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Die LINKE und Europa

Im Europa- und im Bundestagswahlkampf 2009 wird es um Frieden und soziale Gerechtigkeit gehen

Im nächsten Jahr muss die Linkspartei beweisen, dass sie sich endgültig als starke bundesweite Kraft etabliert hat. Erstmals nach der Konstituierung der LINKEN werden das EU-Parlament und der Bundestag gewählt.
Diether Dehm und Alexander Ulrich beschreiben Anforderungen für den zu erwartenden Dauerwahlkampf.



Das Jahr 2009 wird ein Superwahljahr. Die Europawahl findet 13 Wochen vor der Bundestagswahl statt. Europawahlkampf und Bundestagswahlkampf müssen zwei Etappen eines offensiven Kampfes für Frieden und soziale Gerechtigkeit sein – und zwar ineinandergreifend.

Die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs (VW-Gesetz sowie Rüffert, Vaxholm/Viking, Luxemburg-Urteil zu Mindestlöhnen, Lohndumping und arbeitsrechtlichen Standards) sind ein konzertierter Angriff auf eine demokratische Unternehmensverfassung, auf Tariftreue, auf Streikrecht und auf ein einheitliches soziales Arbeitsrecht. Alle diese Urteile sind Teile eines umfassenden Feldzugs gegen europäische So- zialstaatlichkeit.

Die Bundesregierung hat auf eine Kleine Anfrage der LINKEN schwarz auf weiß bestätigt: Weder der Lissabon-Vertrag noch die durch ihn für verbindlich erklärte Grundrechtecharta werden die sozialen Errungenschaften, die die Bewegung der Arbeitenden in den einzelnen Nationalstaaten der EU erstritten hat, schützen.

Wir werden daher den Europawahlkampf auch mit ausgewählten bundespolitischen Themen führen und den Bundestagswahlkampf auch mit unserem Nein gegen den unsozialen und militaristischen Gehalt des Lissabon-Vertrags. Dabei werden wir eine Serie von öffentlichen Aktivitäten (Festivals, Ferienortveranstaltungen an Ostsee, Nordsee etc., Sommerfeste, Lieder im Park usw.) in der Sommerpause zu organisieren haben, um mit den sozialen und auf Frieden ausgerichteten Kernthemen auch in den sechs Urlaubswochen präsent zu sein. Wichtig ist, den erwarteten Erfolg bei der Europawahl in die elf Wochen des Bundestagswahlkampfs zu tragen – als einzige Bundestagspartei, die die europäische Integration bejaht, den Entwicklungsweg der EU seit Maastricht und ihr real existierendes Primärrecht aber kritisiert.

Nein zu Lissabon, Ja zur Integration

Die zentralen Themen für diese entscheidende Kernphase sind: 1. Tariflöhne kontra Lohndumping; 2. Soziales Arbeitsrecht für alle statt EU-Konkurrenz mit niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen; 3. Erhaltung und Ausbau von Unternehmensverfassungen mit Vetorechten der arbeitenden Menschen und der öffentlichen Hände (VW-Gesetz etc.) gegen den Vorrang der Kapitalverkehrsfreiheit; 4. Abrüstung in Deutschland und Europa versus Aufrüstungsgebot des Lissabon-Vertrags; 5. mehr Demokratie wagen: Volksabstimmung statt Geheimdiplomatie.

In Frankreich, den Niederlanden und Irland wurde eindrucksvoll bestätigt, dass die Menschen – wenn sie gefragt werden – einen neoliberalen und militaristischen Vertrag von Lissabon ablehnen. Irland hat gezeigt, dass es vor allem in den Arbeitervierteln und unter jungen Menschen eine hohe Ablehnung des Vertrags gab. Auch wenn die Akzeptanzwerte der EU in den letzten Wochen durch die Vertragstricksereien der Herrschenden und den inakzeptablen Lissabon-Vertrag in den Keller rutschten, liegt Irland mit 63 Prozent prinzipieller Zustimmung zur europäischen Integration ganz vorne. Das zeigt: Ein Nein zum Lissabon-Vertrag und ein Ja zu Europa sind keine Gegensätze.

Durch das Referendum in Irland rückt nun die Entscheidung über das Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags weiter heran an die Wahl zum Europäischen Parlament. Die Regierungen versuchen, die Iren noch vor der Europawahl zu einem zweiten Votum zu zwingen, um den Lissabon-Vertrag aus der Wahl zu halten. Umso wichtiger für uns ist es darum, intensiv für unsere Vorstellungen eines sozialen und friedlichen Primärrechts der EU zu werben und die Tricks der neoliberalen Parteien zur Abwahl zu stellen. Die Wahlen ersetzen keine nachträgliche Volksabstimmung über diesen Vertrag, aber die LINKE ist die einzige Bundestagspartei mit einem klaren Nein zum Lissabon-Vertrag. Ihre Wahl gibt die Chance, gegen den Vertrag zu entscheiden.

Ausgangspunkt unserer Europa-Politik sind das Memorandum der Fraktionsvorsitzenden und die Beschlüsse von Parteivorstand und Bundestagsfraktion. Gregor Gysi und Oskar Lafontaine erklärten 2007: Die europäische Integration braucht eine echte Verfassung. Eine Verfassung, die sozial, friedlich, ökologisch und demokratisch ist. In einem ersten Schritt, könnte ein bindendes Sozialprotokoll zu den bisherigen EU-Verträgen die neoliberale Justiz des Europäischen Gerichtshofs hemmen. Weitere Schritte müssen folgen.

Für ein friedliches Europa und Abrüstung

Die Militarisierung der EU hat sich seit 2004 mit der Gründung der Europäischen Rüstungsagentur, der Aufstellung von EU-Battle-Groups und der strategischen Partnerschaft EU-NATO beschleunigt. Die Anzahl der militärischen Auslandseinsätze der EU hat sich massiv erhöht. Dabei wurden in der DR Kongo und im Tschad autoritäre Regimes gestützt. Mit der Mission in Kosovo (EULEX Kosovo) wird ein völkerrechtswidriger Einsatz durchgeführt. Zur globalen militärischen Interventionsfähigkeit an der Seite der USA und der NATO setzt die EU auf eine Militarisierung des EU-Haushalts, einen Ausbau europäischer Sicherheits- und Rüstungsforschung wie auf die Entwicklung militärisch nutzbarer Satellitenleitsysteme. Den Risiken des Klimawandels will die EU militärisch begegnen. Der Parlamentsvorbehalt, der in Deutschland Verfassungsrang genießt und in England als Antwort auf Tony Blairs Irak-Krieg eingeführt wurde, soll weichen. Der Chefberater des EU-Außenbeauftragten Javier Solana, Robert Cooper, schwadronierte jüngst gar von atomaren Erstschlagsoptionen der EU.

Wir setzen auf ein neues ziviles System kollektiver Sicherheit, jenseits von NATO und EU-Armee. Die Union soll sich für die Demokratisierung und Stärkung der UNO stark machen und deren Charta als Ganzes achten: Sie muss Vorrang vor EU- und nationalem Recht haben. Durch den Umbau und die Reduzierung der europäischen Armeen muss gezeigt werden, wie die Angriffsunfähigkeit hergestellt werden kann. Ein wichtiger Beitrag dazu bleibt, Angriffskriege für verfassungswidrig, verbrecherisch und strafbar zu erklären.

Es muss ein Europäischer Friedensdienst aufgebaut und die EU-Rüstungsagentur in eine Abrüstungsagentur umgewandelt werden. Sie soll gemeinsame Abrüstungsziele von einem Prozent des Bruttosozialprodukts, Militär- und Rüstungsausgaben der einzelnen Mitgliedstaaten bis 2013 sowie den Abbau der Streitkräfte der Nationalstaaten überwachen. Europa muss ABC-Waffen-frei werden.

Nach dem NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999, der militärischen Intervention in Afghanistan 2001 und dem seit 2003 in Irak andauernden Krieg der USA und ihrer Verbündeten ist es überfällig, auf die Folgen der Instrumentalisierung von Menschenrechten hinzuweisen. Dadurch wird nicht nur die Glaubwürdigkeit jeder Menschenrechtspolitik untergraben, sondern Völkerrecht gebrochen.

Eine soziale und ökologische EU

Die EU ist der weltgrößte Binnenmarkt. Fast 90 Prozent ihrer gesamten Wertschöpfung bleiben innerhalb ihrer Grenzen. Damit bietet sie ideale Voraussetzungen für eine binnenmarktorientierte Wirtschaftspolitik. Mit einem Mix aus keynesianischer und antikapitalistischer Wirtschaftspolitik könnte Europa zu einem ökologischen, sozialen und wirtschaftlich starken Wirtschaftsraum entwickelt werden. Dabei muss der exportorientierte Wettbewerbsnationalismus durch eine koordinierte solidarische internationale Wirtschaftspolitik überwunden werden.

Die Lissabon-Strategie für mehr Wettbewerbsfähigkeit hat der wirtschaftlichen Entwicklung und den Menschen weltweit geschadet. Der bestehende Stabilitäts- und Wachstumspakt hemmt die wirtschaftliche Entwicklung und ist der Stabilisierung der öffentlichen Haushalte abträglich. Er behindert wichtige öffentliche Investitionen für die Zukunft in Forschung und Bildung oder für die Energiewende.

Auch die einseitige Verpflichtung auf Preisstabilität durch die Europäische Zentralbank ist weder demokratisch noch sinnvoll oder unabhängig. Sie dient den Interessen von Konzernen und Finanzinvestoren. Die Zentralbank müsste durch das Europäische Parlament kontrolliert und auf Vollbeschäftigung vereidigt werden.

In der Steuer- und Sozialpolitik müssen Mehrheitsentscheidungen des Rates ermöglicht werden, um Steuer- und Sozialdumping zu beenden. Es darf nicht sein, dass die deutsche und die britische Regierung – wie zuletzt bei der Richtlinie zur Leiharbeit bzw. den Arbeitszeiten – Lohndumping und Arbeitslosigkeit durch Verlängerung der Wochenarbeitszeiten gegen den Willen Spaniens, Frankreichs oder Zyperns organisieren.

Innen-, Justiz- und Partnerschaftspolitik

Unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung und Terrorprävention wird das Recht auf Selbstbestimmung vom Prinzip der »Verfügbarkeit der Daten« – einschließlich biometrischer und DNA-Profile – verdrängt. Durch diese Politik wird ein »Generalverdacht gegen jedermann« etabliert.

Die polizeiliche Zusammenarbeit in der EU ist von einer schleichenden Ausweitung exekutiver Kompetenzen geprägt, ohne demokratische Kontrolle zu sichern. Projekte wie die Errichtung eines »ständigen Ausschusses« für operative Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft oder zur Stärkung der Operativbefugnisse von Europol und Eurojust führen zum Aufbau eines qualitativ neuen institutionellen Gebildes der EU-Innenpolitik – jeglicher demokratischen Kontrolle entzogen.

In der EU wurde eine restriktive Flüchtlings- und Migrationspolitik durchgesetzt. Im Jahr 2006 ertranken 6000 Afrikaner vor dem »Imperium der Schande« (Jean Ziegler). Obwohl die Zahl der Asylbewerber so niedrig ist wie seit zehn Jahren nicht mehr, wird die »Festung Europa« mit Hilfe der Grenzschutzagentur FRONTEX perfektioniert. Die Abschieberichtlinie erlaubt die Inhaftierung Minderjähriger ohne Urteil bis zu 18 Monaten. Der bolivianische Präsident Evo Morales und selbst der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors haben die EU daher eines Verstoßes gegen die Menschenrechte bezichtigt.

Lebensmittelkrisen und Hunger in Afrika sind auch eine Folge der EU-Außenhandelspolitik. Der Druck auf Entwicklungsländer zur Marktöffnung behindert deren Landwirtschaftsentwicklung. Die LINKE protestiert seit Langem gegen die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA), die die EU mit 79 assoziierten AKP (Afrika, Karibik, Pazifik)-Staaten bis Ende 2007 abschließen wollte. Aufgrund der Proteste der meisten AKP-Regierungen sowie der Zivilgesellschaft konnte die EU ihre umfassenden Freihandelsabkommen nicht durchsetzen, sondern hat in sogenannten Interimsabkommen (IEPA) nur die Liberalisierung von Gütern verankert.

Wenn wir soziale Gerechtigkeit und Frieden ins Zentrum der Politik rücken, kann die LINKE im Juni 2009 bei der Europawahl – bei der schon vor fünf Jahren die PDS noch ohne WASG und Oskar Lafontaine 6,1 Prozent erzielte – einen deutlichen zweistelligen Erfolg haben. Dies wird dem Medien-Umfrage-Kartell, das kurz vor der Bundestagswahl wieder beginnen wird, uns »herunterzurechnen«, das Spiel im September 2009 erschweren.

Unser Ziel: soziale Gerechtigkeit und Frieden mit dem Nein zum Lissabon-Vertrag und unserer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zu verbinden. Wir müssen von März bis September 2009 einen Wahlkampf aus einem Guss führen. Erfolgreicher Wahlkampf heißt Dauerpower ohne Sommer-Durchhänger.

* Aus: Neues Deutschland, 9. August 2008


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