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Imperialistische Vergesellschaftung

Vorabdruck. Die Europäische Union: Entdemokratisierung und Sozialabbau

Von Andreas Wehr *

Die sogenannte Euro-Krise hat deutlich vor Augen geführt, daß die Europäische Union in ihrer gegenwärtigen Verfaßtheit kein Friedensprojekt, sondern ein imperialistisches Staatenbündnis ist, bei dem sich die starken kapitalistischen Länder gegen ihre schwächeren Rivalen durchsetzen.

Andreas Wehr, der bereits in seinem Buch »Griechenland, die Krise und der Euro« auf die im Gefolge der Krise durchgesetzte Politik der Unterwerfung der EU-Peripherie durch Deutschland und Frankreich aufmerksam machte, legt nun in der »Basiswissen«-Reihe des Kölner PapyRossa Verlags eine Überblicksdarstellung zur Europäischen Union vor.

jW veröffentlicht das letzte Kapitel, um Fußnoten gekürzt, vorab. Wir dokumentieren es im Folgenden.


Trotz der jüngsten Rückschläge und Krisen ist der von der Europäischen Union erreichte Integrationsgrad bemerkenswert. Er ist nicht mit dem anderer ökonomischer Staatenbündnisse vergleichbar, sei es das North American Free Trade Agreement (NAFTA), die Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) oder die Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC). Anders als diese lediglich losen Zusammenschlüsse gründet sich die EU auf ein umfangreiches Vertragssystem und auf feste Institutionen. Der in über 50 Jahren angewachsene Bestand gemeinsamer Rechtsakte, der Acquis communautaire, umfaßt neben den Verträgen Tausende Richtlinien, Verordnungen und Beschlüsse. Die EU verfügt über einen eigenen Haushalt, sie hat einen Gerichtshof, einen Rechnungshof, eine Zentralbank und eine gemeinsame Währung, die in 17 ihrer 27 Mitgliedsländer Zahlungsmittel ist. Es gibt das Europäische Parlament, welches allerdings aufgrund fehlender eigener Rechte kein echtes Parlament ist. Durch umfangreiche Kompetenzübertragungen auf die europäische Ebene kommt der nationalen Gesetzgebung oft nur noch die Aufgabe zu, dort getroffene Entscheidungen umzusetzen, wenn auch der Umfang europäischer Vorgaben oft überschätzt wird. Im Zuge der Integration haben sich die Rechtsschutzsysteme der Mitgliedsländer verändert. Das Prinzip der unmittelbaren Wirkung des EU-Rechts verpflichtet die nationalen Gerichte, Rechtsnormen anzuwenden, die außerhalb und möglicherweise sogar gegen den Willen des Staates zustande gekommen sind. Die EU stellt mit dieser erreichten Integration ein neues Phänomen dar.

Vergesellschaftung mit Grenzen

Die EU ist Ausdruck der objektiven Vergesellschaftung der Ökonomie im Sinne einer immer arbeitsteiligeren und immer größere Räume umfassenden Produktion und Konsumtion: »Die Größenordnung der Kapitale und der für sie erforderlichen Aufwendungen, die betriebliche wie die weltwirtschaftliche Vergesellschaftung der Produktion erreichten Ausmaße, die unter den Bedingungen des bisherigen Kapitalismus, des sogenannten klassischen Konkurrenzkapitalismus, nicht mehr existieren konnten; die aus der ›klassischen‹ Entwicklung des Kapitals hervorgegangene Form der kapitalistischen Produktionsverhältnisse wurde zur Fessel und mußte gesprengt werden. Und sie wurde gesprengt.«[1] Dieser Prozeß wird auch als Globalisierung der kapitalistischen Produktion bezeichnet. Dabei ist die Globalisierung sowohl Ergebnis wie Antrieb der Entwicklung: »Außenhandel, Kapitalexport und Ausdehnung des Wirtschaftsraumes wirken also unmittelbar auf die Verwertungsbedingungen des Kapitals ein. Sie sind Resultat wie Triebkraft der Entfaltung der inneren Widersprüche des Kapitalverhältnisses in seiner historischen Bewegung. (…) In der Internationalisierung kapitalistischer Produktionsverhältnisse setzt sich somit die Verwertung des Kapitals als der ›treibende Faktor‹ der kapitalistischen Produktionsweise durch.«[2]

Da aber die EU als regionale Form dieser Internationalisierung von imperialistischen Staaten getragen wird, sind der Vergesellschaftung Grenzen gesetzt. So sind auch nach mehr als 50 Jahren europäischer Integration die Kernbereiche nationaler Souveränität, die Außen- und Sicherheitspolitik der Mitgliedsländer, noch weitgehend intakt. Auch beim Erhalt anderer zentraler Bestandteile staatlicher Autorität, etwa in der Innen- und Rechtspolitik, der Steuer-, Finanz- und Haushaltspolitik, konnten sich die Staaten behaupten. Überall hier stößt die Vergesellschaftung an Grenzen, weil die Mitgliedsländer in ihrem Wettstreit untereinander nicht auf diese Kernbereiche ihrer Staatlichkeit verzichten können.

Im Unterschied zum Zeitalter der Herausbildung der modernen europäischen Nationen im 18. und 19. Jahrhundert entsteht daher mit der EU kein neuer Staat. Wir sind nicht – wie die folgenden Buchtitel suggerieren – »Auf dem Weg zur Supermacht« (Gerald Oberansmayr) bzw. zur »Welt-Macht Europa« (Tobias Pflüger/Jürgen Wagner). Es gibt auch keinen »Eurokapitalismus« (Martin Beckmann/Hans-Jürgen Bieling/Frank Deppe) oder »eine Tendenz zum Euroimperialismus« (Ingo Schmidt/Anne Karras), wie gelegentlich angenommen wird, denn es fehlt an der entscheidenden Grundlage für eine solch neue Qualität, an einer übergreifenden transnationalen kapitalistischen Klasse: »Die teilweise Durchdringung von nationaler Bourgeoisie und Auslandskapital bewirkt jedoch keine Auflösung oder gar Vermischung der Bourgeoisien. Es bleiben wichtige Unterschiede. So handelt es sich beim Auslandskapital in aller Regel um Töchter von Muttergesellschaften, die vom Hauptsitz in einem anderen Land aus kontrolliert werden. Über Verwendung der Gewinne, das Ausmaß von Investitionen, Fortbestand oder Schließung wird von einer ausländischen Zentrale aus entschieden, nach Maßgabe von Interessenlagen der Konzernmütter, die sich den Einflüssen am Standort entziehen.«[3]

Kooperation und Konkurrenz

Die Europäische Union stellt demnach eine entwickelte Form der Kooperation von Staaten dar. Sie ist aber zugleich Austragungsort des Kampfes zwischen ihnen. So ist die Geschichte der EU immer auch eine solche des Ringens zwischen Deutschland und Frankreich um den entscheidenden Einfluß in ihr gewesen, wobei sich Phasen engen Zusammenwirkens, wie etwa bei Nicolas Sarkozy und Angela Merkel, dem Tandem »Merkozy«, mit solchen offener Konkurrenz ablösen. Seit dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik und der Rückgewinnung des Handlungsspielraums des deutschen Monopolkapitals im europäischen Osten ist jedoch der Kampf um die Hegemonie in der EU zugunsten Deutschlands grundsätzlich entschieden.

In Krisenzeiten schwächt sich die innereuropäische Kooperation ab, und es verstärkt sich die Konkurrenz. Vertraglich festgelegte Aushandlungsverfahren werden dann auch mal ignoriert, wo dies für notwendig angesehen wird. So entschied man in der Euro-Krise über Maßnahmen zur Stabilisierung angeschlagener Defizitstaaten nicht in dem eigentlich dafür zuständigen Rat, sondern in der lediglich informell tagenden Euro-Gruppe, in der nur die Euro-Länder vertreten sind. Neue Institutionen – wie die EFSF und der ESM – wurden sogar ganz außerhalb der Union gegründet. Diese Gesellschaften wie auch die Euro-Gruppe werden von den kerneuropäischen Ländern, und hier vor allem von Deutschland, dominiert. Die damit einhergehenden Veränderungen im europäischen Machtgefüge kommentiert die deutsche Presse mit Genugtuung: »Es ist offensichtlich, daß die Finanz- und Staatsschuldenkrise die Verlagerung der Macht hin zu den Mitgliedstaaten verstärkt hat. So ist etwa die Stellung Deutschlands (…) heute so stark, wie das noch nie in der Geschichte der Einigung der Fall war. Spiegelbild ist die relative Schwäche Frankreichs und Großbritanniens.« (Klaus-Dieter Frankenberger in der FAZ vom 7.4.2012)

Noch gravierender sind die von der Krise ausgelösten Machtverschiebungen zwischen europäischem Kern und Peripherie. In diesem Verhältnis verliert die EU mehr und mehr den Charakter einer auch auf Zusammenarbeit und Aushandlung angelegten Institution, und es bildet sich eine Hegemonialordnung mit Deutschland an der Spitze heraus.

Als eine Form regionaler Kooperation bleibt die EU daher von der Rivalität der in ihr zusammengeschlossenen Staaten bestimmt. Und in diesem Konkurrenzkampf entscheidet die Stärke des jeweiligen Landes, denn es gilt weiterhin der Grundsatz: » (U)nter dem Kapitalismus ist für die Aufteilung der Interessen und Einflußsphären, der Kolonien usw. eine andere Grundlage als die Stärke der daran Beteiligten, ihre allgemeinwirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Stärke, nicht denkbar.« (Lenin Werke, Bd. 22, S. 300)

Neoliberales Projekt

Die Kritik an der unzureichenden demokratischen Legitimation der europäischen Integration ist so alt wie diese selbst. Über lange Zeit hielt man nicht einmal eine direkt gewählte parlamentarische Kontrollinstanz für notwendig. Ein frei gewähltes Europäisches Parlament war zwar bereits in den Römischen Verträgen vorgesehen, die ersten Wahlen dazu fanden aber erst 1979 und damit 22 Jahre später statt, und noch immer fehlen ihm wichtige Rechte. So hat es kein Initiativrecht zur Einbringung von Richtlinien und Verordnungen. Das Parlament kann daher getroffene Entscheidungen aus eigener Initiative heraus weder korrigieren noch rückgängig machen. Es hat auch keine Macht über die Einnahmen der EU und kann auch nicht den Kommissionspräsidenten frei wählen, da der den Parlamentariern präsentierte Kandidat zuvor vom Rat ausgewählt wird.

Das grundlegende demokratische Defizit der EU ist aber alles andere als zufällig, es ist das Ergebnis der »imperialistischen Vergesellschaftung« als »deformierte Vergesellschaftung und deformierte Globalisierung – darin zeigt und bestimmt sich ihr historischer Charakter, ihre gebrochene ›Modernität‹ und ihre historische Unangemessenheit.«[4] Bereits Lenin wies auf die Auflösung der Demokratie im imperialistischen Zeitalter hin: »Sowohl in der Außenpolitik wie auch gleicherweise in der Innenpolitik strebt der Imperialismus zur Verletzung der Demokratie, zur Reaktion. In diesem Sinne ist unbestreitbar, daß der Imperialismus ›Negation‹ der Demokratie überhaupt, der ganzen Demokratie ist, keineswegs aber nur einer demokratischen Forderung, nämlich der Selbstbestimmung der Nationen.« (Lenin, Werke Bd. 23, S.34) Nach Reinhard Opitz ist der Imperialismus »Reaktion, Antidemokratismus, Aufklärungs- und Liberalismuswiderruf nach innen in untrennbarer Einheit (…).«[5] Heute ist die Europäische Union wichtigster Ausdruck dieses »Widerrufs«. Es ist die EU, die bei der Negierung der europäischen Demokratien vorangeht.

Mit den Römischen Verträgen wurden die Binnenmarktfreiheiten – die des Kapital-, Waren-, Personen- und Dienstleistungsverkehrs – zum Kern der europäischen Integration. Sie werden daher auch als die eigentliche Verfassung der Union bezeichnet. Es ist eine liberale Wirtschaftsverfassung, die mit der Einheitlichen Europäischen Akte und mit dem Vertrag von Maastricht ausgebaut und gefestigt wurde. So sind seit Maastricht alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs bzw. des Zahlungsverkehrs »zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten«. (vgl. Artikel 63 AEUV) Seitdem kann sich kein Mitgliedsland mehr gegen einen ungewollten Zufluß bzw. gegen eine Abwanderung von Kapital schützen. Bis dahin waren die Mitgliedstaaten lediglich dazu verpflichtet, den Kapitalverkehr nur in soweit zu liberalisieren, wie es für das Funktionieren des gemeinsamen Marktes notwendig war.

Mit dem Vertrag von Maastricht wurde auch die monetaristische Geld- und Konjunkturpolitik zu einem Bestandteil europäischen Vertragsrechts. Die Konvergenzkriterien der Wirtschafts- und Währungsunion legen die EU seitdem auf eine neoliberale Wirtschaftsordnung fest und schließen damit ein keynesianisches Vorgehen aus. Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie mit dem Fiskalpakt werden selbst kleinste Abweichungen von dieser monetaristischen Politik der Geldwertstabilität mit Sanktionen belegt. Der Sozialabbau ist damit vertraglich festgeschrieben. Zugleich soll damit jeder Versuch, die bestehende kapitalistische Wirtschaftsordnung auch nur in Frage zu stellen, von vornherein unterbunden werden.

Eine solche Ordnung war bereits in den dreißiger Jahren von Friedrich August von Hayek, einem der Vordenker des Neoliberalismus, erdacht worden. Nach seiner Auffassung »gründeten die Probleme Europas im Aufstieg der Volkssouveränität und demokratischer Kontrolle über die Wirtschaftspolitik. Seine Lösung (…) war eine Europäische Föderation, welche den demokratischen ›Weg in die Knechtschaft‹ versperren würde, indem die europäischen Staaten vertragliche Verpflichtungen zur Beendigung öffentlicher demokratischer Kontrolle über die Wirtschafts- und Sozialpolitik eingehen. Seine brillante Erkenntnis war, daß unter internationalem Vertragsrecht die normalen parlamentarischen Gesetze und Politiken einzelner Staaten unterlaufen werden können. Somit kann ein Vertrag, der innerstaatliche Angelegenheiten betrifft, demokratische Politikgestaltung blockieren.«[6] Mit der EU wurden diese Überlegungen Hayeks Realität.

Kampf um Veränderung

Da eine Öffentlichkeit auf europäischer Ebene so gut wie nicht existiert, kann dort auch der Kampf um Demokratie und soziale Rechte nicht erfolgreich geführt werden. Es fehlt schon an einer gemeinsamen Sprache. Auch deshalb gibt es keine echten europäischen Medien. Zwar hat sich das Englische als moderne Verkehrssprache in Europa durchgesetzt, doch wenn es darauf ankommt, finden die entscheidenden politischen und kulturellen Diskurse in den jeweiligen Landessprachen statt und bleiben so voneinander isoliert.

Bei den »europäischen Parteien« handelt es sich nicht um Parteien im klassischen Sinne. Es sind lediglich »Parteienparteien«, bloße Zusammenfassungen der jeweils nationalen konservativen, sozialdemokratischen, liberalen, grünen und linken Parteien auf europäischer Ebene. Zwar können in einigen dieser Vereinigungen auch Einzelpersonen Mitglied werden, sie sind dort jedoch einflußlos. Auch die Gewerkschaftsbewegungen der Mitgliedsländer arbeiten weitgehend isoliert voneinander. Unterschiedliche Traditionen, Organisationsformen und Rechtsordnungen, aber auch der Konkurrenzkampf der Industriestandorte behindern ein einheitliches Auftreten. Gemeinsamer Widerstand auf europäischer Ebene, wie beim Kampf gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie oder gegen die Privatisierung der Hafendienste, ist die Ausnahme.

Mitgliederparteien, handlungsfähige Gewerkschaften und Räume für öffentliche Auseinandersetzungen finden sich nur auf nationalstaatlicher Ebene. Nur dort existiert ein Mindestmaß an demokratischen Rechten. Es sind Rechte, die in langen und oft blutigen Auseinandersetzungen vor allem von der Arbeiterbewegung erkämpft wurden. Zwar gibt es überall permanent Versuche, diese Rechte einzuschränken, aber auf nationaler Ebene existiert zumindest die Möglichkeit, diesen Angriffen organisiert entgegentreten zu können. Es ist daher nur konsequent, wenn die Arbeiterbewegung, die für erfolgreiche Kämpfe auf den Erhalt und den Ausbau der Demokratie existenziell angewiesen ist, jeder weiteren Übertragung von Kompetenzen an die EU Widerstand leistet. Denn jede Schwächung nationalstaatlicher Befugnisse reduziert ihre Einflußmöglichkeiten.

Was für die Abwehrkämpfe gilt, trifft erst recht für Veränderungen hin zum Sozialismus zu. Sie können nur auf der Ebene des Nationalstaats ansetzen, wo sie aber nicht stehen bleiben dürfen, zielt doch der Sozialismus, ebenso wie sein großer Widersacher, der Imperialismus, auf die Internationalisierung der Produktion, mit der Weltgesellschaft als Perspektive. Schon für Karl Marx und Friedrich Engels stand fest, daß der Kampf um eine neue Gesellschaftsordnung als nationaler begonnen werden muß: »Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.« (MEW 4, S. 473) Und Antonio Gramsci warnte davor, die geschichtliche Abfolge der einzelnen Entwicklungsschritte zu ignorieren, indem man den letzten Schritt – den »planmäßigen Aufbau einer friedlichen und solidarischen Arbeitsteilung« – vor dem ersten – das »Nationalisieren« der Klasse – macht: »Eine Klasse internationalen Charakters, insofern sie streng nationale Gesellschaftsschichten (Intellektuelle) führt, und oft sogar weniger als nationale, partikularistische und lokalpolitische (die Bauern), muß sich in einem strengen Sinne ›nationalisieren‹, und im übrigen in einem nicht sehr strengen Sinn, weil es, bevor sich die Bedingungen für eine Ökonomie nach einem weltweiten Plan herausbilden, nötig ist, vielfältige Phasen zu durchlaufen, in denen die regionalen Kombinationen (von Gruppen von Nationen) unterschiedlich sein können. Doch darf man nie vergessen, daß die geschichtliche Entwicklung solange den Gesetzen der Notwendigkeit folgt, bis die Initiative eindeutig auf die Kräfte übergegangen ist, die den planmäßigen Aufbau einer friedlichen und solidarischen Arbeitsteilung anstreben.« (Gramsci, Gefängnishefte Bd.7, S. 1692) Das bedeutet: Die Arbeiterklasse – die »Klasse internationalen Charakters« – muß sich zunächst »nationalisieren«, um andere Klassen im Land zum Sozialismus führen zu können. Und bevor sich schließlich »die Bedingungen für eine Ökonomie nach einem weltweiten Plan herausbilden« können, wird es »regionale Kombinationen (von Gruppen von Nationen)« fortschrittlicher Länder geben. Dies war der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe und ist gegenwärtig womöglich die Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika (ALBA).

Internationale Solidarität

Heute gilt es vor allem, die in der Euro-Krise unter den Druck Kerneuropas geratenen Peripheriestaaten bei der Verteidigung ihrer Souveränitätsrechte zu unterstützen. Ihr Abwehrkampf ist keineswegs ein Rückzug auf den Standpunkt eines bornierten Nationalismus, wie manche meinen. Eine solche Bewertung ignoriert, daß es zwei klar voneinander zu unterscheidende Nationalismen gibt: Einen aggressiven imperialistischen, der auf Unterdrückung anderer Staaten aus ist – dies ist der Nationalismus bzw. der Chauvinismus der kerneuropäischen Staaten –, und einen defensiven Nationalismus der schwachen Länder, die ihn benötigen, um ihre Souveränität verteidigen und für Selbstbestimmung kämpfen zu können. Dabei ist es in diesen Ländern in erster Linie die Arbeiterbewegung, die für den Erhalt der Souveränitätsrechte eintritt. Die Bourgeoisien dort sind hingegen meist nur daran interessiert, ihre Stellung in der europäischen Hierarchie zu verteidigen, und sei es auch nur eine untergeordnete, abhängige Position.

In Deutschland fordern das Finanzkapital und die hinter ihm stehenden Parteien FDP, CDU/CSU, SPD und Grüne »mehr Europa«. So verlangt etwa Josef Ackermann, der frühere Chef der Deutschen Bank, ganz offen die Entmachtung der nationalen Parlamente: »Die Europäische Währungsunion kann nur funktionieren, wenn der diskretionäre Handlungsspielraum der nationalen Regierungen und Parlamente eingeschränkt wird.« (FAZ vom 5.11.2011) Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel erklärt: »Eine vertiefte Europäische Union ist ohne den Verzicht auf Teile der nationalen Souveränität nicht zu haben.« (Die Zeit vom 15.9.2011) Und Jürgen Trittin von den Grünen assistiert: »Mehr Europa, nicht weniger!« (Jungle World vom 22.7.2010) Im Ergebnis laufen all diese Forderungen auf eine Schwächung der Demokratie hinaus, denn die auf nationaler Ebene aufgegebenen Rechte lassen sich nicht einfach per Dekret durch neue, europäische ersetzen. Die Wahrung, besser noch Ausweitung demokratischer Rechte ist – wie dargestellt – nun einmal auf gemeinsame Räume für öffentliche Auseinandersetzungen angewiesen. Hierzu gehören u.a. das Vorhandensein einer von allen Staatsbürgern beherrschten Sprache sowie handlungsfähige Mitgliederparteien und Gewerkschaften. All das existiert aber auf absehbare Zeit nur auf nationalstaatlicher Ebene.

Eine »demokratische und soziale EU« ist daher eine schöne Idee, doch leider »die Verhältnisse, sie sind nicht so«, um hier mit Bertolt Brecht zu sprechen. Angesichts der vorhandenen Machtverhältnisse in den Mitgliedstaaten sowie in der EU müssen sich die Befürworter einer so progressiv gewendeten EU vielmehr nach der Realisierbarkeit ihres Wunsches befragen lassen. Mehr noch: Die Parole von einer »demokratischen und sozialen EU« ist geeignet, Illusionen über die Reformierbarkeit der Union zu verbreiten und veranlaßt der Integration durchaus kritisch gegenüber Stehende ebenfalls, die Forderung nach einem »Mehr an Europa« zu unterstützen. Objektiv kann daher die Forderung nach einer »demokratischen und sozialen EU« zu einer weiteren Schwächung der demokratischen Rechte auf nationaler Ebene führen. (…)

Was wird aus der EU?

Angesichts der Euro-Krise stellt sich die Frage »Was wird aus der EU?« ganz konkret. Ihre Fortentwicklung zu einer neuen Staatlichkeit, zu einer weiteren Supermacht neben den USA, kann dabei ausgeschlossen werden. Dies lassen schon – wie dargestellt – die zwischenimperialistischen Konkurrenzkämpfe unter ihren wichtigsten Mitgliedsländern nicht zu. Die mit der Euro-Krise einhergehende Herausbildung einer neuen europäischen Hegemonialordnung mit Deutschland als Zentrum könnte vielmehr einen Erosionsprozeß an den Rändern der Union einleiten. Wenn die im Konkurrenzkampf immer weiter zurückfallenden Peripherieländer für sich in der EU keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr sehen, ist nicht auszuschließen, daß sie sich zum Verlassen der Union entscheiden könnten. Mit der Einfügung einer Austrittsklausel durch den Lissabonner Vertrag wurde die rechtliche Möglichkeit dafür geschaffen. Als erstes Land könnte Griechenland in absehbarer Zeit die Euro-Zone und womöglich auch die EU verlassen. Weitere Länder – etwa Portugal, Zypern, Spanien, aber auch osteuropäische Staaten – könnten folgen. Damit würde es zu einem Rückbau einer überdehnten Union kommen, die auf einen Kern hoch entwickelter Länder reduziert werden würde.

Aber nicht nur die Veränderungen im Verhältnis zwischen Kern und Peripherie, sondern auch die Frage der Demokratie kann die Existenz der EU infrage stellen. Da – wie gezeigt – die Union bei der »Negierung der europäischen Demokratien« vorangeht, verliert sie dramatisch an Akzeptanz und werden Forderungen nach einem »Mehr an Europa« zugleich unpopulärer und damit immer weniger durchsetzbar. Eine Stagnation des europäischen Integrationsprozesses und womöglich auch eine Rückübertragung von Unionskompetenzen auf die nationalstaatliche Ebene sind daher nicht mehr auszuschließen.

Die Zukunft der EU als ganzer hängt von den in ihren Mitgliedsländern herrschenden Wirtschaftsordnungen ab. Als ein Staatenbündnis, das zur Bewahrung und Entwicklung der die kapitalistischen Wirtschaftsordnungen sichernden Prinzipien des freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital eingerichtet wurde und diese quasi als seine Verfassung vertraglich verankert hat, steht und fällt die EU mit den Wirtschaftssystemen ihrer Mitgliedsländer. Als Bewahrerin einer liberalen, marktwirtschaftlichen Politik würde die Europäische Union denn auch bei sozialistischen Veränderungen in einem oder in mehreren bedeutenden Mitgliedsländern ihre Basis und schließlich ihre Daseinberechtigung verlieren.

Auf einem anderen Blatt steht jedoch, daß nach solchen Veränderungen schnell neue Formen europäischer Kooperation entstehen müßten, da die europäische Integration zwar Ausdruck einer imperialistisch deformierten, aber zugleich objektiven Vergesellschaftung der europäischen Ökonomien ist.

Anmerkungen:

  1. Gudopp, Wolf-Dieter: »Das Maß der Epoche«, in: Wissenschaft&Sozialismus, 1&2, Frankfurt amMain 1995, S.20
  2. Deppe, Frank (Hrsg.): Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Zur politischen Ökonomie der westeuropäischen Integration, Reinbek bei Hamburg 1975, S.276
  3. Landefeld, Beate: »Finanzgetriebener Kapitalismus – Was macht eigentlich die Bourgeoisie?« (www.neue-impulse-verlag.de/veroeffentlichungen/masch-skripte/16-finanzgetriebener-kapitalismus-was-macht-eigentlich-die-bourgeoisie.html) 2008, S.13; vgl. auch Landefeld, Beate: »Europäisiert sich die Bourgeoisie?«, in: Marxistische Blätter, 1-2010, S. 33ff
  4. Gudopp, Wolf-Dieter: »Der Imperialismus und ›die Periode der Weltkriege‹«, in: Marxistische Blätter 3-1997, S.67
  5. Opitz, Reinhard: Faschismus und Neofaschismus, Bonn, 1996, S.16
  6. Gowan, Peter: »The State of the Union – the global context«, paper presented on the 11th workshop on Alternative Economic Policy in Europe, Brussels 2005, zitiert nach: Klaus Dräger: »Europäische Wirtschaftsregierung«, in: Widerspruch 61, 2011, S.21f
Andreas Wehr: Die Europäische Union. PapyRossa Verlag Köln, Mitte September 2012, 134 Seiten, 9,90 Euro

* Aus: junge Welt, Dienstag, 18. September 2012


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