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Neues Oberkommando

Hintergrund. Die EU-Abschottungsagentur Frontex wird nach und nach als Zentrale der europäischen Grenzschutzverbände aufgebaut. Libyen-Krise könnte als Katalysator für Fluchtbewegungen wirken

Von Ulla Jelpke *

Die Bundeswehr hat ihre ersten Einsätze in Libyen bereits hinter sich: Am 22. Februar wurden die ersten Deutschen mit zwei Transall-Transportflugzeugen der Luftwaffe aus Tripolis ausgeflogen. Am 23. Februar wurden weitere deutsche und EU-Bürger mit einem Flugzeug des Bundesverteidigungsministeriums außer Landes gebracht, und am selben Tag begann die »Operation Pegasus«: Insgesamt tausend Mann zu Wasser und in der Luft werden in Bewegung gesetzt, um insgesamt 132 EU-Bürger aus einer Ölbohranlage des Konzerns Wintershall mitten in der Wüste im Südosten Libyens zu evakuieren. Die dabei bereitgehaltenen Kriegsschiffe der Marine wurden dann für eine humanitäre Operation eingesetzt: Am 5.März stachen sie von Tunesien aus in See, um 412 ägyptische Arbeitsmigranten, die aus Libyen geflohen waren, in ihre Heimat zurückzubringen. Die NATO hat mittlerweile mit der Beobachtung des libyschen Luftraums begonnen und diskutiert verschiedene Eingriffsszenarien.

Die Evakuierung der Flüchtlinge war nicht nur von hohem Symbolwert und bot der Bundeswehr die Gelegenheit, sich als Helfer in der Not zu präsentieren, sondern zeigt auch ihren Willen und ihre Fähigkeit zu »blitzartigen« Interventionen im Ausland. Der humanitäre Nutzen war angesichts von mittlerweile über 200000 Menschen, die Libyen inzwischen verlassen haben, weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Der vor allem von Politikern der faschistischen Lega Nord in Italien herbeigeredete »Exodus biblischen Ausmaßes« in Richtung EU ist bislang weitgehend ausgeblieben. Auf Lampedusa sind zwar mittlerweile fast zehntausend Migranten aus Tunesien angelandet, die auch nach dem Abgang des früheren Diktators Ben Ali keine Perspektive dort sehen. Sie nutzen die eingeschränkte Einsatzfähigkeit der tunesischen Küstenwache, die derzeit ihre Rolle als Torwächter zur EU noch nicht wieder einnehmen kann. Die meisten der aus Libyen fliehenden Menschen haben hingegen kaum ein Interesse, in die EU zu gelangen: Sie wollen vor allem in ihre Herkunftsländer zurückkehren.

Bedrängte Migranten

Denn nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gibt es in Libyen rund zweieinhalb Millionen Arbeitsmigranten. Sie stammen aus den Nachbarländern Ägypten und Tunesien oder aus anderen Staaten wie China, der Türkei, Bangladesch und afrikanischen Staaten südlich der Sahara. Nur die wenigsten von ihnen haben lukrative Arbeitsplätze in der Ölindustrie, die meisten schuften in »harten, schmutzigen und schlecht bezahlten Jobs wie Feldarbeit, Beladen von Lastautos, Dienstleitungsgewerbe wie Auto waschen, Müll sammeln«, heißt es in einem Papier von Amnesty International.

Nach Angaben des EU-Kommissariats für Humanitäre Hilfe (ECHO) vom 5. März sind 100000 Menschen aus Libyen in Richtung Ägypten und ungefähr genauso viele in Richtung Tunesien geflohen. 3000 bis 4000 Menschen sind über die Südgrenze nach Algerien bzw. Niger gelangt. Es wird mit weiteren 200000 gerechnet, die das Land noch verlassen werden. Die meisten dieser Arbeitsmigranten werden weiterhin mit Unterstützung durch die Vereinten Nationen (UN) oder die Europäische Union (EU) ausgeflogen oder mit Schiffen in ihre Herkunftsstaaten gebracht. Allein von Djerba in Tunesien sind nach Angaben von ECHO bis zum 5. März 322 Flüge gestartet worden. Neben humanitären Überlegungen spielt dabei auch eine Rolle, daß die Lage in den Auffanglagern an den Grenzen Libyens zu den Nachbarstaaten unter Kontrolle gehalten werden soll. Schwer haben es vor allem die Bengalen und die Migranten aus den subsaharischen Staaten wie Nigeria oder Mali. Ihre Länder sind nicht in der Lage, eine Rückholaktion zu organisieren und dafür Schiffe oder Flugzeuge zur Verfügung zu stellen.

Zudem sind insbesondere afrikanische Migranten aus den subsaharischen Staaten Anfeindungen der aufständischen Bevölkerung ausgesetzt. Denn immer neue Gerüchte sind im Umlauf, nach denen Libyens Staatschef Muammar Al-Ghaddafi angeblich schwarze Afrikaner aus dem Tschad, dem Sudan oder Mali rekrutiert hat, um die Aufstände in seinem Land niederzuschlagen. Selbst dunkelhäutige, offizielle Angehörige der Sicherheitskräfte werden häufig, obwohl libysche Staatsangehörige, für ausländische »Söldner« gehalten. Belege für eine massive Söldneranwerbung gibt es bislang kaum, die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch geht davon aus, daß nur wenige solcher Krieger tatsächlich im Einsatz sind. Gleichwohl werden »schwarze« Flüchtlinge etwa aus Somalia, Eritrea und Mali, die von Ghaddafi in Auffanglagern und Abschiebegefängnissen interniert wurden, mitunter Opfer von Attacken der aufgebrachten Bevölkerung. Gleichzeitig sind sie weiterhin der Willkür und Brutalität der Repressionsorgane und mit ihnen verbandelten kriminellen Gruppen ausgeliefert. Derzeit ist allerdings kaum etwas über die Lage in den 16 bekannten Auffanglagern in Libyen bekannt.

Flüchtlingsgruppen

Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, UNHCR, benennt in einer aktuellen Stellungnahme zum Schutzbedarf von Personen, die aus Libyen fliehen, fünf verschiedene Gruppen. Die mit Abstand größte sind die bereits erwähnten Arbeitsmigranten. Während Gastarbeiter aus arabischen Staaten relativ umfangreiche Rückkehrhilfe erhalten, sind jene aus Bangladesch und den subsaharischen Staaten weitgehend auf sich allein gestellt. Manche von ihnen versuchen nach verschiedenen Meldungen, im Rahmen ihrer Evakuierung in die EU zu gelangen, wenn ihre Route zunächst über griechische Häfen führt.

Als zweite Gruppe bezeichnet der UNHCR »Personen mit spezifischen Bedürfnissen«. Damit sind vor allem allein reisende Frauen, von ihren Eltern bei der Flucht getrennte Kinder, Opfer von Menschenhandel oder Menschen mit Traumatisierungen gemeint. Diese bräuchten, so der ­UNHCR, besondere Aufmerksamkeit und kompetente Betreuung. Ob die in den Auffanglagern gegeben ist, darf bezweifelt werden. Dieser und der dritten Gruppe dürfte die besondere Aufmerksamkeit des UNHCR gelten: Die Flüchtlinge, die eigentlich nie nach Libyen, sondern schon immer in die EU wollten und von Ghaddafis Schergen im Verein mit der EU und vor allem Italien daran gehindert wurden. Das betrifft viele Menschen aus Somalia, Eritrea und dem Irak. Sie sind zum Teil in Libyen durch den UNHCR als Flüchtlinge registriert worden, viele hatten dazu aber bislang überhaupt keine Gelegenheit. Mehr und mehr kommt noch eine vierte Gruppe hinzu: Libyer selbst, vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen, die vor den zunehmenden militärischen Auseinandersetzungen ebenfalls in Richtung der Nachbarstaaten an der Küste fliehen. Gegen sie vor allem richtet sich der Einsatz des libyschen Militärs an der libysch-tunesischen Grenze, wo die Flüchtenden aufgehalten werden. Der UNHCR warnt daneben vor einer fünften, relativ kleinen Gruppe: Libyer, die als Teil von Ghaddafis Sicherheitsapparat Menschenrechtsverbrechen begangen haben und nun versuchen, als Flüchtlinge das Land zu verlassen. Der ­UNHCR hat empfohlen, bis auf die letzte Gruppe allen entweder vorübergehenden Schutz zu gewähren oder die Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu unterstützen.

Sollte Ghaddafi die Aufstandsbewegung niederschlagen, muß unter Umständen mit einer weiteren massiven Fluchtbewegung all jener gerechnet werden, die am Widerstand beteiligt gewesen waren.

Die EU und ihre Mitgliedsstaaten haben bislang wenig Neigung erkennen lassen, sich an der Aufnahme dieser Menschen und der Gewährung vorübergehenden Schutzes mit wesentlichen Beiträgen zu beteiligen. Statt dessen gibt es hohe Zahlungen für Auffanglager in Nordafrika selbst, wofür 30 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Für den Fall, daß es doch zum befürchteten Ansturm von Flüchtlingen auf die Festung Europa kommen sollte, hat die Kommission weitere 25 Millionen Euro bereitgestellt: Ein Teil davon wird der Unterstützung Italiens bei der Aufnahme und Durchführung von Asylverfahren zugute kommen, ein weiterer steht der EU-Abschottungsagentur Frontex zur Verfügung, die ihre militarisierte Sicherung der Außengrenzen der EU gegen Schutzsuchende und Migranten optimieren soll (siehe jW-Thema vom 22.3.2010 und 6.7.2010). Seit dem 20. Februar läuft die »Operation Hermes«, bei der bislang 20 Experten aus den EU-Mitgliedsstaaten in den italienischen Aufnahmezentren zur Identifikation der Schutzsuchenden eingesetzt werden. Die beteiligten Staaten (unter ihnen Deutschland) haben außerdem zwei Schiffe und acht Flugzeuge bereitgestellt, die die italienische Küstenwache bei der Überwachung der »Straße von Lampedusa« und dem Aufbringen von Flüchtlingsbooten unterstützen sollen. Ziel ist – auch in Kooperation mit der tunesischen Küstenwache – die Schiffe zur Rückkehr zu zwingen. Bei diesen Einsätzen wird nicht mehr unterschieden, ob sich an Bord »nur« Migranten oder auch Menschen befinden, die ein Asylgesuch in der EU stellen oder sonstigen Schutz suchen wollen. Menschenrechtsorganisationen haben dies in der Vergangenheit mehrfach massiv kritisiert.

Frontex wird perfektioniert

Diese Kritik an Frontex wird von der EU mit dem Hinweis auf die Bindung an die Genfer Flüchtlingskonvention pariert. Der Entwurf für eine Neufassung der Frontex-Verordnung der EU-Kommission, der im März 2010 vorgestellt worden ist und seitdem im Rat der Innenminister und im EU-Parlament beraten wird, räumt den Menschenrechten zumindest verbal einen höheren Stellenwert ein. So heißt es, daß Verbindungsbeamte von EU-Staaten nur in solche Drittstaaten entsandt werden sollen, »deren Grenzverwaltungsmethoden Mindestmenschenrechtsstandards genügen«. Verbindungsbeamte haben unter anderem die Aufgabe, für eine effizientere Abwicklung von Abschiebeaktionen zu sorgen. Der Austausch solcher Beamter ist die Vorstufe zu einer dauerhaften Kooperationsvereinbarung.

Es bleibt dabei völlig offen, wie es in diesen Drittstaaten allgemein um die Menschenrechte bestellt sein soll und was überhaupt ein »Mindeststandard« ist. Die Palette möglicher Menschenrechtsverletzungen ist schließlich breit. Schon die Formulierung legt nahe, daß »kleinere« Menschenrechtsverletzungen für die EU kein hinreichender Grund sind, auf eine Kooperation mit Repressionsorganen zu verzichten. Von der ansonsten proklamierten »Unteilbarkeit der Menschenrechte« ist dieser Ansatz meilenweit entfernt. Zudem ist nirgendwo verankert, wer die Einhaltung der Menschenrechte in der täglichen Arbeit von Frontex überwachen soll.

Frontex selbst ist nur schwer zu kontrollieren: Die Agentur ist rechtlich eigenständig. Der Exekutivdirektor untersteht einem Verwaltungsrat, der wiederum von Vertretern der Mitgliedsstaaten und der Kommission gebildet wird. Eine parlamentarische Kontrolle besteht also allenfalls sehr vermittelt über die Regierungen, die theoretisch von ihren Parlamenten zur Berichterstattung über die Tätigkeit im Verwaltungsrat aufgefordert werden können. Als weiteres Kontrollmittel bleiben die Haushaltsberatungen im Europäischen Parlament. Dort besteht derzeit ein gewisser Spardruck, der zu einer Kürzung des Frontex-Haushalts um sieben Prozent auf 86 Millionen Euro im Jahr 2011 geführt hat. Dabei machen die Ausgaben für operative Tätigkeit 83 Prozent des Gesamtbudgets aus, die Zahl der Mitarbeiter bleibt stabil bei 298. Doch wenn sich die Pläne zum Ausbau der Agentur durchsetzen, wird es dabei nicht bleiben können. Vehement fordert etwa Exekutivdirektor Ilkka Laitinen, daß Frontex eigene Einsatzgeräte und operativ tätiges Personal beschaffen bzw. beschäftigen können solle. Bislang benennen die Mitgliedsstaaten nämlich nur einen Pool von »Experten«, die von Frontex dann angefordert werden können. In der Praxis erklären die Mitgliedsstaaten ihre Beamten aber regelmäßig für unabkömmlich. Der neue Verordnungsentwurf sieht deswegen vor, daß die Mitgliedsstaaten Beamte befristet unmittelbar an Frontex abstellen. Für »Gemeinsame Aktionen« (Joint Operations) und Pilotprojekte stellt die Agentur dann sogenannte Unterstützungsteams zusammen, die aus diesen »geliehenen« und jenen Beamten bestehen sollen, die auch bislang schon von den Mitgliedsstaaten an Frontex gemeldet worden sind. Damit erhält Frontex dahingehend einen größeren Handlungsspielraum, für welche »Gemeinsamen Aktionen« und Pilotprojekte wieviele Ressourcen zur Verfügung stehen. Die Entscheidung, welche Einsätze nach welchen Maßgaben durchgeführt werden, verbleibt weiter bei den Mitgliedsstaaten. Der Staat, von dessen Territorium die Operationen im einzelnen durchgeführt werden, ist als »Einsatzmitgliedsstaat« definiert und leitet sie – Frontex hat hier nur beschränkten Einfluß. Alles andere wäre ein zu tiefer Eingriff in die einzelstaatliche Souveränität, schließlich geht es bei der Grenzüberwachung um ein zentrales hoheitliches Recht, daß die Einzelstaaten nicht freiwillig an irgendeine EU-Agentur abtreten werden. Dennoch erhält die Agentur durch die selbstbeschafften Einsatzmittel, die »Leasing-Beamten« und die nun rechtlich vorgeschriebenen Konsultationen mit dem Einsatzmitgliedsstaat ein stärkeres Gewicht gegenüber den nationalen Grenzpolizeien.

Neue Aufgaben

Auch im Bereich Abschiebungen enthält der Vorschlag der EU-Kommission, der vom Rat derzeit noch diskutiert wird und auch im Europäischen Parlament noch beraten werden muß, eine Ausdehnung der Frontex-Tätigkeit. Die Agentur soll nun nicht mehr nur koordinierend bei Abschiebeaktionen tätig sein, sondern die Mitgliedsstaaten bei der Organisation aktiv unterstützen und eigene Finanzmittel bereitstellen. Es soll ein Verhaltenskodex für Abschiebungen erstellt werden, der unter anderem die Durchführung von Sammelabschiebungen erleichtern soll. Als menschenrechtliches Feigenblatt sollen unabhängige Abschiebebeobachter eingesetzt werden, die Berichte über jede Maßnahme anfertigen und der EU-Kommission übergeben. Wer sie stellen soll, ist noch unklar. In Frage dürften etwa Mitarbeiter der Internationalen Organisation für Migration oder von Kirchen kommen. Letztere stellen bislang schon vereinzelt Abschiebebeobachter an deutschen Flughäfen. Langfristig von Bedeutung ist außerdem, daß Frontex zentrale Lehrpläne für die Grenzbehörden aller Mitgliedsstaaten erstellt und diejenigen Beamten schult, die in ihren Heimatländern Ausbildungsmaßnahmen für die Grenzschutztruppen durchführen. Damit wird ein einheitliches Niveau der Abschottungstätigkeit in allen Mitgliedsstaaten aufgebaut, das den gemeinsamen Einsatz von Grenzbeamten aus allen Mitgliedsstaaten im Rahmen von Frontex-Operationen wesentlich erleichtern wird.

Noch eine weitere neue Aufgabe enthält der Verordnungsentwurf für Frontex: Die Agentur soll an der Errichtung eines riesigen europäischen Grenzüberwachungssystems mitwirken, genannt EUROSUR. An diesem arbeitet die Kommission bereits seit 2006, als eine erste Mitteilung über den Ausbau des Grenzmanagements an den südlichen Außengrenzen der EU veröffentlicht wurde. In den Jahren 2007 und 2008 legte die Forschungsabteilung von Frontex hierzu bereits zwei Machbarkeitsstudien vor (MEDSEA und BORTEC), die unterschiedliche technische Aspekte der Überwachung des Meeres beinhalteten. Übergeordnetes Ziel von EUROSUR ist es, den Mitgliedsstaaten zu ermöglichen, ein präzises Bild der Lage an und vor ihren Grenzen zu gewinnen und auf »Bedrohungen« unterschiedlicher Art schnell und mit den »richtigen« Mitteln reagieren zu können.

Die EU-Kommission benennt drei konkrete Ziele für die Einrichtung von EUROSUR. Ganz oben steht die Reduzierung der Zahl illegaler Einwanderer, die unerkannt die EU-Außengrenze überschreiten. Außerdem heißt es, durch die Eindämmung der grenzüberschreitenden Kriminalität (Terrorismus, Drogen- und Waffenschmuggel, Menschenhandel) solle die »innere Sicherheit« erhöht werden. Inwiefern es tatsächlich gesteigerte Kriminalität im Handlungsbereich von Frontex gibt, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, sicher ist aber, daß Frontex danach strebt, auch kriminalpolizeiliche Kompetenzen zu erhalten und damit langfristig Europol Konkurrenz zu machen. Als weiteres Ziel von EUROSUR wird schließlich die Verbesserung der Such- und Rettungskapazitäten, also das schnellere Auffinden von in Seenot geratenen Schiffen, genannt– schließlich macht es sich schlecht, wenn die Medien allzu häufig über ertrunkene Flüchtlinge berichten müssen.

In der ersten Phase der Einrichtung von ­EURO­SUR sollen die einbezogenen Mitgliedsstaaten nationale Koordinierungszentren bilden, die rund um die Uhr arbeiten, untereinander und für Frontex als zentraler Ansprechpartner dienen und ihre Erkenntnisse in ein gemeinsames Kommunikationsnetz einspeisen. Im Sinne des »Integrierten Grenzmanagements« der EU sind an diesem nationalen Zentrum alle Behörden beteiligt, die irgendeinen Bezug zu Grenzfragen in ihrem Aufgabenbereich haben – der, wie gezeigt, von der Flüchtlingsabwehr bis zur Kriminalitätsbekämpfung reicht. Im Ergebnis sind so gut wie alle Behörden mit Sicherheitsaufgaben involviert, inklusive Militär und Nachrichtendiensten. Nachdem also zunächst die an EUROSUR teilnehmenden Staaten einen Teil ihrer Sicherheitsapparate zentralisiert haben, ist eine weitere Aufgabenbündelung auf EU-Ebene vorgesehen: Frontex soll, so eine Idee aus der Kommission, in diesem Netz nationaler Koordinierungszentren die Rolle eines »europäischen Lagezentrums« übernehmen. Die Einrichtung dieser Zentren wird derzeit mit Mitteln aus dem Außengrenzenfonds der EU finanziell unterstützt.

Lückenlose Überwachung

In der zweiten Phase der Etablierung von ­EUROSUR wird es insbesondere um die Erforschung, Entwicklung und koordinierte Anschaffung »kapitalintensiver Instrumente« wie Überwachungsdrohnen und -satelliten gehen. Damit sollen zum Beispiel nachrichtendienstlich erworbene Erkenntnisse über geplante Drogentransporte mit polizeilicher Technik zur Verfolgung der Drogenhändler gekoppelt werden. In der abschließenden dritten Phase geht es darum, alle vorhandenen Melde- und Überwachungssysteme an den südlichen und östlichen Seeaußengrenzen in ein Netz zu integrieren und schließlich auf sämtliche Seeaußengrenzen auszudehnen.

Die Instrumente, die für dieses weitreichende Überwachungssystem benötigt werden, sollen dabei möglichst »gemeinschaftsfähig« sein. Frontex soll die Anschaffungen der verschiedenen EU-Staaten koordinieren und beispielsweise dafür sorgen, daß nicht etwa zwei Nachbarstaaten am gleichen Küstenabschnitt neue und teure Ortungssysteme wie etwa Seeradaranlagen aufstellen. Nationale Anschaffungen für die Grenzüberwachung, aber auch die Einsatzstrategien und Routinen in den noch zu errichtenden nationalen Koordinierungszentren sollen alle gleichermaßen dem »gemeinsamen« Ziel von Frontex untergeordnet und untereinander kompatibel sein. Zu diesem Zweck führt die Agentur seit längerem mehrere Pilotprojekte durch.

An dieser Stelle schließt sich ein weiteres Mammutvorhaben der EU an: die »Schaffung eines gemeinsamen Informationsraums für die Überwachung des maritimen Bereichs der EU«. Darin sollen alle Informationen, die egal an welcher Stelle in der EU über den Meeresraum anfallen, zusammengeführt werden: Informationen zur Handelsschiffahrt, zum Fischfang, zur grenzpolizeilichen Überwachung des Seeraums (also ­EUROSUR), zum Wetter und nicht zuletzt zur militärischen Lage. Zusammengeführt werden diese Informationen aus den unterschiedlichsten Überwachungssystemen: Satelliten, Radar, Drohnen, militärische Überwachungsflüge (AWACS) und verschiedenste Datennetzwerke.

Die Tendenz dieser Entwicklung liegt auf der Hand: Frontex wird zu einer Art Oberkommando der europäischen Grenzschutzverbände aufgebaut. Offiziell den Menschenrechten verpflichtet, was aber mangels rechtlicher und praktischer Kontrollmöglichkeiten nicht zu überprüfen ist. Ob die Militarisierung der Flüchtlingsabwehr ihr Ziel, die illegalisierte Einreise über das Meer oder über die Landgrenzen einzudämmen, erreicht, ist höchst unsicher, denn an den Ursachen von Fluchtbewegungen wollen die in der EU vereinigten kapitalistischen Staaten nichts Wesentliches ändern. Sicher ist nur, daß mit dem Frontex-Programm auch in Zukunft Flüchtlinge zu weiten und gefahrvollen Umwegen gezwungen werden– und wenn sie abgefangen werden, die Flucht eben ein zweites Mal wagen müssen. Bis sie in der EU ankommen, in ein Internierungslager verbracht werden oder, wie schon bisher Tausende, ums Leben kommen. Die Umstürze und Aufstände in Nordafrika und manchen arabischen Staaten ermöglichen im Moment umfangreichere Fluchtbewegungen, weil die alten Regime bislang auch von der EU aufgepäppelt wurden, um Flüchtlinge aufzuhalten. Man darf wetten: Bleibt Ghaddafi in Libyen als Machthaber im Amt, wird sich die EU wiederum mit ihm arrangieren. Wird er gestürzt, wird die EU sofort versuchen, die neuen Machthaber ins Boot zu holen, auf daß die »bewährte« Beihilfe Libyens zur Abschottung Europas fortgesetzt wird.

* Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag.

Aus: junge Welt, 19. März 2011



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