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Nach dem Europa-Gipfel

Das grosse EU-Theater

Von Michael R. Krätke *

Die Grundprobleme bleiben

Es war grosses Polittheater, was da am vergangenen Wochenende beim EU-Gipfel über die Bühne ging, komplett mit Schurken, HeldInnen und Intriganten, mit Verschwörungen und Versöhnungen. Einige PolitikerInnen, allen voran die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der frisch gebackene französische Präsident Nikolas Sarkozy, liefen zu Hochform auf.

Am Ende haben alle gesiegt, auch wenn es nicht ohne Blessuren abging. Aus der EU-Verfassung ist ein Vertrag geworden, «Reformvertrag» genannt. Ein schlichter multilateraler Vertrag zwischen den Mitgliedsstaaten der Union, der in absehbarer Zeit den jetzt gültigen Vertrag von Nizza als Arbeitsgrundlage der EU ersetzen wird - und ein Begräbnis erster Klasse für das Projekt einer EU-Verfassung, das im Dezember 2001 mit der Einberufung des EU-Verfassungskonvents höchst ambitiös begann.

Der Verfassungsvertrag war gescheitert, als im Mai und Juni des Jahres 2005 die französische und die niederländische Bevölkerung in Volksabstimmungen das Projekt abgelehnt hatten. Das Dokument, das die Staats- und Regierungschefs der Union im Oktober 2004 in Rom unterzeichnet hatten, taugte nicht mehr als Basis des Projekts EU-Verfassung. Die FranzösInnen und NiederländerInnen so lange abstimmen lassen, bis sich das gewünschte Ergebnis einstellt, eine revidierte Fassung vorlegen oder mit der Arbeit von vorn beginnen - von all diesen Optionen war niemand begeistert. Und so verordneten sich die EU-Oberen eine Denkpause, bis sie sich im März dieses Jahres beim Sondergipfel der EU auf Merkels Marschroute einschwören liessen: Bis 2009 muss ein neuer Vertrag für die gesamte EU aus mittlerweile 27 Staaten her.

Keine Referenden mehr

Hinter den Kulissen wurde jedoch nicht pausiert, sondern eifrig an einem Ausweg gebastelt. Angst vor dem Volk, dem grossen und unberechenbaren Lümmel, bestimmte die geheimen Beratungen. Das Ergebnis des Brüsseler Gipfels ist entsprechend: Indem die ganze Operation auf die schlichte Ergänzung und Erweiterung der bestehenden Vertragswerke (vor allem des Vertrags von Nizza) reduziert wird, lassen sich riskante Referenden in den Mitgliedsstaaten vermeiden. Daher wird nun alles vermieden, was der EU den Anschein eines Supra-Staates geben könnte - keine Verfassung, kein Grundrechtekatalog, keine Fahne, keine Hymne, keine Gesetze. Nur Verordnungen und Richtlinien wie bisher.

Die EU-Grundrechtscharta wird kein Bestandteil des neuen Vertrags werden; in Zusatzprotokollen ist ihre Verbindlichkeit eingeschränkt worden. Britannien hat sich ausbedungen, dass die Grundrechtscharta für die BritInnen nicht gilt. Dafür ist eine der umstrittensten Passagen des Verfassungsvertrags - die Festlegung der EU auf Marktwirtschaft und freie Konkurrenz - ebenfalls in eine Fussnote abgeschoben worden.

Es wird auch Vereinfachungen geben wie beispielsweise die Reduzierung der EU-Kommission von jetzt 27 auf 15 Mitglieder im Jahr 2014. Dazu bekommt die EU einen Aussenminister, der allerdings nicht so heissen darf - aber über Kompetenzen verfügt, die die abgelehnte EU-Verfassung vorsah. Andererseits erhalten das EU-Parlament und die nationalen Parlamente mehr Mitspracherechte.

Nationalisten können rechnen

Um die künftigen Abstimmungsprozeduren im Ministerrat ist am heftigsten gestritten worden - mit dem Ergebnis, die Entscheidung durch qualifizierte Mehrheiten (statt der bisher praktizierten Einstimmigkeit) auf die lange Bank zu schieben. Erst 2014, fallweise auch erst ab 2017, soll der neue Abstimmungsmodus gelten. Um das Prinzip ging es nicht - in zehn Jahren wird in der EU eine qualifizierte Mehrheit von 55 Prozent der Mitgliedsstaaten, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten, entscheiden können. Mit starken Worten und Gesten wurde lediglich um das Gewicht gestritten, das einzelnen Staaten wie Polen zukommen soll. Auch bornierte Nationalisten wie die Kaczynski-Zwillinge können rechnen. Sie brauchen die Subventionen der EU und haben mit grobschlächtiger Diplomatie ihren Preis hochgetrieben.

Doch mit den krachenden Winkelzügen hat der Gipfel kein einziges der grundlegenden Probleme gelöst.
  • Der Verfassungsprozess ist so undemokratisch wie eh und je.
  • Nach wie vor dominieren institutionelle Instanzen. Die Macht des Europäischen Gerichtshofs (als de facto Nebengesetzgeber) wird ebenso wenig beschnitten oder kontrolliert wie die Macht der Europäischen Zentralbank (de facto eine oberste Wirtschaftsbehörde, welche die von der EU-Bevölkerung immer noch geschätzten Ziele wie qualitatives Wachstum, Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit schlicht ignoriert).
  • Von einer klaren Gewaltenteilung ist die EU weit entfernt. Das EU-Parlament bleibt ein halbes Parlament - ohne vollwertige Initiativmöglichkeiten auf allen Politikfeldern und ohne ausreichende Kontrollrechte gegenüber der EU-Kommission. Die nationalen Parlamente sind in einer ähnlichen Lage: Sie können auf EU-Ebene ebenso wenig eine ­Gesetzesinitiative ergreifen wie die EU-BürgerInnen - sie dürfen lediglich Beschwerde führen und notfalls Halt rufen.
  • In der EU wird es weiterhin an Transparenz fehlen, es wird weiterhin gemauschelt, getrickst und betrogen werden; private Lobbys, von denen es in Brüssel wimmelt, werden nach wie vor das Ohr der Mächtigen haben. Die EU-Oberen haben ihre Abneigung gegen alle Formen der partizipativen oder direkten Demokratie einmal mehr unter Beweis gestellt.
Auch die anderen Probleme, die sich aus der Zusammensetzung der EU und aus ihrer Position in der Weltwirtschaft ergeben, sind nicht einmal ansatzweise erörtert worden. Die EU ist nach wie vor eine ökonomische Weltmacht, die so tut, als sei sie keine. Die EU betreibt de facto das, was sie anderen vorwirft - sie ist äusserst erfolgreich dabei, mit ihren ehemaligen Kolonien ganz besondere, höchst vorteilhafte Handelsabkommen zu schliessen, an der Welthandelsorganisation vorbei. Die Länder der Eurozone betreiben längst eine eigene Eurodiplomatie. Die EU ist dabei, sich zur militärischen Grossmacht zu mausern und betreibt weiterhin eine widersinnige Agrarpolitik, die einer Minderheit von Agrarunternehmen nützt und den BäuerInnen nicht hilft.

Solange sie den Schritt zu einer föderalen Ordnung nicht wagen kann, bleibt die EU Gefangene der nationalen Egoismen ihrer Mitgliedsstaaten, die sich beispielsweise in Steuerkonkurrenz austoben. Solange sie kein politisches Projekt über Markt und mehr Markt (für Waren, für Geld und für Kapital) hin-ausentwickelt, wird jede Erweiterung der EU zu einer erneuten Schlacht um Marktanteile.

Davon profitiert im Moment die deutsche Exportindustrie am stärksten. Der berüchtigte Exportweltmeister, für den die anderen EU-Länder den mit grossem Abstand wichtigsten Markt darstellen, hat seine Nachbarn mit rücksichtsloser Lohnsenkung im eigenen Land und knallharten Exportoffensiven ständig unter Druck gesetzt - mit der Folge, dass der Wirtschaftsraum EU langsam, aber sicher aus den Fugen gerät. Aber in der EU gilt nach wie vor die Diplomatenregel: Von dem, was wirklich wichtig ist, spricht man nicht.

* MICHAEL R. KRÄTKE ist Wirtschafts­professor an der Universität Amsterdam. Er schreibt regelmässig für die WOZ.

Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 28. Juni 2007



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