OSZE hart an der Existenzgrenze
Langes Ringen um Abschlussdokument
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Ein Streit um die Abschlusserklärung hat am zweiten und letzten Tag den Gipfel der Organisation für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Kasachstan überschattet. Bis zum späten
Donnerstagabend (Ortszeit) war unklar, ob sich die Vertreter der 56 OSZE-Mitglieder auf ein
Schlussdokument einigen konnten. Der Konflikt verläuft vor allem zwischen Georgien und Russland.
Der türkische Staatspräsident Abdullah Gül hatte die Teilnehmer beschworen, sich auf eine
inhaltsreiche Erklärung zu einigen. »Lasst uns Entschlossenheit zeigen, dass die OSZE den
Aufgaben gewachsen ist.«
Man müsse es offen sagen: »Die OSZE beginnt, ihr Potenzial zu verlieren« Russlands Präsident
Dmitri Medwedjew hatte allen Grund zu harscher Kritik an der Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa (OSZE), deren zweitägiger Gipfel gestern in Kasachstans Hauptstadt
Astana – dem einstigen Zelinograd – zu Ende ging. Zwar hatte Gastgeber Nursultan Nasarbajew die
Tatsache, dass sich die Organisation nach elf Jahren erstmals wieder zu einem Treffen auf höchster
Ebene aufraffte, als »Wiedergeburt« gefeiert. Fast wäre es jedoch eine Totgeburt geworden.
Georgiens Präsident Michail Saakaschwili wollte die von Experten in monatelanger Kleinarbeit
ausgehandelte Abschlussdeklaration per Veto verhindern – Beschlüsse können nur im Konsens aller
56 Mitgliedstaaten gefasst werden –, wenn aus dem Dokument die »scharfen Ecken« verschwinden.
Gemeint war Kritik an Russland, das seine Truppen nicht aus den abtrünnigen Regionen Abchasien
und Südossetien und damit auf die Linie vor Beginn des Krieges im August 2008 zurückgezogen
hat. Die meisten westlichen Staaten sehen darin einen Verstoß gegen den unter Vermittlung von
Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy ausgehandelten Waffenstillstand.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow dagegen drohte mit Verweigerung seiner Unterschrift für
das Abschlussdokument, sollte dort von einem »Konflikt in Georgien« oder von »territorialer
Integrität Georgiens in Bezug auf frühere Grenzen« die Rede sein. Russland hatte Abchasien und
Südossetien gleich nach dem Krieg als unabhängig und damit als eigenständige Subjekte des
Völkerrechts anerkannt. Für den Westen sind beide Regionen Bestandteile Georgiens.
Das Thema Georgien beherrschte die Diskussion in Astana über weite Strecken und machte nicht
nur den von Russland kritisierten Reformstau und den Modernisierungsbedarf der OSZE deutlich,
sondern auch deren Identitätskrise. Gegründet 1975 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, tut sie
sich schwer mit adäquaten Reaktionen auf politische Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Einer der Gründe dafür, dass ein Konsens über die künftige Ausrichtung der OSZE auch in Astana
verfehlt wurde.
Der zweite, wichtigere hat mit Fortbestehen der alten Blockmentalität zu tun. Genervt von
permanenter Kritik an Demokratiedefiziten – vor allem an Abstimmungen, die angeblich europäische
Standards verfehlen – und Menschenrechtsverletzungen, fordern Russland und andere ehemalige
Sowjetrepubliken eine Reform der Statuten, mit denen der Tätigkeit von OSZE-Wahlbeobachtern
und der Mitarbeit nichtstaatlicher Organisationen Grenzen gesetzt werden. Mit eben diesem
Hintergedanken wollte auch Gastgeber Nasarbajew andere Themen einbringen: wirtschaftliche und
finanzielle Sicherheit, Umweltschutz oder religiöse Toleranz.
Die EU-Staaten und die USA dagegen wollen die OSZE vor allem auf mehr Engagement für
Demokratie und Menschenrechte einschwören und sie in Fragen der Sicherheitspolitik möglichst mit
rein regionalem Konfliktmanagement befassen – um zu vermeiden, dass die OSZE Kompetenzen
der NATO übernimmt und diese langfristig ersetzt. Genau das, woran Russland mit der Politik
kleinster Schritte arbeitet, und dies lange bevor Medwedjew seinen Entwurf für einen Europäischen
Sicherheitsvertrag vorlegte, der in dieselbe Richtung geht.
Nasarbajew, der Russland gegenüber weitgehend loyal und bekennender Euroasiate ist – was vor
allem mit wirtschaftlichen Interessen Kasachstans als Drehkreuz zu tun hat –, sprach sich sogar für
einen »gemeinsamen Sicherheitsraum vom Atlantik bis zum Pazifik und vom Eismeer bis zum
Indischen Ozean« aus. Den hatte tags zuvor schon Medwedjew in seiner Botschaft ans russische
Parlament beschworen.
Das klingt gewaltig, womöglich zu gewaltig. Und damit ist die OSZE ausgerechnet beim Versuch des
Aufbruchs zu neuen Ufern der Selbstabschaffung einen Schritt näher gekommen. Wenn es in
Astana überhaupt Gewinner gab, dann war es Nasarbajew. Schon dass Kasachstan als erste
ehemalige Sowjetrepublik den OSZE-Vorsitz übernahm war für ihn eine Prestigeerfolg. Dass es ihm
gelang, immerhin 28 Staatschefs an den Verhandlungstisch zu bekommen, trug ihm sogar
Sympathien bei der Opposition ein.
* Aus: Neues Deutschland, 3. Dezember 2010
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