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Krise in Europa - "Eine Änderung des Zeitgeistes liegt in der Luft"

Stimmen aus Österreich und den USA über das "Non" in Frankreich und das "Nee" in den Niederlanden zum EU-Verfassungsvertrag

Die Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden über die EU-Verfassung haben erhebliche Konfusion in der politischen Klasse der EU-Staaten angerichtet. Es ist interessant, auch Stimmen aus anderen Ländern zu hören. Im Folgenden dokumentieren wir einen Beitrag von Gerald Mader, dem Präsidenten des "Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung" (ÖSFK), der in der Wiener "Presse" als Gastkommentar veröffentlicht wurde, sowie aus den USA einen Beitrag des emeritierten Professors Norman Birnbaum. Birnbaum artikuliert die Besorgnis der US-amerikanischen Linken angesichts der Krise des Verfassungsprozesses in Europa.



Das Referendum und seine Interpretationen

VON GERALD MADER*

Gescheitert, Wahlwiederholung, Nachbesserung, neuer Start: Die Chance eines zivilen Verfassungskonvents.


In der Politik kommt es nicht immer auf das Gesagte und die Fakten an, son dern wie diese interpretiert werden. Unterschiedliche Interpretationen werden auch die Debatte über den Ausgang des französischen Referendums zur EU-Verfassung bestimmen. Die Franzosen haben mehrheitlich mit "non" gestimmt. Entscheidend war, dass bei den Sozialisten sowohl die Führung als auch die Basis in dieser Frage gespalten war.

Die Franzosen haben die EU-Verfassung auf einem sehr hohen Niveau und sehr tief schürfend diskutiert. Der Verfassungsvertrag wurde von seinen Gegnern vor allem mit der Begründung abgelehnt, dass die EU-Verfassung das europäische Sozialmodell, das europäische Friedensprojekt und die Idee der Demokratie zugunsten eines schrankenlosen Wirtschaftsliberalismus, eines allumfassenden Konkurrenzprinzips (öffentliche Dienstleistungen) und einer Rüstungspolitik verraten habe.

Dieser Argumentation haben die Befürworter der Verfassung entgegen gehalten, dass es nicht um ein linkes oder rechtes Europa gehe, sondern um den Aufbau eines integrierten Europas. Die meisten Befürworter des EU-Vertrages bestreiten nicht, dass die real existierende EU nicht ihren Wünschen und Vorstellungen entspricht, doch sei der Aufbau eines integrierten Europas vorrangig und enthalte die Verfassung neben der Aufnahme eines Grundrechtskatalogs mit sozialen Grundrechten jedenfalls kleine Schritte in die richtige Richtung. Im übrigen sei es Aufgabe der Politik, auf der Basis der EU-Verfassung die Union stärker in Richtung des europäischen Friedens- und Sozialmodells zu entwickeln.

Der Verfassungsentwurf enthält 95 Prozent der Texte bestehend aus der Fortschreibung der alten Europaverträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza. Mit der Ablehnung des Entwurfs werde kein neoliberales Europa verhindert, sondern es bliebe beim Nizza-Vertrag, demgegenüber der Verfassungsentwurf einen demokratischen Fortschritt darstelle.

Die Briten, die nicht ganz zu unrecht als Trojanisches Pferd bezeichnet werden, haben durch Tony Blair bereits vor der Abstimmung erklärt, dass im Fall der französischen Ablehnung der Verfassungsprozess gescheitert sei, weshalb Großbritannien in diesem Fall keine Volksabstimmung mehr durchführen werde. Alle, die an der weiteren Integration Europas nicht interessiert sind, werden dieser Interpretation zustimmen. Dies würde den Rückfall auf den Vertrag von Nizza bedeuten.

Es ist anzunehmen, dass die Verfechter des Verfassungsvertrages sich damit nicht zufrieden geben werden. Sie werden daher nach neuen Wegen suchen, den Verfassungsprozess in irgendeiner Weise fortzusetzen. Entweder durch ein pragmatisches Fortwurschteln auf der Basis der bestehenden Verträge (Wiederholung der Abstimmung) oder durch "Nachbesserungen", was bei einem Regierungsentwurf ja jederzeit möglich wäre. Zumindest vordergründig könnten hierbei auch die Gründe der Ablehnung berücksichtigt werden.

Es gibt noch eine utopische Variante. Nur wer die Fähigkeit zu Utopien hat, kann Impulse für die Zukunft setzen. Diese Fähigkeit scheint den Politikern in Brüssel abhanden gekommen zu sein. Daher ist die europäische Zivilgesellschaft aufgerufen, selbst einen Verfassungsentwurf auszuarbeiten und diesen nach einem EU-weiten Diskussionsprozess und unter Beiziehung eines UN-Vertreters von einem Konvent der Zivilgesellschaft als alternativen Verfassungsentwurf beschließen zu lassen. Auf diese Weise könnte ein wirklich demokratischer Verfassungsprozess eingeleitet werden, der dem Begriff und Anspruch einer Verfassung gerecht wird. Ein solcher Prozess kann nur längerfristig (zwei bis drei Jahre) umgesetzt werden.

Die Chance einer solchen zivilen Verfassungsinitiative, die Gegenstand eines Schlaininger Forschungsprojektes ist, mag im Hinblick auf die realen Machtverhältnisse gering erscheinen. Eine Änderung des Zeitgeistes liegt jedoch in der Luft. Friede, diese wichtige Herausforderung des 21. Jahrhunderts, kann aber nicht von einem "Plädoyer für die Gewalt" (Rudolf Menasse), sondern nur von einer europäischen Friedenspolitik, von einem konstruktiven Pazifismus kommen, der internationale Regeln für die Anwendung von Gewalt und für die Regulierung internationaler Finanzströme vorsieht.

Die Chancen eines europäischen Friedensmodells und die Fähigkeiten der Europäer werden hierbei von den Amerikanern oft positiver eingeschätzt als von so manchen Realpolitikern in Brüssel, die alles Heil von einer EU-Militärmacht erwarten. Als Beispiel einer optimistischen Prognose sei der Professor der New Yorker Universität Tony Judt zitiert: "Die wirkliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts besteht darin, Kriege zu verhindern, Frieden zu schließen - und zu wahren und darin werden sich die Europäer im zunehmenden Maße als kompetenter erweisen."

* Dr. Gerald Mader ist Präsident des "Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung" und des "European University Center of Peace Studies" mit Sitz in der Burg Schlaining.

Aus: Die Presse, 31. Mai 2005



Krise in Europa: Nach dem Debakel, vor dem Sturm

Von Norman Birnbaum*

Die eindeutige französische Ablehnung der Europäischen Verfassung (und kurz danach das niederländische Nein) läßt schon die Turbulenzen erahnen, die auf weite Teile Europas zukommen. Das Abstimmungsergebnis war ein klarer Ausdruck von Klassenspaltung: Die Mehrheit der Verfassungsgegner kam aus der Arbeiterklasse (Fabriken und Büros) und aus den Reihen der sozialistischen, kommunistischen, ultralinken und grünen Parteien.

Die Heterogenität des "Non"

Diese Wähler stimmten in erster Linie gegen die Arbeitslosigkeit, die Verlagerung von ganzen Fabriken in die Billiglohnregionen der neuen EU-Länder in Osteuropa bzw. nach Asien, und sie stimmten gegen die Gefährdung des französischen Sozialstaates angesichts der Besessenheit der Europäischen Kommission von Deregulierung und Herrschaft des Marktes. Diese Wähler waren es auch, die ihrer Ablehnung des geplanten Beitritts der Türkei zur EU Luft machten – ein symbolischer Protest jedoch, der sich in erster Linie gegen die vielen islamischen Einwohner Frankreichs richtete. Mit ihnen stimmten die Wähler der Ultrarechten (oft auch aus der Arbeiterklasse) und die, die Supranationalität als eine Gefahr für die kulturelle und politische Identität Frankreichs sehen. Das „Nein“ einte also die Ausländerfeindlichen und diejenigen, die eine andere Art von Internationalismus wollen.

Die Verfassung selbst schlug eine gewisse Straffung der Arbeitsweise der Europäischen Union vor. Auch wenn sie sich hin und wieder auf die Besonderheit des europäischen Sozialmodells beruft, das auf dem sozialdemokratischen und christlich-sozialen Solidaritätsgedanken basiert, so bestätigt doch die Betonung des Marktes die Ängste der Linken. In deren Augen wollen die Verantwortlichen des europäischen Projekts die EU in ein wirtschaftliches Abziehbild der USA – oder der asiatischen Marktgesellschaften – verwandeln. Eine durchaus korrekte Interpretation, denn das ist genau das, was viele europäische Unternehmer, Bürokraten und Politiker beabsichtigen, lautstark unterstützt von den Marktideologen in den Medien und Universitäten.

Die französischen Sozialisten, die die Verfassung bejahten (unterstützt von Schröder und dem spanischen Premier Zapatero, die tatsächlich nach Frankreich kamen, um für ein „Ja“ zu werben), argumentierten, daß angesichts der US-amerikanischen Macht und des asiatischen wirtschaftlichen Wettbewerbs nur ein vereintes und effizientes Europa sein eigenes Sozialmodell entwickeln kann. Eine Mehrheit der Wähler vertraute ihrer eigenen Realität – geprägt von Arbeitslosigkeit, Kürzungen oder Privatisierung öffentlicher Leistungen und vor allem dem zunehmenden Gefühl der politischen Machtlosigkeit – und weigerte sich, den Sozialisten zu glauben.

Die politische Krise Europas ...

Europa befindet sich mitten in einer politischen Krise. Tony Blair braucht erst gar nicht mit der angekündigten Volksabstimmung über die Verfassung weiterzumachen. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, Bulgarien und Rumänien werden ins Stocken geraten, wenn nicht völlig abgebrochen. Und der Beitritt der Ukraine wird auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt. Die EU wird nicht auseinanderbrechen, und auch der Euro wird nicht ein Drittel seines Werts verlieren. Die EU-Institutionen werden so weitermachen wie bisher, gestützt auf die Verträge von Maastricht und Nizza, die aus der Perspektive eines sozialen Europas schlimm genug sind: Sie geben der Europäischen Zentralbank weitreichende Kompetenzen, begrenzen die nationale Staatsverschuldung, ermöglichen der Brüsseler Bürokratie Deregulierung und geben dem gewählten Europaparlament nur minimale zusätzliche Macht.

Das genau ist das Problem – denken immer mehr Europäer. In ihren eigenen Ländern machen sie die Union für das Versagen ihrer gewählten Vertreter verantwortlich oder fordern, daß diese Vertreter endlich der nationalen Wirtschaft und den sozialen Bedürfnissen Priorität einräumen. Chirac ist dabei eine wohlbekannte Größe: Er war schon Premierminister, als Nixon im Weißen Haus und Breschnew im Kreml saß. Er verdankt seine Wiederwahl als Präsident der Tatsache, daß aufgrund der Zersplitterung der Linken Le Pen und die Ultrarechten erst den linken Kandidaten verdrängen konnten – und somit all die in das Lager Chirac zwangen, die für die Werte der Demokratie einstehen.

... kommt der Bush-Administration sehr gelegen

Blairs schlechtes Ergebnis und der darauf folgende Verlust von Labour-Sitzen in den jüngsten britischen Wahlen könnte darauf hinweisen, daß auch seine Uhr abgelaufen ist. Berlusconi und seine Koalition mußten in den Regionalwahlen zuletzt eine klare Niederlage einstecken. Schröder und die Sozialdemokraten wurden gerade durch den Verlust ihrer Hochburg Nordrhein-Westfalen gedemütigt, und für die Wahlen im September ist eine Umkehr des Trends nur schwer vorstellbar.

Überall in Europa (sogar in verhältnismäßig erfolgreichen Ländern wie Schweden) sind die Bürger überzeugt, daß weder ihre Vertreter noch ihre Institutionen in der Lage sind, die Herausforderungen der Prozesse, die grob unter dem Begriff Globalisierung zusammengefaßt werden, zu meistern. Für die Europäer bedeutet Globalisierung sowohl die Anwesenheit unerwünschter Immigranten als auch Arbeitslosigkeit, begleitet von kultureller und politischer Ohnmacht - eine beunruhigende und potentiell katastrophale Kombination.

Einem Land jedoch, den USA - oder besser: der Regierung Bush - kommt diese Entwicklung sehr gelegen. Ein zerstrittenes Europa war schon immer das Ziel all derer, ganz gleich ob Demokraten oder Republikaner, die die amerikanische Hegemonie als die gottgegebene Ordnung ansehen. Chirac (und Schröder) waren die Anführer der Partei Europa, die - das gesamte politische Spektrum übergreifend – die Emanzipation von den USA und einen europäischen Anziehungspol in einer multipolaren Welt wollten. Auch wenn Dominique de Villepin (dessen Rede gegen den Irak-Krieg vor der UNO noch in guter Erinnerung ist) jetzt Chiracs Premierminister ist, so ist doch völlig offen, wie lange Chirac selbst sich noch halten kann (Präsidentschaftswahlen stehen 2007 an) – und noch unklarer ist, ob de Villepin Chiracs Nachfolger wird. Schröder wird als Bundeskanzler aller Wahrscheinlichkeit Angela Merkel weichen müssen, deren einzige außenpolitische Auffälligkeit die Tatsache ist, daß sie 2005 mit 1955 verwechselt.

Berlusconi könnte nächstes Jahr aus dem Amt gedrängt werden, aber die Mitte-Links-Koalition ist zerstritten. Folglich könnte sein Nachfolger Fini heißen, ein durchaus effektiver pro-amerikanischer Post-Faschist. Zum 1. Juli übernimmt Großbritannien turnusgemäß die Europäische Ratspräsidentschaft: Seine internationalen Initiativen wird Blair wohl - wie immer - zuerst vom Weißen Haus absegnen lassen.

Fazit: Die Europäer können der US-amerikanischen Vorherrschaft wohl kaum eine kohärente Strategie entgegensetzen, solange sie so mit ihren eigenen Ungewißheiten und Konflikten beschäftigt sind. Die amerikanischen Gegner des American Empire werden durch die Außenpolitik der Demokratischen Partei quasi nicht repräsentiert. Für uns bedeutet das aufziehende Unwetter über Europa zumindest eins: daß wir künftig noch stärker auf uns selbst gestellt sind.

Norman Birnbaum ist Professor Emeritus des Georgetown University Law Center und Senior Scholar am Institute for Policy Studies. Wir danken Foreign Policy In Focus für die Genehmigung der Veröffentlichung in deutscher Sprache. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Annette Bus.

(Veröffentlicht: 3.6.2005)

Aus: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung; im Internet:
www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org



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