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"Aufschwung" Ost: Krise nicht überwunden

Wiener Institut sieht enge wirtschaftspolitische Spielräume der EU-Mitgliedstaaten

Von Hannes Hofbauer, Wien *

»Im niedrigen Gang auf schwierigem Terrain« – so titeln die Spezialisten des Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) ihre neue Studie über die Lage in den sogenannten Reformländern. Die Abhängigkeit des EU-europäischen Ostens vom Kern der Union ist augenscheinlich. Weil im Zentrum der Konjunkturmotor nicht brummt, macht auch die Peripherie keine großen Sprünge vorwärts.

Die leichte Steigerung des Bruttoinlandsproduktes 2010 in den »Reformländern« ist auf Polen und die Slowakei zurückzuführen, deren Wirtschaftswachstum jenes der EU-15 (Mitglieder vor der sogenannten Osterweiterung 2004) übersteigt. In Polen basiert dieses Wachstum auf dem relativ großen Binnenmarkt, der die Krise an der Weichsel insgesamt abfedern hilft. Die Slowakei wiederum liegt mit 4 Prozent BIP-Wachstum für 2010 an der Spitze der EU-Staaten. Mit ausschlaggebend dafür dürfte der Anstieg der Exporte in der Automobilindustrie sein.

Die meisten anderen makroökonomischen Indikatoren sehen die osteuropäischen EU-Neulinge hinter den westeuropäischen Kernländern. Vor allem die hohe Arbeitslosigkeit gibt auch den Ökonomen vom WIIW zu denken. Mit durchschnittlich 10,2 Prozent liegt sie über dem Wert der EU-15 (9,5).

Ausreißer nach oben sind vor allem die drei baltischen Staaten mit offiziellen Arbeitslosenquoten zwischen 17 und 18,5 Prozent sowie die Slowakei, wo mit 14,8 Prozent fast jeder sechste Arbeitsuchende keine Arbeit findet. Die übliche negative Leistungsbilanz sowie merklich höhere Inflationsraten zeigen ein Bild der Region Ost, wie es vor der Krise bestanden hatte.

Auffällig sind die deutlich besseren Werte in den Ländern östlich der Europäischen Union. Bei Wachstumsraten von 4 Prozent (für Russland und die Ukraine) bis 7 Prozent (für Kasachstan) im Jahr 2010 rechnen die Ökonomen vom WIIW für 2011 mit weiterem Zuwachs.

Die Türkei spielt mit einem BIP-Wachstum von 7,5 Prozent für 2010 im Vergleich mit den EU-15 (1,8 Prozent) offensichtlich in einer anderen Liga. Auch ist es Ankara gelungen, den gefährlich starken spekulativen Kapitalzufluss aus dem Ausland, der durch die hohen Wachstumsraten angezogen worden ist, mittels Zinssenkung zu bremsen.

Der vom WIIW für 2010 statistisch erhobene und für 2011 prognostizierte »moderate Aufschwung« basiert eingestandenermaßen auf einer Reihe von Unsicherheitsfaktoren. Vor allem die gegenwärtig unruhige Lage in Nordafrika könnte wesentliche ökonomische Parameter stark verändern. Eine weitere Steigerung der Preise für Erdgas und Erdöl würde sämtliche Energieimportländer – auch die Kern-EU – treffen und auf der anderen Seite Russland und Kasachstan höhere Wachstumsraten bescheren.

Diese potenziell trüben Aussichten stellen zusammen mit den ohnehin recht engen wirtschaftspolitischen Spielräumen der einzelnen Nationalstaaten und der nach wie vor schwierigen Kreditfinanzierung für Unternehmen, Haushalte und Staaten die These in Frage, ob es sich überhaupt um die Anfänge eines »moderaten Aufschwunges« handelt.

Vielmehr sieht es zurzeit danach aus, dass die Weltwirtschaftskrise und ihre Auswirkungen auf den Osten Europas noch nicht überwunden sind.

* Aus: Neues Deutschland, 12. März 2011


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