen »Europäischen Verteidigungsunion« völlig zuwiderlaufen würde, offenbart sich doch mittlerweile immer deutlicher, daß die Absurdität einer derartigen Politik allererst diejenigen Probleme generiert, die zu bewältigen sie vorgibt. Das koloniale Abenteuer der USA im Irak, dessen vorbehaltlose Unterstützung hohen Blutzoll unter den Vasallenstreitkräften forderte, illustriert, wo die Gefahren liegen. Und auch in Afghanistan könnten die Hilfstruppen der NATO zukünftig schneller und massiver als erwartet unter Feuer geraten. Generell gilt für die Europäer, daß für sie das Risiko, ins Fadenkreuz des islamistischen Terrors zu geraten, umso höher wird, je mehr sie sich an der Seite der Imperialmacht exponieren. Großbritannien, Spanien, Italien und auch die Türkei haben diese bittere Lektion erfahren müssen. Für die Europäische Union ergibt sich daraus die Konsequenz, Abstand zu den USA zu halten, sich gegenüber der islamischen Welt als eigenständiger Akteur zu präsentieren sowie glaubwürdige politische und ökonomische Alternativen anzubieten.

Im Hinblick auf die angestrebte »Europäische Verteidigungsunion« kann daher lediglich ein militärisches Residualpotential als legitim erscheinen, das gleichwohl einer strategisch begrenzten Zielsetzung operativ genügen muß. Aus bitterer historischer Erfahrung klug geworden, hat das alte Europa vor allem der Maxime zu folgen: »Frieden schaffen mit möglichst wenigen Waffen«. Wenn der deutschen und der europäischen Öffentlichkeit an einem solchermaßen konzipierten Projekt einer Friedensmacht Europa gelegen ist, die sich auf den langen Marsch zu einem demokratischen, sozialen und ökologischen Universalismus begibt, so scheint sie zweifelsohne gut beraten, die Vision einer »Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion« ständig kritisch, fast möchte man sagen: mißtrauisch zu begleiten.

* Vortrag in Brüssel am 10. Dezember auf der Konferenz der Linksfraktion des EU-Parlaments "Militarisierung der EU. Stand der Dinge".
Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt hier einzig seine persönliche Auffassung

Der Vortrag wurde auch veröffentlicht in der "jungen Welt" vom 22. Dezember 2004



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