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Europa überlässt die Hilfe anderen

EU-Innenminister schieben Beschluss über Aufnahme von Irak-Flüchtlingen auf die lange Bank

Von Ines Wallrodt *

Zwei Tage vor dem Treffen der EU-Innen- und Justizminister haben Parteien, Kirchen, Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen eine rasche Aufnahme irakischer Flüchtlinge in Europa gefordert.

Die Bundesrepublik soll ihre Türen endlich für irakische Flüchtlinge öffnen. Dies forderten am Dienstag Menschenrechts- und Flüchtlings-organisationen, die Evangelische Kirche bis hin zu Politikern der CDU. Sie warnten davor, eine Entscheidung beim anstehenden Treffen der EU-Innenminister am Donnerstag in Brüssel erneut zu vertagen. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) appellierte an die Europäische Union, sich an Resettlement-Programmen der UN zu beteiligen. Dabei verteilt das UNHCR Flüchtlinge nach festgelegten Quoten auf aufnahmefähige Länder.

Die Debatte zieht sich seit Monaten hin. Im Frühjahr hatte sich Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) auf Druck der Kirchen dafür ausgesprochen, besonders schutzbedürftige Flüchtlinge aufzunehmen. Nach einem Besuch des irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki änderte sich die Position der Bundesregierung jedoch über Nacht. Maliki hatte die Sicherheitslage in seinem Land recht optimistisch beschrieben und alle Iraker aufgerufen, in ihre Heimat zurückzukehren und beim Aufbau zu helfen. Bei der folgenden Beratung der europäischen Innenminister wurde der Punkt maßgeblich wegen deutscher Bedenken auf September verschoben. Bis dahin wollte man sich ein Bild von der Lage machen.

Nach Ansicht von Menschenrechtsorganisationen ist ein Beschluss überfällig. »Der Irak ist immer noch eines der gefährlichsten Länder weltweit«, sagte die Flüchtlingsreferentin von Amnesty International, Julia Duchrow, am Dienstag in Berlin. Schätzungen zufolge seien dieses Jahr bereits 7000 Zivilisten getötet worden. Religiöse und ethnische Minderheiten oder bestimmte Berufsgruppen sind nach Angaben von Amnesty hochgradig gefährdet. »Die Lage ist weiterhin katastrophal, die Regierung kann ihre Sicherheit nicht gewährleisten«, so Duchrow.

Europa überlässt die Hilfe für Flüchtlinge aus dem Irak bislang vor allem anderen. In Land selbst leben 2,7 Millionen Binnenvertriebene, hinter der Grenze in Syrien und Jordanien noch einmal etwa 2 Millionen. Weder Irak noch die Nachbarstaaten könnten diesen Menschen eine Lebensperspektive bieten, sagte Duchrow. Europa müsse seiner internationalen Verantwortung nachkommen.

Aber auch diese Woche ist in Brüssel keine Entscheidung zu erwarten. Laut Innenministerium will sich eine europäische Delegation im Oktober vor Ort informieren, welcher Personenkreis für ein Resettlement in Frage komme. Innenminister Schäuble werde sich dafür einsetzen, dass auf dieser Grundlage im November eine Entscheidung gefällt werde, sagte ein Sprecher gegenüber ND.

Das Ministerium verweist auf »langwierige Verhandlungen in Europa«. Dabei könnte Deutschland auch allein handeln, wie Karl Kopp von Pro Asyl betonte. »Wir brauchen ein klares Signal von einem großen Land.« Weitere Recherchen vor Ort seien nicht nötig. Die sei Situation hinlänglich bekannt.

Das Zeitfenster für eine einseitige deutsche Lösung ist eng. Gibt es im November zwischen den Länderinnenministern keine Einigung, könnte es zu spät sein. Ab Januar startet der Bundestagswahlkampf und da haben Anliegen von Flüchtlingen erfahrungsgemäß keine großen Chancen.

Resettlement

Mit dem englischen Begriff »Resettlement« (Umsiedlung) ist die Praxis des UNHCR gemeint, die im Auftrag der UNO Flüchtlinge aus Fluchtländern in aufnahmebereite Staaten vermitteln. Bedingung für die Flüchtlinge ist, dass sie nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt sind und als besonders schutzbedürftig eingestuft werden. Vermittelt werden deshalb vielfach Folteropfer, Kranke und traumatisierte Flüchtlinge oder auch Frauen, die besonderen Risiken ausgesetzt sind. Von 11 Millionen Flüchtlingen weltweit wurden 2007 rund 90 000 Flüchtlinge vom UNHCR für eine Umsiedlung vorgeschlagen. Hauptaufnahmeländer sind die USA, Kanada und Australien. Die EU spielte mit 6000 Aufnahmen nur eine geringe Rolle. Die Bundesrepublik ist bisher kein Resettlement-Staat, hat aber früher mehrfach Gruppen aufgenommen – etwa vietnamesische Boat-People und jüdische Kontingentflüchtlinge. MK



* Aus: Neues Deutschland, 24. September 200


Berlin steht bereit **

Senat für Aufnahme von irakischen Flüchtlingen

Von Martin Kröger **


Der rot-rote Senat in Berlin fordert die Bundesregierung auf, irakische Flüchtlinge endlich aufzunehmen – notfalls auch im Alleingang. Die Hauptstadt selbst ist bereit, sofort 300 Flüchtlinge unterzubringen. Mit der Save-Me-Kampagne gibt es zudem Unterstützung aus den sozialen Bewegungen für das Ansinnen.

Die Sache war bereits in trockenen Tüchern. »Im April haben alle Minister der Innenministerkonferenz den Vorstoß des Bundesinnenministers Schäuble, irakische Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, unterstützt«, sagt Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD). Gemeinsam mit Vertretern des UNHCR, missio und von Pro Asyl ist er an diesem Montagabend nach Kreuzberg in die Heilig-Kreuzkirche gekommen, um über die Frage zu diskutieren, ob auch Berlin Ja sagt zur Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Zweistromland.

Die Antwort fällt eindeutig aus: »Berlin ist logistisch und sonstwie in der Lage, Flüchtlinge einseitig aufnehmen.« In der Berliner rot-roten Koalition gibt es in dieser Frage einen Konsens mit der für die Unterbringung für Flüchtlinge zuständigen Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (LINKE), erläutert Körting. »Berlin könnte sofort 300 Flüchtlinge aufnehmen«, bestätigt die Sprecherin Knake-Werners gegenüber ND. Zuvor müssten aber die juristischen Fragen geklärt sein. Dass es auf EU-Ebene zu einer diesbezüglichen Einigung kommt, glaubt Berlins Innensenator indes nach den Erfahrungen des letzten halben Jahres nicht mehr. Auch einigen seiner Kollegen aus den anderen Bundesländern traut er in der Flüchtlingsfrage nicht über den Weg: Einige haben den Beschluss vom April nur »mit dem Messer in der Tasche zugestimmt«, glaubt Körting. Gemeint sind die Hardliner aus Niedersachsen und Bayern. Aus diesen Gründen drängt der rot-rote Senat auf einen Alleingang. »Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie das wahr macht, was Innenminister Schäuble angekündigt hat«, fordert Körting. Und: »Die Bundesregierung sollte Flüchtlinge einseitig aufnehmen.« Dies bekräftige Körting nach Angaben seiner Sprecherin in dieser Woche auch erneut in einem Schreiben an Schäuble.

Unterstützt wird der Senat unterdessen aus den sozialen Bewegungen der Stadt. Seit Ende Juni trommelt ein Bündnis gesellschaftlicher Gruppen von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Flüchtlingsorganisationen mit der Kampagne »Save me – Eine Stadt sagt ja!« für ein Resettlement-Programm – wie in München, wo die »Save me«-Idee entwickelt wurde. »Die Aufnahme von irakischen Flüchtlingen wäre ein erster Schritt«, sagt Jens-Uwe Thomas vom Berliner Flüchtlingsrat. »Resettlement sollte sich aber nicht auf eine bestimmte Flüchtlingsgruppe beschränken.«

** Aus: Neues Deutschland, 24. September 2008


Flüchtlingselend ignoriert

Vor Tagung der EU-Innen- und Justizminister: Amnesty und Pro Asyl fordern von BRD Initiative für Aufnahme von Irakern. Entscheidung dazu wird voraussichtlich erneut vertagt

Von Jana Frielinghaus ***

Beim Treffen der EU-Innen- und Justizminister, das am morgigen Donnerstag in Brüssel beginnt, müßte ein Beschluß über die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Irak auf dem Programm stehen. Eigentlich hätte es eine solche Übereinkunft bereits im Juli geben sollen. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) hatte eine deutsche Initiative angekündigt. Zuvor hatte er sich insbesondere von den großen Kirchen davon überzeugen lassen, daß dort im Irak gerade Christen um Leib und Leben fürchten müssen.

Im Juli kam nach einem Besuch des irakischen Ministerpräsidenten Nuri Al-Maliki bei Kanzlerin Angela Merkel der Rückzieher: Nach dessen Darstellung hat sich die Lage im Zweistromland bereits stark verbessert. Diese Sicht machte sich die Bundesregierung umgehend zu eigen, in der Folge scheiterte eine europäische Einigung zur Flüchtlingsaufnahme.

Am Dienstag (23. Sept.) forderten Vertreter von Amnesty International und Pro Asyl die deutsche Regierung erneut auf, endlich irakische Flüchtlinge aufzunehmen. Der Irak sei immer noch »eines der gefährlichsten Länder weltweit«, erklärte AI-Flüchtlingsreferentin Julia Duchrow auf einer Pressekonferenz in Berlin. Allein in den ersten acht Monaten dieses Jahres seien 7000 Zivilisten ums Leben gekommen. Die Zahl der »Binnenvertriebenen« wird derzeit auf 2,7 Millionen geschätzt, weitere 2,5 Millionen fristen in Camps in den Nachbarländern Syrien und Jordanien ein elendes Dasein. Unvorstellbare Zahlen angesichts dessen, daß von europäischen Staaten im Jahr 2007 nach Angaben von Pro-Asyl-Europareferent Karl Kopp sage und schreibe 780 Iraker aufgenommen wurden.

Die Bundesrepublik als ein reiches Land ohne EU-Außengrenzen müsse sich endlich zur dauerhaften Aufnahme eines »großzügigen Kontingents« an irakischen Flüchtlingen verpflichten, fordern AI und Pro Asyl in einem Brief an Angela Merkel. Die Erstaufnahme noch in diesem Jahr müsse der Auftakt eines jährlichen »Resettlementprogramms« für Exiliraker in Deutschland sein. Die Kirchen hatten einen dauerhaften Aufenthaltsstatus für zunächst 30000 Iraker gefordert.

Doch die Chancen, daß es nun in Brüssel tatsächlich zu einer Einigung kommt, sind minimal. Nach Informationen der Frankfurter Rundschau vom Dienstag werden die europäischen Minister die Entscheidung über ein EU-Aufnahmekontingent wiederum vertagen. Bis zum Treffen in dieser Woche sollte die Sicherheitslage im Irak erneut geprüft werden. Laut FR wollen die Innenminister aber erst jetzt eine »Fact-Finding-Kommission« in die Region schicken. Ende des Jahres wolle man dann anhand von deren Bericht befinden, ob und wie viele Iraker in Europa Schutz finden sollen.

Die EU-Innenminister werden auf ihrem Treffen außerdem den Entwurf für einen Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl behandeln. Der von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy vorgelegte Text soll auf dem EU-Gipfel im Oktober verabschiedet werden. Nach Ansicht von AI und Pro Asyl handelt es sich dabei um einen »Pakt gegen den Flüchtlingsschutz«. Der Vertragsentwurf setze »die bisherige Politik der Abschottung fort«. Angesichts der täglich größer werdenden »Flüchtlingsfriedhöfe vor den Toren Europas« sei es »zynisch, von einem ›Europa des Asyls‹ zu reden«, sagte Pro-Asyl-Referent Kopp.

Eine Kampagne für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Erstzufluchtsstaaten hatte Pro Asyl gemeinsam mit dem Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR), mit Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und anderen Gruppen bereits Anfang 2008 in München gestartet. Mittlerweile haben sich zehn Städte bereiterklärt, Flüchtlinge aufzunehmen und die Bundesregierung zum Handeln aufgefordert. Pro Asyl und AI betonen zugleich, Resettlement-Programme dürften kein Ersatz für das individuelle Recht auf Asyl sein.

*** Aus: junge Welt, 24. September 2008


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