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Der nächste Raubzug

Hintergrund. Die EU auf dem reaktionären Ausweg aus der Krise

Von Georg Polikeit *

Am 10. März luden jW und Marx-Engels-Stiftung in der Ladengalerie der jungen Welt zu einer Konferenz unter dem Titel »Aggressiver Euro-Imperialismus« ein. Bei der mit über 70 Teilnehmern gut besuchten Veranstaltung referierte neben Hannes Hofbauer, Rainer Rupp und Lucas Zeise (siehe jW-Thema vom 22.3.2012) auch der Journalist Georg Polikeit. Der folgende Text basiert auf seinen Ausführungen.

Ich beginne mit einer vielleicht etwas provokanten Frage zu unserem Thema: Ist der Begriff »Aggressiver Euro-Imperialismus« angesichts der anhaltenden Euro-Krise und der damit beschädigten Autorität der Europäischen Union in der Welt nicht vielleicht doch etwas weit hergeholt? Angela Merkel bittet in China um finanzielle Unterstützung für den Euro-Rettungsschirm – das ist nicht gerade das Bild, das man normalerweise mit dem Begriff »imperialistische Aggressivität« verbindet.

Hier gilt, wie so oft: Der oberflächliche Schein trügt. Besonders, wenn man unter »Aggressivität« nicht nur die Androhung oder Anwendung von militärischer Gewalt versteht. Die Fragen, die wir uns stellen müssen, sind: Warum halten die führenden EU-Kreise – und keineswegs nur die deutsche Kanzlerin, sondern auch die große Mehrheit des regierenden Personals in den anderen Staaten der Union – gegenwärtig mit so großer Hartnäckigkeit an der Währungsunion fest? Warum wollen sie sie unter allen Umständen retten und gegen ein Auseinanderbrechen absichern? Der letzte EU-Gipfel Anfang März hat dies mit der Unterzeichnung des sogenannten Fiskalpakts und weiteren Festlegungen erneut deutlich gezeigt. Und wieso soll nach dem Willen der deutschen Kanzlerin, aber auch anderer führender Politiker trotz durchaus einflußreicher Gegenstimmen auch Griechenland unbedingt in der EU und in der Währungsunion gehalten werden?

Global Player

Das entscheidende Motiv dafür ist die Überlegung, daß andernfalls ein Prozeß der Desintegration und des zunehmenden Zerbröckelns der EU als Ganzes die Folge wäre. Und das würde die globalpolitische Rolle, die sich die führenden EU-Kreise mit ihrer Gründung zum Ziel gesetzt haben, nachdrücklich beschädigen und auf Dauer unmöglich machen.

Die in Brüssel tonangebenden Kreise haben aufgrund der Krise keineswegs auf die Ambition verzichtet, die EU sowohl ökonomisch wie politisch und zum Teil auch militärisch zu einem eigenständigen »global player« zu machen. Gerade weil sie an diesem Ziel festhalten, versuchen sie alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Gemeinschaftswährung zu sanieren, die »Schuldenländer« im Euro-Raum zu halten und zugleich die Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten gegenüber den Mitgliedstaaten weiter auszubauen.

Dieser Ausbau der Kontroll-, Regulierungs- und Weisungsbefugnisse der EU-Zentralen gegenüber den Mitgliedstaaten über die einst im Maastricht- und auch im Lissabon-Vertrag festgelegten Regeln hinaus wurde nicht erst mit dem Fiskalpakt begonnen. Er ist massiv schon seit etwa zwei Jahren im Gang. Das ist offenkundig der Hauptweg, mit dem die EU-Oberen der Krise begegnen und zugleich gestärkt aus ihr hervorgehen wollen.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat in seinen Thesen vom September 2011 nicht ohne Grund betont: »Die deutsche Industrie hat größtes Interesse am Erhalt des Euro sowie am Fortbestand und der Weiterentwicklung der Europäischen Union.« Europa müsse jetzt »einen deutlichen Sprung vorwärts in seinen Stabilisierungsmaßnahmen« machen, hieß es in dem Papier. Die Schuldenkrise solle als »Chance« begriffen werden, um »langfristig notwendige Weichenstellungen endlich anzupacken«. Wenige Tage später schob der BDI eine gemeinsame Stellungnahme mit dem französischen Unternehmerverband MEDEF und der italienischen Confindustria nach, die in dieselbe Richtung wies.[1]

Damit haben die Industriellenvertreter meiner Meinung nach die strategischen Interessen der führenden Kapitalkreise Deutschlands genau beschrieben. Denn die heutige Rolle der BRD und des deutschen Kapitals in der Welt ist untrennbar mit der Existenz der EU und dem Euro – als zweiter »Weltreservewährung« neben dem Dollar – verbunden. Gleichzeitig unterstrich der BDI damit aber auch, daß diese Orientierung in enger Absprache mit den dominierenden Kapitalfraktionen Frankreichs und anderer EU-Staaten verfolgt wird, also offensichtlich auch deren Interessen entspricht.

Die Entwicklung der EU über eine Zollunion und den »europäischen Binnenmarkt« hinaus zu einer »politischen Union« mit staatsähnlichem Charakter und entsprechenden Institutionen auf supranationaler Ebene, bei der wichtige nationale Souveränitätsrechte auf die EU- oder Euro-Gremien übertragen wurden, hatte von Anfang zwei Seiten, eine nach innen und eine nach außen gerichtete.

Nach innen ging es um die Formierung eines Binnenmarktes ohne Zollgrenzen, mit völliger Freiheit des Waren-, Dienstleistungs- und vor allem des Kapitaltransfers, als ökonomische Basis für den Ausbau politischer Lenkungsstrukturen gegenüber den Mitgliedstaaten, verbunden mit der Ein- und Unterordnung der süd- und osteuropäischen Peripherie unter die Interessen der »Kernstaaten«. Diesem Zweck diente auch die Einführung des Euro als gemeinsame Währung und die Unterordnung der nationalen Staatsbanken unter das Europäische Zentralbankensystem.

Nach außen war die Ausbildung der EU zu einem eigenständigen globalen Akteur ein von Anfang an ausdrücklich proklamiertes wesentliches Ziel. Dazu gehörte die Entwicklung entsprechender außen- und wirtschaftspolitischer Instrumente, darunter ein Netz von vielfältigen »Partnerschaftsabkommen« mit den Nachbarstaaten der EU in Osteuropa, im Mittelmeer- und Nahostraum sowie der Aufbau eines eigenen außenpolitischen Dienstes, der jetzt langsam in Gang kommt und operativ wird. Ebenso wurden zur Erreichung dieses Ziels die Entwicklung militärischer Operationsfähigkeit und entsprechender Strukturen sowie eigenständige Militäreinsätze in den verschiedensten Teilen der Welt vorangetrieben.[2] Die EU sollte zu einem ökonomischen, politischen und militärischen Zentrum neben den USA entwickelt werden, und zwar in Partnerschaft und Kooperation mit den USA, wo es sich anbot und möglich war, gegebenenfalls aber auch in verdeckter oder offener Konkurrenz.

Ungleichmäßige Entwicklung

Das alles entsprang natürlich nicht dem Wunsch nach der Verwirklichung irgendeiner edlen »europäischen Idee«, wie immer wieder erzählt wird. Es wurde Wirklichkeit, weil es den derzeitigen ökonomischen und politischen Interessen der in den EU-Staaten ansässigen und dominierenden großen transnationalen Konzernen, den Interessen der dominierenden Monopolgruppen des Bank-, Industrie-, Handels- und Agrarkapitals entsprach.

Insofern kann meiner Meinung nach zu Recht vom imperialistischen Charakter der EU gesprochen werden. Die EU und die Eurogroup sind supranationale politische Strukturen, mit denen Europa den Profit- und Machtinteressen der multinationalen Konzerne unterworfen wird und zugleich ihren globalpolitischen Expansionsinteressen mehr Nachdruck verschafft werden soll. Allerdings bedarf der Begriff »Euro-Imperialismus« dabei meiner Ansicht nach doch noch einer gewissen weiteren Erklärung und Präzisierung. Denn von einem homogenen »Euro-Imperialismus« der 27 EU-Staaten oder auch nur der 17 Euro-Staaten kann keine Rede sein. Es gibt zwar heute in allen Ländern der Europäischen Union große Konzerne, die in der Wirtschaft des jeweiligen Landes eine entscheidende Rolle spielen. Wenn Imperialismus nicht nur als politisches Phänomen, als Expansionsdrang nach außen begriffen wird, sondern ein eigenes Entwicklungsstadium in der historischen Entwicklung des Kapitalismus darstellt, dann gibt es heute wohl in all diesen Staaten Wirtschaftsstrukturen, von denen sich sagen läßt, daß sie monopolistischen Charakter tragen, daß sie von dem aus der Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital hervorgegangenen Finanzkapital beherrscht werden. Aber das Verhältnis zwischen transnationalen, meist aus anderen EU-Staaten heraus agierenden Monopolgruppen und dem einheimischen, selbst mehr oder weniger stark konzentrierten Kapital ist in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich.

Die Euro-Krise hat die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen Entwicklung zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten besonders deutlich sichtbar gemacht. Sie ist kein Fehler der Konstruktion der Gemeinschaftswährung, sondern ein gesetzmäßiges Produkt der kapitalistischen Entwicklung, also systembedingt. Diese Ungleichmäßigkeit der ökonomischen Entwicklung war und ist der entscheidende Grund für die Entstehung und das lange Andauern der Euro-Krise und für die großen Schwierigkeiten, auf die die Kapitalisten und Politiker bei dem Versuch stoßen, wieder zu stabileren ökonomischen Verhältnissen zurückzufinden.

In den EU-Verlautbarungen ist häufig von »Integration« die Rede. Aber eine wirkliche Angleichung der Wirtschafts-, Arbeits- und Lebensbedingungen in den einzelnen Staaten im Interesse der Bevölkerung war damit natürlich nie gemeint. Es ging bei der vielbeschworenen »europäischen Integration« immer um die Ausgestaltung des Binnenmarkts und der darauf aufgebauten politischen Strukturen entsprechend den Interessen der dominanten transnational operierenden Konzerne. Und damit zugleich um einen Prozeß der Einbindung und Unterordnung der Schwächeren unter die Stärkeren, um die Herausbildung von hegemonialen Strukturen einiger imperialistischer Führungsmächte über den Rest der Mitgliedstaaten.

Aufgrund seiner größeren ökonomischen und finanziellen Potenzen konnte sich Deutschland dabei im Zusammenwirken mit Frankreich eine zunehmend größere Vormachtstellung verschaffen und immer mehr die zentrale Führungsrolle in der EU übernehmen.

Konkurrenz und Kooperation

Natürlich vollzog sich und vollzieht sich dieser Prozeß auch heute nicht ohne innere Gegensätze und Konflikte. Durch die EU- und Euro-Strukturen verschwindet die Konkurrenz zwischen den dominierenden Monopolgruppen nicht, und ebenso wenig die Interessenunterschiede zwischen den bourgeoisen Kreisen, die in den einzelnen Nationalstaaten jeweils den Ton angeben. Die Europäische Union bleibt also ein Feld von Konkurrenzkämpfen und Konflikten zwischen unterschiedlichen Kapitalgruppen und dem ihnen dienenden politischen Personal.

Beides ist gleichzeitig vorhanden: einerseits die Tendenz zur Kooperation und Absprache über ein gemeinsames Vorgehen in der internationalen Arena zur Verfolgung gemeinsamer ökonomischer und politischer Interessen im globalen Maßstab, andererseits die zur Verstärkung der Gegensätze innerhalb der EU. Insbesondere und in jüngster Zeit deutlich zunehmend zwischen der dominanten Führungsmacht Deutschland und anderen, kleineren und ökonomisch schwächeren Nationen.

Zugleich möchte ich allerdings auch erwähnen, daß ich die These, die EU sei nur ein europäischer Mantel, mit dem der deutsche Imperialismus nun zum dritten Mal zum Sprung nach der Weltmacht ansetzt, für eine zu schablonenhaft auf die heutige Zeit übertragene und überspitzte historische Parallele halte. Man sollte nicht übersehen, daß es da einen beachtlichen Unterschied gibt. Zweimal hat der deutsche Imperialismus auf sich allein gestellt versucht, mit militärischer Gewalt seine Herrschaft über Europa und andere Weltregionen zu errichten. Doch die Zeiten, um dies ein drittes Mal anzugehen, sind heute vorbei. Vor allem wegen der neuen Kräfteverhältnisse, die in den letzten Jahrzehnten in der Welt entstanden sind. Wozu neben der nach wie vor vorhandenen globalpolitischen Dominanz der USA u.a. die Existenz einer großen Mehrheit von nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Zusammenbruch der Kolonialreiche entstandenen unabhängigen Nationalstaaten, aber auch das Aufkommen einer Reihe von neuen Mächten mit zunehmender weltweiter Bedeutung wie China, Indien oder Brasilien gehört.

Trotz seiner relativen Stärke ist das in Deutschland ansässige Monopolkapital in dieser veränderten Lage nicht mehr fähig, sich eine globalpolitische Vormachtstellung auf sich allein gestellt zu verschaffen, schon gar nicht vorwiegend oder ausschließlich mit militärischen Mitteln. Zur Verfolgung seiner globalen Interessen ist das in Deutschland ansässige Monopolkapital heute darauf angewiesen, sich mit den maßgeblichen Kapitalkreisen anderer EU-Staaten, mit denen es bereits durch ein dichtes Netz von ökonomischen, finanziellen und produktionstechnischen Beziehungen eng verknüpft, wenn nicht verschmolzen ist, auf gemeinsame Konzepte und Vorgehensweisen zu verständigen.

Das geht nicht ohne Auseinandersetzungen untereinander ab. Und natürlich ist das deutsche Finanzkapital dabei bestrebt und dank seiner stärkeren ökonomischen Potenzen oft auch in der Lage, den Kurs zu bestimmen. Aber zugleich schließt dies eben doch auch den Zwang zu Kompromissen und zu einer gewissen Respektierung von Interessen der Kapitalgruppen anderer Staaten und der in ihrem Dienst agierenden Regierungen und Politiker ein. Das gilt besonders für das Verhältnis zu Frankreich und anderen EU-Kernstaaten. Gelegentlich aber auch gegenüber den kleineren Ländern, ohne deren Mittun das Ziel, die Europäische Union zu einem »global player« neben den USA zu machen, nicht zu verwirklichen wäre.

Euro soll erhalten werden

Nun ist in jüngster Zeit von verschiedenen Seiten – auch von linken Autoren – viel vom bevorstehenden Auseinanderbrechen der Währungsunion und der EU insgesamt die Rede gewesen. Es gibt dafür angesichts der Tiefe und Zuspitzung der Krise und der enormen Schwierigkeiten, mit denen die führenden EU-Kreise derzeit konfrontiert sind, meiner Meinung nach sicher auch eine ganze Reihe von guten Gründen. Es wird immer deutlicher, daß die bisherigen, insbesondere von der deutschen Regierung verfochtenen neoliberalen »Spar«- und Privatisierungsrezepte die betroffenen Staaten immer tiefer in die Krise hineindrücken, deren Wirtschaften buchstäblich »kaputtsparen«.

Dennoch muß man mit solchen Prognosen äußerst vorsichtig und zurückhaltend umgehen. Wenn wir untersuchen, welchen politischen Kurs die EU-Oberen derzeit einschlagen, dann müssen wir feststellen, daß ihre strategische Haupt­orientierung unzweideutig darauf abzielt, die Währungsunion tatsächlich zu erhalten. Dafür werden enorme Anstrengungen unternommen. Ich erinnere nur an die vorhin schon erwähnten »Neuerungen«, die in den letzten zwei Jahren umgesetzt worden sind – ohne darauf im einzelnen eingehen zu können. Da war das im letzten Jahr erstmalig praktizierte »Europäische Semester« mit seiner Vorabkontrolle der nationalen Haushaltsplanungen durch die EU-Kommission, das jetzt in diesem Frühjahr zum zweiten Mal begonnen wird. Dann der damit eng verknüpfte »Euro-Plus-Pakt«, der die Mitgliedstaaten zur Vorlage nationaler »Reformpläne« zur »Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit« und neuerdings auch zum »Abbau drohender wirtschaftlicher Ungleichgewichte« zwingt. Schließlich der »Sixpack« von sechs neuen EU-Verordnungen zur Stärkung der »Durchgriffsrechte« der EU- und Euro-Zentralinstanzen gegenüber den Mitgliedstaaten. Und der nun unterschriebene »Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion«, wie der »Fiskalpakt« offiziell heißt [3]. Darin werden die Staaten bekanntlich zur Aufnahme einer verfassungsrechtlich geltenden, also nur noch mit Zweidrittelmehrheit oder per Volksabstimmung wieder aufheb- oder veränderbaren »Schuldenregel« in ihr nationales Recht nach dem Modell der deutschen Schuldenbremse verpflichtet.

Zusammengefaßt läßt sich meiner Ansicht nach anhand der Texte dieser in den letzten zwei Jahren auf den Weg gebrachten neuen Abmachungen und Verträge durchaus sagen, daß mit diesen Veränderungen die Mitgliedstaaten erheblich schärfer als bisher an die Kandare genommen und einer stärkeren wirtschaftspolitischen Lenkung und Steuerung durch die EU- bzw. Euro-Zentralen unterworfen werden. Unter der Bezeichnung »europäische Wirtschaftsregierung« erreichen die Machtbefugnisse der EU- und Euro-Zentralen gegenüber den Mitgliedsstaaten damit tatsächlich eine neue Qualität.

Und es geht dabei nicht nur um eine straffere Kontrolle der »Schuldenstaaten«. Es geht darum, in der gesamten EU eine Wirtschafts-, Haushalts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik durchzusetzen, die, wenn das überhaupt möglich ist, noch schärfer als bisher an den Rezepten der neoliberalen Wirtschaftsdoktrinen orientiert ist.

»Hartz IV« europaweit

Ziel ist auch nicht allein der Abbau von Haushaltsdefiziten, sondern einen EU-weiten Schuldenabbau in eine ganz bestimmte Richtung zu betreiben. Es geht um die Abwälzung der Krisenlasten von den eigentlichen Verursachern auf die große Mehrheit der Bevölkerung und damit um eine weitere grundsätzliche Veränderung der Verteilungsrelationen des produzierten Reichtums zugunsten des großen Kapitals und zu ungunsten der abhängig Beschäftigten. Also um das Herabdrücken des Preises der Ware Arbeitskraft in allen EU-Staaten auf ein weitaus niedrigeres Niveau als bisher.

Besondere Beachtung verdient dabei auch, was gemeint ist, wenn in der letzten Zeit von Merkel und anderen führenden EU-Politikern immer häufiger zu hören ist, daß Haushaltssanierung und Schuldenabbau allein nicht ausreichten. Es müsse auch für mehr Wirtschaftswachstum durch »Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit« und »strukturelle Reformen« gesorgt werden. Auf dem EU-Gipfel Anfang März war das in den offiziellen Verlautbarungen ein zentrales Thema. Wir sollten nicht annehmen, daß dies bloß hohles Gerede ist. In der Tat werden die Führungskreise bestrebt sein, in den EU-Staaten auch wieder mehr ökonomisches Wachstum zu schaffen, natürlich ganz und gar auf kapitalistische Art.

Dazu gehören auch mit Staatsgeldern oder Mitteln aus Brüssel geförderte größere Investitionsprojekte in verschiedenen EU-Ländern, möglicherweise auch in Griechenland, Spanien oder Portugal. Aber natürlich geht es um Projekte, die Profit bringen sollen. Deshalb sollen gerade durch »Strukturreformen«, die im Namen der Krisenbewältigung gefordert werden, die Bedingungen für mehr Profitabilität des eingesetzten Kapitals verbessert werden. Was darunter zu verstehen ist, wird daran deutlich, daß beispielsweise Frau Merkel in ihrer Rede vor dem Davoser Wirtschaftsforum Ende Januar wörtlich »die Arbeitsmarktreformen in Deutschland, die unter dem Markenzeichen Hartz IV bekannt geworden sind«, als gutes Beispiel hervorhob [4]. Das war ernst gemeint: Hartz IV als Modell für ganz Europa!

In den erwähnten EU-Texten findet sich ein ganzer Katalog von Hinweisen zu den »strukturellen Reformen«, die in den EU-Staaten im Namen der »Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit« in Angriff genommen werden sollen. Unter anderem wird ein ständiger Vergleich der Lohnstückkosten zwischen den einzelnen EU-Staaten befürwortet, natürlich mit der Absicht ihrer weiteren Senkung. Zu den empfohlenen »strukturellen Reformen« gehört auch die weitere Deregulierung des Arbeitsrechts, vor allem des Kündigungsschutzes, und die Erleichterung von Entlassungen nach der Methode »Heuern und Feuern«. Ausdrücklich empfohlen wird ferner die Überprüfung der geltenden »Lohnfindungsmechanismen«, was auf die Aufhebung der in manchen Staaten noch bestehenden Indexierung, das heißt der Koppelung der Lohnentwicklung an die Inflationsrate, vor allem aber in allen EU-Staaten das Aufknacken des geltenden Tarifvertragsrechts durch die allgemeine Einführung betrieblicher Öffnungsklauseln hinausläuft. Gedrängt wird ferner auf die Erleichterung der Einführung und Verallgemeinerung von befristeten Arbeitsverhältnissen sowie auf die Ausweitung von Teilzeit- und Leiharbeit, also des Niedriglohnsektors.

Auf Kosten der Bevölkerung

Natürlich soll und wird das auf Kosten der großen Mehrheit der Bevölkerung gehen. Aber solange diese, wenn auch mit Wut im Bauch, die aufgezwungenen Opfer letztlich doch hinnimmt, ist das Bemühen der herrschenden Kreise, wenigstens zeitweilig wieder einen Ausweg aus der Krise zu finden und zu einer Restabilisierung des Euro-Gefüges zu kommen, meiner Ansicht nach nicht völlig aussichtslos.

Wir sollten dabei auch bedenken, daß es nicht nur Krisenverlierer, sondern auch Krisengewinner gibt. Die Banken, Versicherungskonzerne und Hedgefonds etwa haben in und mit der Krise durchaus gute Geschäfte gemacht. Der Sinn der EU-»Rettungsschirme« besteht doch gerade darin, die Zinseinkünfte und Kapitalrückflüsse aus den verschuldeten Staaten für die großen Finanzkonzerne sicherzustellen, weshalb wir zu Recht sagen, daß diese »Rettungsschirme« keine Rettungsschirme für die betreffenden Länder und ihre Bevölkerung, sondern für die Banken sind. Für diese Kreise ist die »Überwindung der Krise« gar nicht so dringend, denn sie gedeihen auch in und mit ihr.

Die entscheidende Frage bleibt deshalb weiterhin, wie lange es den Herrschenden noch gelingen kann, die Lasten der Krise trotz aller gewachsenen Gegenwehr letztlich doch auf die Bevölkerung abzuwälzen. Wie lange läßt sich der Ausbruch von sozialen und politischen Konflikten in Europa, die die Macht des Kapitals und seiner Regierungen tatsächlich bedrohen könnten, noch verhindern?

Der Widerstand ist europaweit in der letzten Zeit erheblich stärker geworden. Aber wahr ist auch, daß er dennoch bisher keine durchschlagenden Erfolge erreicht hat. Trotz aller den Völkern aufgebürdeten Belastungen herrscht neben der Wut und dem Zorn eben doch gleichzeitig auch die Tendenz, die abgepreßten Krisenopfer letztlich hinzunehmen und sich mit der Verschlechterung der Situation abzufinden. Was uns darauf verweist, daß nicht nur die objektive Verschärfung der sozialen Gegensätze, sondern vor allem die Entwicklung des subjektiven Faktors, des Kampfwillens und der Kampfentschlossenheit der Betroffenen, entscheidend ist.

Anmerkungen
  1. »Ein neuer Vertrag für den Euro – 12 Thesen aus einer industriellen Perspektive«, www.bdi.eu/download_­content/Ein_neuer_Vertrag_fuer_den_Euro.pdf sowie www.bdi.eu/download_content/Gemeinsamer_Aufruf_von_BDI_Confindustria_MEDEF.pdf
  2. siehe europa.eu/pol/cfsp/index_de.htm
  3. Wortlaut siehe european-council.europa.eu/media/639244/04_-_tscg.de.12.pdf
  4. www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Rede/2012/01/2012-01-25-bkin-davos.html
* Aus: junge Welt, 28. März 2012


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