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"Parlamente leiten so ihre Selbstentmachtung ein"

Über 100 Wissenschaftler fordern "Demokratie statt Fiskalpakt" und prangern "Verarmungspolitik" der EU an. Ein Gespräch mit Thomas Sablowski *


Thomas Sablowski ist Gastprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen.


Mehr als 100 europäische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fordern in dem Appell »Demokratie statt Fiskalpakt« eine grundlegende Neuorientierung im Kontext der Euro-Krise. Warum halten Sie die bisherige Politik für unsozial und antidemokratisch?

Der Fiskalpakt verordnet eine harte Sparpolitik und Strafen gegen Länder, die sich dieser Politik widersetzen. Laut Vertragstext müssen die Unterzeichner nahezu ausgeglichene Haushalte anstreben. Schon die in den bisherigen EU-Verträgen geforderte Begrenzung der Haushaltsdefizite auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts war nicht erreichbar. Wie sollen sie jetzt auf 0,5 Prozent begrenzt werden? Weiterer Sozialabbau, Privatisierungen und Lohnsenkungen sind vorgezeichnet. Bis Anfang 2013 will ein autoritäres Bündnis aus Kapitalverbänden, Finanzindustrie, EU-Kommission und Regierungen den jüngst in Brüssel beschlossenen Fiskalpakt im Schnellverfahren durch die Parlamente bringen – nur Großbritannien und die Tschechische Republik haben sich dem bisher verweigert. Die nationalen Parlamente leiten so ihre Selbstentmachtung ein. Organe wie die EU-Kommission, der Europäische Gerichtshof und die Europäische Zentralbank, die jenseits demokratischer Kontrolle agieren, sollen mehr Macht erlangen. Dahinter stehen Kapitaleigner, die diese Politik einfordern. Mit dem Fiskalpakt erhält eine Politik Verfassungsrang, die mit drastischen sozialen Konsequenzen verbunden ist, wie sich derzeit etwa in Griechenland zeigt. Findet kein grundsätzlicher Politikwechsel statt, drohen Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau, die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, zerfallende Bildungs- und Gesundheitssysteme in ganz Europa.

Was wäre statt dessen zu tun?

Der Fiskalpakt darf nicht ratifiziert und Staatsschulden müssen gestrichen werden. Strikte Regelungen zur Kontrolle des Kapitalverkehrs müssen her, Banken sind in öffentliche Dienstleister umzuwandeln. Der gesellschaftliche Reichtum muß durch ein neues Steuersystem von oben nach unten umverteilt werden. Es gilt, die Vermögenssteuer einzuführen und ein sozial-ökologisches Investitionsprogramm voranzubringen. Die Arbeitszeit muß verkürzt werden, um die Erwerbslosigkeit zu bekämpfen. Die Demokratie darf nicht vor den Fabriktoren und vor den Banken enden, Politik und Wirtschaft sind auf allen Ebenen radikal zu demokratisieren. Einige von uns Wissenschaftlern engagieren sich in Projekten zum Thema Migration. Wir fordern, die rassistische Politik der Abschottung an den europäischen Grenzen zu beenden und allen Flüchtlingen in Europa Bleiberecht zu erteilen.

Sie rufen auch zur Beteiligung an Protesten auf ...

Wir begrüßen alle diese Aufrufe zu Demonstrationen, Streiks und Blockaden der Banken und des Geschäftslebens in den europäischen Zentralen des Kapitalismus. Zum Aktionstag am 31. März rufen antikapitalistische Kräfte auf. Ein breiteres Spektrum mobilisiert zum Global Day of Action am 12. Mai, der an vielen Orten stattfinden wird. Auch zur zentralen Demo am 19. Mai in Frankfurt am Main rufen unter anderem ATTAC, Erwerbsloseninitiativen, Flüchtlingsorganisationen, die Interventionistische Linke, Gewerkschafter und Aktivisten der Occupy-Bewegung auf. Ab 17. Mai soll die Innenstadt in Frankfurt am Main zugezeltet werden; am 18. Mai wird unter anderem die Europäische Zentralbank blockiert werden.

Was hat es mit der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) auf sich?

Die AkG hat sich 2003 gegründet, weil kritische Wissenschaft zunehmend aus den Hochschulen verdrängt wird. Wir stellen uns dem Prozeß der totalen Vereinnahmung durch kapitalistisch orientierte Eliten entgegen.

Wie kam es dazu, daß sich eine große Anzahl von Wissenschaftlern jetzt in die Politik einmischt?

Wir können die Zerstörung der griechischen Gesellschaft durch die Verarmungspolitik, bei der die deutsche Regierung federführend ist, nicht tatenlos hinnehmen. Sie wird auch auf uns zurückschlagen. Und wir sehen Chancen, die Ratifizierung des Fiskalpakts zu verhindern. SPD und Grüne sollten nicht auf den Kuhhandel eingehen und dem Fiskalpakt zustimmen, wenn etwa die Regierung eine Finanztransak­tionssteuer als Gegenleistung anbietet.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, 20. März 2012

Demokratie statt Fiskalpakt

Krisenlösung und Europa gehen nur ganz anders

Frühjahr 2012. Merkel und Sarkozy eilen von Gipfel zu Gipfel, um den Euro zu retten. Der Boulevard hetzt gegen die Menschen in Griechenland. Der Kampf um die Krisenlösung spitzt sich dramatisch zu: Bis Anfang 2013 will ein autoritär-neoliberales Bündnis aus Kapitalverbänden, Finanzindustrie, EU-Kommission, deutscher Regierung und weiteren Exportländern den jüngst in Brüssel beschlossenen ‚Fiskalpakt’ im Schnellverfahren durch die Parlamente bringen. Der Fiskalpakt verordnet eine sozialfeindliche Sparpolitik und umfasst Strafen gegen Länder, die sich dieser Politik widersetzen. Der Fiskalpakt schränkt damit demokratische Selbstbestimmung weiter ein. Er ist vorläufiger Höhepunkt einer autoritären Entwicklung in Europa.

Wir sind diese unsoziale und anti-demokratische Politik ebenso leid wie die rassistischen Attacken auf die griechische Bevölkerung. Reden wir stattdessen von den menschenverachtenden Folgen dieser Politik. Reden wir über die autoritäre Wende Europas und deutsche Niedriglöhne als Krisenursache. Reden wir vom unangetasteten Vermögen der Wenigen und dem Leid der Vielen. Reden wir von unserer Bewunderung für den Widerstand und die Solidarität in der griechischen Bevölkerung. Fordern wir das Selbstverständliche: Echte Demokratie und ein gutes Leben in Würde für alle – in Europa und anderswo.

Die Krise in Europa ist die Spitze eines Eisbergs. Darunter liegt eine tiefe Strukturkrise des Kapitalismus. Zu viel Kapital ist auf der Suche nach Profit. Doch die Profitraten sind niedrig: Die Konkurrenz ist zu groß und die Löhne zu gering. Schuldenfinanziertes Wachstum und Spekulationsblasen konnten den Ausbruch der großen Krise nur verzögern. Nun propagiert das autoritär-neoliberale Bündnis das radikalisierte Weiter-so: Spekulationsverluste sozialisieren – durch dauerhaften Schuldendienst der Lohnabhängigen. Die Profitrate soll gesteigert werden – durch prekäre Arbeitsverhältnisse, Lohn- und Rentenkürzungen, Sozialabbau und Privatisierung. Die Folgen sind drastisch und was in Griechenland passiert, droht ganz Europa: Massenarbeitslosigkeit, Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, zerfallende Gesundheitssysteme, die Zunahme psychischer Erkrankungen und eine sinkende Lebenserwartung.

Derartige Maßnahmen können nur autoritär durchgesetzt werden. Der Putsch Pinochets in Chile 1973, die IWF-Programme in afrikanischen Staaten der 1980er Jahre und die Transformation im Osteuropa der frühen 1990er Jahre sind historische Vorläufer für Fiskalpakt & Co: Es sind Schockstrategien. Mit vielen Opfern erkämpfte, soziale und demokratische Prinzipien werden durch den Fiskalpakt in atemberaubendem Tempo abgeschafft, um den Schuldendienst zu sichern und die Profitraten zu steigern. In Italien und Griechenland setzen nicht-gewählte Technokraten-Regierungen mit Knüppeln, Tränengas und Wasserwerfern jene Spardiktate durch, die in Brüssel, Frankfurt und Berlin von männerdominierten ‚Experten‘-Gruppen beschlossen werden. Der Fiskalpakt und das Gesetzespaket zur 'Economic Governance' verleihen Organen wie EU-Kommission, Europäischem Gerichtshof und Europäischer Zentralbank, die jenseits demokratischer Kontrolle agieren, mehr und mehr Macht. Es ist perfide: Um demokratische Entscheidungen gegen die neoliberale Orthodoxie zu verhindern, verstärkt der Fiskalpakt das Diktat der Finanzmärkte durch Strafzahlungen an die EU.

Wie in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre gewinnen chauvinistische und faschistische Kräfte an Einfluss, in Ungarn, Österreich, Finnland und anderswo. Geschichtsvergessen macht die deutsche Regierung mit ihrer kompromisslosen Austeritätspolitik reaktionäre Krisenlösungen immer wahrscheinlicher.

Weltweit toben Kämpfe gegen diese Politiken, vom Syntagma-Platz in Athen über den Tahrir-Platz in Kairo und den Zuccotti-Park in New York bis zur Puerta del Sol in Madrid. Die Bewegungen von Flüchtlingen und Wanderarbeiter_innen, mit denen diese die Außengrenzen Europas überqueren, sind Teil dieser Kämpfe um ein gutes Leben. Diese Kämpfe müssen grenzüberschreitend und in den ‚Zentren’ des autoritär-neoliberalen Bündnisses geführt werden, in Paris, Brüssel, Frankfurt und Berlin. Wir rufen deshalb zur Beteiligung an den kommenden Protesten auf, darunter der europäische Aktionstag am 31. März, der Global Day of Action am 12. Mai und die internationale Mobilisierung nach Frankfurt a.M. vom 17.-19. Mai. Wir setzen damit auf eine alternative Krisenlösung:
  • Fiskalpakt nicht ratifizieren, das EU-Gesetzespaket zur 'Economic Governance' zurücknehmen;
  • Staatsschulden streichen, Kapitalverkehrskontrollen einführen und Banken in öffentliche Dienstleister umwandeln;
  • gesellschaftlichen Reichtum durch ein neues Steuersystem von oben nach unten umverteilen;
  • mit einem sozial-ökologischen Investitionsprogramm soziale Infrastruktur ausbauen und ökologischen Umbau vorantreiben;
  • Arbeitszeit verkürzen;
  • Politik und Wirtschaft auf allen Ebenen radikal demokratisieren;
  • die rassistische Politik der Grenzabschottung beenden, Bleiberecht und Papiere für alle.
Gegen die autoritär-neoliberale EU der Wenigen setzen wir ein demokratisches und sozial-ökologisches Europa der Vielen!

Quelle: demokratie-statt-fiskalpakt.org




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