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Europa macht noch dichter

Nach den jüngsten Flüchtlingsdramen soll Frontex für 14 Milliarden aufgestockt werden

Von Velten Schäfer *

Die EU verkauft ihre neueste Grenzagenda als humanitäre Reaktion auf die jüngsten Katastrophen im Mittelmeer. Tatsächlich geht es wohl auch darum, zwei Gerichtsurteile aus dem Vorjahr abzuräumen.

Es ist noch gar nicht lange her, dass allerorts betroffene Sonntagsreden geschwungen wurden. Nachdem im Oktober vor der italienischen Insel Lampedusa etwa 360 Bootsflüchtlinge auf einmal ertrunken waren, sahen die EU-Innenminister Handlungsbedarf. Sie kündigten an, eine Arbeitsgruppe ins Leben zu rufen, die über Konsequenzen aus dem Massensterben an der tödlichsten Grenze der Welt beraten sollte.

Nun liegen erste Ergebnisse vor. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström erklärte am Mittwoch in Brüssel, die Vorschläge seien »eine wirkliche europäische Antwort, die einen Unterschied machen können« – doch die Agenda besteht offenbar zur Hauptsache aus einer weiteren Verdichtung der Kontroll- und Verfolgungsmaßnahmen.

Als Fortschritt einzuschätzen ist wohl nur ein Punkt der neuen Grenzagenda: Schiffsführern solle deutlich gemacht werden, dass sie nicht länger als »Schlepper« verfolgt werden, sollten sie Ertrinkende aus den Fluten des Mittelmeers retten oder Menschen aus überfüllten Nussschalen aufnehmen. Genau dies war bisher vielfach Usus; in Deutschland hatte etwa der Prozess gegen den Seemann Stefan Schmidt für Aufsehen gesorgt: Der damalige Kapitän des Hilfsschiffs »Cap Anamur« musste sich wegen einer Rettungsaktion im Jahr 2004 fünf Jahre später in einem dreimonatigen Prozess wegen »bandenmäßiger« Förderung illegaler Einwanderung vor einem italienischen Gericht verantworten, bis er schließlich freigesprochen wurde. Auch nach dem jüngsten Massenertrinken vor Lampedusa hatten dort ansässige Seeleute gegenüber verschiedenen Medien geäußert, sie fürchteten, nach Hilfeleistung juristisch verfolgt zu werden.

Das Kernstück der neuen EU-Agenda ist freilich eine massive Aufstockung der Patrouillen der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Laut Malmström soll deren Präsenz im Mittelmeer verstärkt werden, um so »Notleidenden zu helfen« und mehr Boote aufzuspüren. Dazu sollen die Patrouillen von Zypern bis Spanien besser koordiniert und auf die wichtigsten Migrationsrouten konzentriert werden. Dies würde rund 14 Milliarden Euro kosten. Allerdings wird die »Hilfe« durch Frontex wohl weiterhin zuvörderst im Verhaften und Zurückbringen bestehen.

Zuletzt hatte der EU-Rat 2010 beschlossen, dass Frontex nicht nur Schiffe durchsuchen und beschlagnahmen dürfe, sondern die Passagiere gegebenenfalls auch unmittelbar »zurückführen«. Diese Strategie war allerdings im Februar 2012 inhaltlich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kassiert und im September formal vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) beanstandet worden.

Der EGMR hatte seinerzeit befunden, dass ein pauschaler »Pushback« von Bootsflüchtlingen nicht statthaft sei, da Flüchtlinge zumindest ein Recht auf eine tatsächliche Prüfung ihres Asylbegehrens haben müssten. Der EuGH hatte im September dem Europäischen Parlament recht gegeben, das sich formal darüber beklagt hatte, bei dieser Frontex-Regelung vom EU-Rat nicht ausreichend beteiligt worden zu sein. Dies sei aber zwingend, wenn es um Eingriffe in Menschenrechte gehe.

Mit der nun präsentierten Agenda wolle die EU offenbar beide kritischen Urteile »auf einen Schlag abräumen«, kommentiert Harald Glöde vom Berliner migrationspolitischen Verein borderline europe die neue Brüsseler Agenda gegenüber »nd«. Auf den Frontex-Schiffen solle eine Art Schnellverfahren stattfinden können, womit dem EGMR-Einspruch genüge getan werden solle. Laut Nachrichtenagenturen sollen die Vorschläge bald auf einem Treffen der EU-Innen- und Justizminister vorgestellt werden. Ziel sei es, auf dem EU-Gipfel kurz vor Weihnachten entsprechende Beschlüsse zu fassen. Dann, so Beobachter Glöde, könnten sie ins Europaparlament gebracht und so endgültig legalisiert werden.

Bis dahin gelten die Bestimmungen von 2010 trotz der beiden kritischen Gerichtsurteile weiter – der EuGH hatte ausdrücklich gestattet, dass die Vorgaben von 2010 in Kraft bleiben, bis »innerhalb einer angemessenen Frist« eine neue Regelung getroffen worden sei.

Drittens soll, wenn auch in etwas weniger drastischem Maße, der »Kampf gegen Schleuserbanden« verschärft werden. Dazu soll etwa die europäische Polizeibehörde Europol mit weiteren Mitteln versorgt werden. Zudem sollen die Staaten in Nordafrika und in den sonstigen Herkunftsländern angehalten und in die Lage versetzt werden, »Menschenschmuggel« und »Menschenhandel« effektiver zu bekämpfen. Dazu seien Europol zufolge bis zu 400 000 Euro im Jahr erforderlich.

Zudem soll es mehr »Solidarität« unter den EU-Staaten geben. Länder wie etwa Italien, die nach den geltenden Asylbestimmungen und bestehenden Migrationsrouten von absehbar mehr Flüchtlingen erreicht werden können als zentral gelegene Staaten wie Deutschland, sollen mehr Geld bekommen. Von den 50 Millionen Euro, die Malmström in Brüssel ankündigte, sollen allein 30 an Italien gehen – den Brüsseler Meldungen nach unter anderem zum Ausbau von Grenzanlagen.

Dennoch ist mit der neuen Grenzagenda auch der Appell verbunden, die EU-Staaten sollten generell mehr Flüchtlinge aufnehmen. 2012 hätten Deutschland und elf andere EU-Staaten nur 5000 Menschen aus Krisenregionen angesiedelt, die USA dagegen 50 000. Pro angesiedeltem Flüchtling wolle die EU nun 6000 Euro zahlen. Zu prüfen seien ferner Möglichkeiten, bereits in den Herkunftsländern Asylanträge zu stellen – dann würden sich weniger Flüchtlinge auf die gefährliche Reise machen. Zudem wird angeregt, über mehr Möglichkeiten legaler Einwanderung nachzudenken.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 5. Dezember 2013


Abkommen zwischen EU und Türkei

Die Europäische Union und die Türkei haben sich nach jahrelangen Verhandlungen auf die Unterzeichnung eines Abkommens zur Rücknahme von Flüchtlingen geeinigt. Gleichzeitig verständigten sich beide Seiten darauf, Gespräche über Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger bei der Einreise in die Union zu beginnen, wie EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström und der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu am Mittwoch mitteilten. »Das ist ein historischer Tag für die Türkei und die europäische Integration der Türkei«, erklärte der türkische Politiker.

Mit dem Abkommen verpflichtet sich Ankara dazu, »illegale« Einwanderer wieder aufzunehmen, die über ihr Territorium in die EU gekommen sind. Die Türkei ist ein Haupttransitland für Schutzsuchende aus Asien, Nahost und Afrika auf ihrem Weg nach Europa. Die Vereinbarung zur Rücknahme erinnert an die sogenannte Dublin-II-Richtline der EU, nach der Schutzsuchende in das Mitgliedsland zurückgeschoben werden können, in das sie zuerst eingereist sind. Zu vermuten ist deshalb, dass die Türken ihre Grenze massiv abschotten wird.

Der Startschuss des Dialogs über Visaerleichterungen soll gleichzeitig mit der Unterzeichnung des Abkommens am 16. Dezember in Ankara gegeben werden. Ab wann türkische Bürger leichter in die Europäische Union reisen können, ist noch unklar. Dies werde spätestens in dreieinhalb Jahren der Fall sein, sagte Davutoglu. Malmström hielt sich zurück und sagte, es sei zu früh, um ein Datum zu nennen.


Elektrifizierte Grenzen

Eurosur und EES: Neue EU-Überwachungsapparate

In Brüssel geht es Schlag auf Schlag. Am gestrigen Mittwoch präsentierte die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström eine neue Agenda für die Grenzagentur Frontex – und bereits am Montag konnte sie Eurosur vorstellen, ein weiteres technisches System zur Grenzüberwachung.

Eurosur solle helfen, »Migranten auf überfüllten und nicht seetüchtigen Booten zu retten und so weitere Flüchtlingstragödien im Mittelmeerraum zu vermeiden und mit Drogen beladene Schnellboote zu stoppen«, so Malmström am Montag zum Start des Programms, das zunächst an den Ost- und Südgrenzen eingesetzt werden soll. 2014 sollen die weiteren EU-Staaten beitreten.

Eurosur ist ein Kommunikationssystem, das die für die Überwachung der Land- und Seeaußengrenzen zuständigen Behörden wie Polizei, Küstenwache oder Grenzschutz schneller und einfacher vernetzten helfen soll. Nationale Koordinierungszentren sollen eng untereinander sowie mit Frontex zusammenarbeiten und Lagebilder sowie »Risikoanalysen« im »Drogen-« und »Menschenschmuggel« erstellen. Die Kosten für Einrichtung, Betrieb und Personal für die Jahre 2014 bis 2020 sind auf 244 Millionen Euro veranschlagt.

Neu im elektronischen Arsenal des europäischen Grenzregimes ist weiterhin das mit EES abgekürzte »Exit/Entry-System«, das derzeit von EU-Rat und im Europaparlament diskutiert wird – ein computergestütztes Grenzregister nach US-amerikanischem Vorbild. Malmström will damit Daten von Millionen Reisenden erfassen. Perspektivisch sollen sämtliche Individuen, die nicht im Schengenraum wohnen, beim Betreten desselben Abdrücke aller zehn Finger hinterlassen – ob sie nun einer Straftat verdächtigt werden oder nicht. Diese Daten sollen mindestens sechs Monate gespeichert werden. So will man etwa Illegale ausfindig machen, die legal einreisen und dann ihr Visum überziehen.

Nach einem Bericht des »Spiegel« bekennen sich SPD und Union im Koalitionsvertrag ausdrücklich zu einem derartigen System. Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) befürworte seit langem ein Zentralregister, doch bisher habe sich die FDP quergestellt.




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