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"Ein Bleiberecht würde helfen"

Bosiljka Schedlich und Pavao Hudik vom südost Europa Kultur e.V. über Roma, Europa und die Integration *

Der Psychologe Pavao Hudik flüchtete 1991 vor dem Krieg in Kroatien nach Berlin. Der 58-Jährige leitet im südost Europa Kultur e.V. mehrere Roma-Projekte.
Bosiljka Schedlich ist Gründerin und Geschäftsführerin des südost Europa Kultur e.V. Die 62-Jährige ist gebürtige Kroatin und lebt seit 1968 in Berlin.


ND: Präsident Sarkozy hat dieses Jahr Tausende Roma aus Frankreich ausgewiesen. Damit hat er bei der EU-Kommision für Wirbel gesorgt. Waren die Ereignisse auch für die Roma in Deutschland spürbar?

Bosiljka Schedlich: Sie haben gesellschaftliche Auswirkungen hinterlassen. Die Roma haben europaweit bestätigt bekommen, dass sie die Verfolgten sind und dass man mit ihnen anders verfährt als mit anderen EU-Bürgern. Sarkozy hätte mit ihnen nicht so umgehen dürfen. Es war gut, dass bei der EU Aufregung entstanden ist.

Die politischen EU-Gremien haben für die Roma Stellung bezogen. Gab es konkrete Hilfe?

Schedlich: Die EU wird uns keine direkte Hilfe anbieten. Wir müssen dort Anträge stellen. Es gibt einen Fonds, der für die Zeit von 2005 bis 2015 eingerichtet wurde. Diese Mittel sind explizit für Roma-Organisationen gedacht. Wir können uns um EU-Mittel aus anderen Fonds bewerben, aber nicht um diese Roma-Mittel.

Die Roma sollen ihre Probleme also selbst lösen?

Schedlich: Diese Situation geht alle Europäer an. Und Organisationen, die sich damit befassen, sollten gemischt sein. Es gibt nicht genug Roma, die die Kompetenz haben und bereit sind, sich mit den Schwierigkeiten der armen Roma zu befassen. Außerdem sind die Roma zu wenig politisch organisiert. Für ihre Integration sind Nicht-Roma genauso gefordert wie sie selbst.

Im Europarat wurde mir kürzlich versichert, für die Integration von Roma gebe es genug Geld.

Schedlich: Für EU-Projekte braucht man einen Eigenanteil von bis zu 50 Prozent. Das ist für kleine Organisationen schwierig.

Wir brauchen eine Struktur und den Willen, dieses europäische Problem zu lösen. Ein Netzwerk an Schritten auf mehrere Jahre angelegt, die dazu führen, dass Kinder in die Kita und die Schule gehen und eine Ausbildung machen. Dafür müssen wir die Eltern da abholen, wo sie stehen. Das bedeutet kleinteilige Mühe von Sozialarbeitern, die zu den Eltern gehen und zunächst Vertrauen bilden: Vertrauen ist das A und O bei der Integration von Menschen, die seit Jahrhunderten am gesellschaftlichen Rand leben und immer wieder vertrieben werden.

Was verbirgt sich hinter Ihrem Projekt »Roma Horizonte«?

Pavao Hudik: Wir versuchen, die Probleme der Roma zu verstehen und mit den Familien Lösungen zu gestalten. Nur dann sind sie motiviert, das Nötige zu tun. Ein Sozialarbeiter muss zum Beispiel erreichen, dass die Eltern oder ältere Geschwister das Kind in den Kindergarten bringen, und zwar jeden Morgen. Das klingt einfach, bedeutet aber viel Vorarbeit. In dem Projekt »Roma Horizonte« gibt es jeden Montag eine Erstberatung: Manche Menschen kommen jeden Montag, manchmal kommen zehn, dann keiner, dann wieder 20. Die Erstberatung zeigt nur, wie viel wir zu besprechen haben. Und das Problem bleibt: Wer begleitet die Leute zum Jobcenter oder in die Schule? Wer schreibt die Anträge?

Wir haben Roma, die wir einstellen können, zum Dolmetschen, zum Begleiten, für die Organisation. Aber wer bezahlt sie?

Wir haben drei Projekte, in denen Roma die Zielgruppe sind. Eines davon ist auf zwei Jahre angelegt, dafür bekommen wir 30 000 Euro. Fünf Mitarbeiter arbeiten auf Honorarbasis und haben große Visionen. Die Projekte laufen aber auf so kleiner Sparflamme, dass wir gerade etwas Vertrauen aufbauen können – und dann endet das Projekt. Schedlich: Das eine ist die Sozialarbeit, die alle brauchen, die außerhalb der Gesellschaft leben. Auch Deutsche sind in der Situation, Fürsorge zu brauchen. Doch die Roma haben kein Mehrheitsvolk, keinen Staat, auf den sie sich berufen können. Deswegen werden sie an den Rand gedrängt.

Aber die Roma haben doch eine nationale Herkunft: Sie kommen aus Bulgarien, Rumänien, Frankreich. Warum stehen diese Nationen nicht für sie ein?

Schedlich: Niemand will sie haben, alle versuchen sie loszuwerden. Und die Roma versuchen ständig anzukommen, wo sie sind.

Wer kann die Roma politisch vertreten?

Schedlich: Wir alle, die europäische und nationale Politik und alle Organisationen. Überall wo Roma sind, muss man sich um sie kümmern. Wir können nicht darauf warten, dass jemand kommt, der die politische Führung der Roma darstellt: Menschen die eine Universitätsausbildung bekommen und sich zu ihrer Roma-Identität bekennen. Auch wenn sie beruflich Erfolg haben, vermeiden sie es, als Roma erkannt zu werden, damit man sie nicht ausgrenzt. Dadurch fehlen sie als Vorkämpfer.

Hudik: Dass die Roma eine Struktur schaffen, um das Problem selbst zu lösen, ist illusorisch. Gerade heute, wo die Gesellschaft so heterogen ist, wird erwartet, dass sich eine Gruppe homogenisiert, und sich dann selbst aus der sozialen Misere befreit.

Welche Möglichkeiten sehen Sie?

Hudik: Organisationen wie wir versuchen, sie zu vertreten, ohne sie zu bevormunden, und ihre Angelegenheiten nachhaltig zu klären. Von staatlicher Seite würde ein Bleiberecht helfen. In den letzten 20 Jahren wurden Roma-Familien durch die Abschiebepraxis immer wieder auseinandergerissen. Viele Männer sind schon fünf, sechs oder zehn Mal abgeschoben worden. Die großen Familien mit vier, fünf Kindern sind dann den Müttern, die häufig Analphabeten sind, überlassen. Sie haben die Sorge um die Kinder und um den Mann, der Mittel braucht, damit er zurückkommen kann. Sie verbringen ihre Zeit zwischen Ausländerbehörde und Jobcenter, vielleicht in Abschiebehaft. Da bleibt kaum Zeit, sich um die schulischen Angelegenheiten ihrer Kinder zu kümmern.

Ein Lösungsvorschlag im Europarat war, dass man große Roma-Gruppen trennt, weil sie so leichter in die französischen Kommunen zu integrieren seien.

Schedlich: Die Großfamilie gehört zur Überlebensstrategie einer jeden Gemeinschaft. In Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es nicht unüblich, 15 oder 20 Kinder zu haben. Das war gerade mal vor hundert Jahren. Es war die Armut, in der so viele Kinder zur Welt gekommen sind. In der modernen Welt ist es eher so, dass zu wenig Kinder geboren werden. Es ist also eine Sache der Integration in eine Industriegesellschaft. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts handelte es sich in Deutschland um Landarbeiter, die in der Stadt angekommen, aber noch nicht aufgenommen waren. Mit den Roma ist das ähnlich.

Was erwarten Sie von Europa, was von den Roma?

Hudik: Europa soll die Leute zur Ruhe kommen lassen, damit sie sich entfalten können. Und die Roma sollen ihre Rechte in Anspruch nehmen. Dazu gehört zum Beispiel der Schulbesuch. Er bedeutet für jede Familie ein Sprungbrett, aber auch Verpflichtungen: beispielsweise keine Fehlzeiten, die Regeln in der Schule anerkennen und intensives Lernen. Das heißt auch, dass die Lehrer die Roma unterstützen. Wenn all das zustande käme, könnten wir die Schwierigkeiten besiegen. Doch das setzt voraus, dass die jetzige Generation zur Schule geht und dass sich die Väter, die ihr Bleiberecht erhalten, darum kümmern, dass die Kinder das Programm durchhalten. Und die Schule und Organisationen wie unsere kümmern sich darum, dass die Kinder gute Noten erreichen. Das alles ist Voraussetzung dafür, dass sie morgen einen Ausbildungsplatz bekommen. Und wenn jemand in einer Firma angestellt wird, ist es selbstverständlich, dass er keine Fehlzeiten hat und Leistung bringt.

Es gibt von den Roma diese romantischen Vorstellungen eines freien Lebens.

Schedlich: Das ist eine Illusion. Menschen, die solche Vorstellungen haben, sollten einmal mit den Roma tauschen. Ich glaube, die Roma würden alle mit uns tauschen. Doch es braucht Zeit, vom Rande der Gesellschaft in die bürgerliche Gesellschaft hineinzuwachsen. Wir sind in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie in die Gesellschaft hineinwachsen und partizipieren können.

Aber dazu scheint Europa nicht bereit zu sein.

Schedlich: Europa wird das tun müssen. Die Menschen sind schließlich da. Wir sollten erkennen, dass wir uns nur wohl und sicher fühlen können, wenn es anderen Menschen auch gut geht. Menschen am Rande der Gesellschaft müssen sich manchmal etwas nehmen, damit sie überleben. Sie geraten in Konflikt mit dem Gesetz. Wir geben Geld für Polizei, Justiz und Gefängnisse aus, wahrscheinlich mehr, als es kosten würde, auf diese Menschen zuzugehen. Unter ihnen gibt es Menschen, die Wissenschaftler oder Künstler werden können. Wir haben auch etwas davon, wenn wir ihnen diese Chance geben.

* Aus: Neues Deutschland, 31. Dezember 2010


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