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Machtlose Einrichtung

Vor 30 Jahren wurde das Europa-Parlament erstmals direkt gewählt. Seitdem sinkt die Wahlbeteiligung. Einfluß haben die Abgeordneten nur wenig

Von Andreas Wehr *

Mit Flaggenhissung, ausgeführt von Soldaten eines Eurocorps, und dem Abspielen der Hymne »Ode an die Freude« wurde am Montag in Strasbourg feierlich der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments vor 30 Jahren gedacht. Doch was wurde da gefeiert? Seit 1979 sinkt die Beteiligung an den Wahlen zu diesem Parlament. Bei der im Juni waren es nur noch 42,9 Prozent der Bürger, die von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen wollten.

Es hat sich herumgesprochen, daß das Europäische Parlament kein richtiges Parlament ist. Es fehlen ihm die entscheidenden Machtmittel, die einem echten Parlament eigen sind. Als Legislative hat es keinen Zugriff auf die Kommission als die Quasiexekutive. So kann es den Kommissionspräsidenten nicht wählen. Der wird vielmehr vom Rat ernannt und anschließend von den Abgeordneten bestätigt. Daran wird sich auch mit dem Lissabonner Vertrag nichts ändern. Auch dann wird der Rat dem Parlament nur einen Kandidaten vorschlagen.

Kein Initiativrecht

Das Europäische Parlament besitzt auch kein Initiativrecht. Es kann von sich aus keine Gesetzeswerke auf den Weg bringen, ja es kann nicht einmal die von ihm mitbeschlossenen Richtlinien und Verordnungen überarbeiten oder aufheben, wenn es das für nötig hält. »Ende 2008 legten Parlamentarier eine Liste mit 57 Punkten vor. So oft hatte das Hohe Haus die EU-Kommission gebeten, Gesetze auf den Weg zu bringen. In knapp 90 Prozent der Fälle hatte die Brüsseler Behörde nichts unternommen. Da sich die meisten Vorschläge auf die Regulierung der Finanzmärkte bezogen, waren die Abgeordneten besonders frustriert.« (FR vom 3. Juni 2009)

Das Parlament beschränkt sich meist darauf, das eine oder andere an den Kommissionsvorlagen zu streichen bzw. zu ergänzen. Gelegentlich gelingt es ihm, etwas aufzuhalten, so geschehen bei der Abwendung der vollständigen Liberalisierung des öffentlichen Nahverkehrs. Die Liste der vom Parlament zurückgewiesenen Gesetzesvorhaben der Kommission ist denn auch kurz: »Zweimal in fünf Jahren ließen die Abgeordneten ihre Muskeln spielen und verhinderten Gesetze, die ihnen nicht paßten. Anfang 2006 schmetterten sie den Vorschlag ab, die Dienstleistungen in den europäischen Häfen zu liberalisieren. Ein halbes Jahr zuvor hatten sie Regeln für die Patentierung von Computersoftware abgelehnt.« (FR vom 3. Juni 2009) Hinzugefügt werden kann hier die kürzlich erfolgte Verweigerung des Parlaments, bei einer rückwärtsgewandten Reform der Arbeitszeitrichtlinie Hilfestellung zu geben.

Läßt sich das Europäische Parlament politisieren? Wahlen zum Europäischen Parlament bieten immer wieder Anlaß für die unterschiedlichsten Vorschläge für seine Aufwertung. Verlangt wird meist eine personelle Politisierung des Europawahlkampfes. Die europäischen Parteien sollten dafür mit eigenen Spitzenkandidaten in die Auseinandersetzung gehen. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) schlägt sogar vor, daß »die Europäer einen US-Präsidenten nach dem Vorbild des amerikanischen Staatschefs direkt wählen.« (Financial Times Deutschland vom 3. Juni 2009) Andere fordern, die jeweils stärkste Fraktion im Parlament dadurch aufzuwerten, daß sie etwa bei Ausschußbesetzungen bevorzugt wird. Auch sollte das Amt des Parlamentspräsidenten zukünftig mit Mehrheit für fünf Jahre gewählt und nicht, wie gegenwärtig, in Absprache zwischen Konservativen und Sozialdemokraten für jeweils zweieinhalb Jahre vergeben werden.

All diese Vorschläge zielen auf eine Politisierung des Parlaments, indem dort die ewige große Koalition zwischen Konservativen und Sozialdemokraten beendet oder zumindest eingeschränkt wird. Sie alle berücksichtigen aber nicht, daß das Parlament zur Ausschöpfung seiner Mitent­scheidungsrechte gerade auf die Mitwirkung möglichst vieler Mitglieder und Fraktionen angewiesen ist. Will es einmal wirklich Kommission oder Rat widersprechen, so reicht dazu ein Lager nicht aus. Die dafür erforderlichen Mehrheiten sind nur erreichbar, wenn es eine Verständigung unter Konservativen und Sozialdemokraten und möglichst auch noch mit anderen Fraktionen, bis hin zur Linken, gibt.

Keine Stimmengleichheit

Ändern läßt sich auch nicht, daß das Europäische Parlament eher eine direkt gewählte, kontingentierte Staatenkammer als ein wirkliches Parlament ist. Um die sehr großen Unterschiede bei den Bevölkerungszahlen der Mitgliedsländer auch nur halbwegs auszutarieren, sind die großen Staaten unter- und die kleinen überrepräsentiert. Dem Europäischen Parlament fehlt es demnach an einer entscheidenden Voraussetzung: Die Gleichheit der Stimmen.

Diese dem Europäischen Parlament gesetzten Grenzen hat jetzt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Lissabonner Vertrag vom 30. Juni 2009 zum Anlaß genommen, seine Haltung zum Parlament zu korrigieren. In seinem Maastricht-Urteil von 1993 hatte es noch die Hoffnung geäußert, daß das Europäische Parlament einen wesentlichen Beitrag zur Demokratisierung der EU leisten könne. Für »entscheidend« hielt das Gericht damals, »daß die demokratischen Grundlagen der Union Schritt haltend mit der Integration ausgebaut werden. (...) »Heute, nach Jahren weiterer zügiger europäischer Integration, stellt das Gericht nüchtern fest: »Die Europäische Union erreicht beim gegenwärtigen Integrationsstand auch bei Inkrafttreten des Vertrags (von Lissabon, A.W.) noch keine Ausgestaltung, die dem Legitimationsniveau einer staatlich verfaßten Demokratie entspricht.«

Im Europäischen Parlament sehen die Bundesverfassungsrichter nunmehr »kein Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes.« Es »bleibt vor diesem Hintergrund in der Sache wegen der mitgliedstaatlichen Kontingentierung der Sitze eine Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten«.

Dreißig Jahre nach den ersten Direktwahlen steht das Europäische Parlament an einem Wendepunkt seiner Geschichte. Bisher gehegte Hoffnungen, daß es allmählich zu dem demokratischen Legitimationsorgan für die europäische Integration wird, sind wohl endgültig aufzugeben. Daran ändern auch Flaggenhissungen und das Abspielen von Hymnen nichts.

* Der Beitrag ist ein Auszug aus dem Artikel »Nach den Wahlen -- das Europäische Parlament am Wendepunkt«, der in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift marxistische Erneuerung Z erscheint.

Aus: junge Welt, 14. Juli 2009


Urteil: Kein Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes

Das Bundesverfassungsgericht erklärte in seinem Urteil vom 30. Juni 2009 über den sogenannten Lissabon-Vertrag der EU (EUV-Lissabon) unter anderem:

(...) Gemessen an verfassungsstaatlichen Erfordernissen fehlt es der Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon an einem durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustandegekommenen politischen Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen Repräsentation des Volkswillens. Es fehlt, damit zusammenhängend, zudem an einem System der Herrschaftsorganisation, in dem ein europäischer Mehrheitswille die Regierungsbildung so trägt, daß er auf freie und gleiche Wahlentscheidungen zurückreicht und ein echter und für die Bürger transparenter Wettstreit zwischen Regierung und Opposition entstehen kann. Das Europäische Parlament ist (...) kein Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes. Dies spiegelt sich darin, daß es als Vertretung der Völker in den jeweils zugewiesenen nationalen Kontingenten von Abgeordneten nicht als Vertretung der Unionsbürger als ununterschiedene Einheit nach dem Prinzip der Wahlgleichheit angelegt ist. (...)

Das Europäische Parlament bleibt vor diesem Hintergrund in der Sache wegen der mitgliedstaatlichen Kontingentierung der Sitze eine Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten. Die degressiv proportionale Zusammensetzung, die Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 Satz 3 EUV-Lissabon für das Europäische Parlament vorschreibt, steht zwischen dem völkerrechtlichen Prinzip der Staatengleichheit und dem staatlichen Prinzip der Wahlrechtsgleichheit. (...) Das führt dazu, daß das Gewicht der Stimme des Staatsangehörigen eines bevölkerungsschwachen Mitgliedstaates etwa das Zwölffache des Gewichts der Stimme des Staatsangehörigen eines bevölkerungsstarken Mitgliedstaates betragen kann. (...)




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