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Bruchlinien in der Euro-Zone

Die Maßnahmen gegen die Schuldenprobleme werden die Desintegration noch verstärken

Von Joachim Becker *

Das zu Ende gehende Jahr stand in der EU ganz im Zeichen der Schuldenkrise zahlreicher Euro-Länder. Die ergriffenen Gegenmaßnahmen und der Spardruck werden die Probleme der Währungsunion eher noch verschärfen.

Die aktuelle Krise hat die Bruchlinien zwischen Zentrums- und Peripherieländern in der Euro-Zone offen zu Tage gebracht. Zum Erhalt der Euro-Zone wären mehr als kurzfristige Stützungspakete und kosmetische Veränderungen erforderlich. Doch ist es mehr als zweifelhaft, dass grundlegende Korrekturen erfolgen.

Von der ersten Phase der Krise 2008/2009 waren die Peripherie-Länder – mit Ausnahme Irlands – nicht überdurchschnittlich stark betroffen. In Griechenland ging das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2009 sogar weit geringer zurück als im EU-Durchschnitt. Die Banken in Südeuropa hatten sich – im Gegensatz zu denen im Nordwesten des Kontinents – nicht sehr stark mit toxischen Wertpapieren eingedeckt. Zunächst hatten die Regierungen in der südeuropäischen Peripherie auch Spielräume für eine anti-zyklische Budgetpolitik, obgleich diese innenpolitisch umstritten war.

Das begann sich Ende 2009/Anfang 2010 zu ändern. Griechenland geriet durch das Bekanntwerden der Verschönerung der Schuldenstatistik ins Gerede. Es stellte sich heraus, dass das Budgetdefizit zwischen 2007 und 2009 von 6,4 auf 15,4 Prozent des BIP gestiegen war. Die Staatsschuldenfinanzierung Griechenlands war und ist hochgradig von ausländischen Anlegern abhängig. Damit war das Land für spekulative Attacken besonders anfällig. Bei Krediten für den griechischen Staat und die griechischen Banken verlangte die internationale Finanzwelt immer höhere Risikoaufschläge auf die Zinsen, das Rating wurde zurückgestuft. Damit verteuerte sich die Verschuldung deutlich.

Aber auch für Spanien, Portugal und Irland stiegen die Risikoaufschläge. Diese europäischen Länder plus Griechenland wurden im Jargon des Finanzjournalismus in der PIGS-Gruppe (»pigs«, engl.: »Schweine«) zusammengefasst. In der Höhe des Budgetdefizits und der Staatsschuld variieren die Länder sehr stark. Das relativiert die Staatsschuld als vorgeblichen Krisenauslöser doch sehr.

Gemeinsam haben die vier Länder eine hohe Abhängigkeit von Kapitalzuflüssen. In Griechenland, Portugal und Spanien sind produktive Strukturen nach dem EU-Beitritt in der Tendenz erodiert. Die Importe waren höher als die Exporte. Im letzten Jahrzehnt hat sich die Handels- und Leistungsbilanz in der Tendenz noch deutlich verschlechtert. In Spanien betrug das Leistungsbilanzdefizit 2007 9,5 Prozent des BIP, in Portugal 9,8 Prozent und in Griechenland 14,7 Prozent. Die Kehrseite der Defizite der südeuropäischen Länder waren die deutschen Export- und Leistungsbilanzüberschüsse. Diese wurden durch die bewusste Schaffung eines Niedriglohnsektors, eine restriktive Lohnpolitik und die Hartz-IV-Reformen gefördert. Die Importüberschüsse der südeuropäischen Länder wurden durch Kredite finanziert. Die Auslandsverschuldung nahm rasant zu.

Auf der Gläubigerseite standen deutsche Banken ganz oben. Auf sie entfielen im März 2010 etwa ein Fünftel aller Verbindlichkeiten Griechenlands, Irlands, Portugals und Spaniens gegenüber Auslandsbanken. Die hohen irischen Außenstände haben weniger mit Exportschwäche als mit der enormen Aufblähung des heimischen Finanzsektors zu tun.

Die in der Peripherie der Euro-Zone engagierten Banken haben ein Interesse an der Absicherung ihres Engagements und verdienen gleichzeitig an der Krise durch die Zinsaufschläge gut. Die südeuropäischen Regierungen und die ohnehin auf Austerität gepolte Regierung Irlands wurden von den Finanzanlegern und Rating-Agenturen zu einer immer radikaleren Sparpolitik gedrängt. Die EU-Kommission und der Internationale Währungsfonds machten Stützungsmaßnahmen für Regierungen, die in zunehmende Finanzklemme gerieten, von starken Budgetkürzungen vor allem bei den Gehältern im öffentlichen Dienst und Sozialleistungen sowie dem Abbau von Schutzrechten für ArbeitnehmerInnen abhängig. Für die regierende Sozialdemokratie in Südeuropa bedeutet dies die Selbstdemontage.

Die Sparpolitik führt zur Minderung der Handelsbilanzdefizite, verschärft aber die öffentlichen wie privaten Verschuldungsprobleme. BIP und Einkommen gehen weiter zurück. Damit steigt die relative Schuldenlast. Die Spar- und Lohnkürzungspolitik wird auch Konsequenzen für die exportorientierten Kernländer der EU haben. Dort wird es in Kürze heißen: Auch wir müssen bei den Löhnen kürzer treten, um konkurrenzfähig zu bleiben. Die Rationalität der Maßnahmen liegt also in einer Radikalisierung des Neoliberalismus.

Gleichzeitig vertieft dieser die Spannungen in der Euro-Zone. Die grundlegenden Disparitäten in der Euro-Zone werden nicht angegangen. Die Tore für spekulative Attacken bleiben auf. Eine alternative Politik würde in deutlich stärkeren Lohnsteigerungen und einer gezielten expansiven Fiskalpolitik in den Kernländern wie Deutschland, der Begebung gemeinsamer Euro- Anleihen, einer Stärkung des öffentlichen Bankensektors und einer staatlichen unmittelbaren Beeinflussung der Kreditvergabe bestehen. Langfristig geht es um die Stärkung der produktiven Strukturen in der Peripherie in ökologisch vertretbarer Weise. Letzteres wird nicht einmal diskutiert, die anderen Maßnahmen stoßen bei der deutschen Bundesregierung auf heftige Ablehnung. So geht der Kurs auf Desintegration.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Dezember 2010

Jahr der Eurokrise: Chronologie 2010

Januar
Das hoch verschuldete Griechenland beteuert, dass es die Kriterien des EU-Stabilitätspakts ab 2012 wieder erfüllen will. Das Staatsdefizit wird auf 12,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geschätzt, erlaubt sind in der Euro-Zone maximal drei Prozent. Deutschland lehnt ein diskutiertes Nothilfepaket für das hochverschuldete Land ab.

März
Die Diskussion über Nothilfen für Griechenland wird konkreter, das Land steuert auf einen Staatsbankrott zu: Athen muss immer höhere Zinsen zahlen, um sich an den Märkten Geld leihen zu können. Gezielte Spekulationen von Investoren bereiten den Euro-Staaten Sorgen.

Mai
Athen ruft um Hilfe: Die Euro-Länder und der Internationale Währungsfonds (IWF) schnüren ein Rettungspakt und gewähren Griechenland Notkredite von 110 Milliarden Euro. Dies beendet die Euro-Krise jedoch nicht. Als weitere Sorgenkinder gelten nun Irland, Spanien und Italien. In nächtlichen Beratungen beschließen EU und IWF einen Rettungsschirm für in Not geratene Euro-Staaten über bis zu 750 Milliarden Euro. Die Europäische Zentralbank (EZB) kauft zudem erstmals europäische Staatsanleihen und leiht den Regierungen somit indirekt Geld. Dies galt bislang als Tabu.

Juli
Der eng verflochtene Bankensektor bereitet der EU Sorgen. In einem Stresstest werden 91 europäische Banken auf ihre Krisenresistenz geprüft. Europaweit fallen sieben Banken durch, darunter der verstaatlichte deutsche Immobilienfinanzierer HRE. Die EZB sieht aber in dem Ergebnis die »Widerstandsfähigkeit« des europäischen Bankensystems gegen Schocks bestätigt.

Oktober
Ohne Absprachen mit den anderen EU-Staaten einigen sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy im französischen Badeort Deauville darauf, den EU-Stabilitätspakt zu verschärfen und einen ständigen Rettungsmechanismus für Pleitestaaten einzurichten. Die Pläne drücken sie auch auf dem EU-Gipfel durch. In Europa wächst der Unmut über die deutsche Politik: Merkel werden Zögerlichkeit und Alleingänge vorgeworfen.

November
Der nächste Wackelkandidat der Euro-Zone stürzt: Das durch seinen maroden Bankensektor in Bedrängnis geratene Irland flüchtet sich als erstes Land unter den Euro-Rettungsschirm. Irland bekommt Finanzhilfen in Höhe von 85 Milliarden Euro zugesagt. Wie bereits in Griechenland legt die Regierung im Gegenzug ein hartes Sparpaket auf, das in der Bevölkerung auf Unmut stößt.

Dezember
Die Euro-Zone wird durch die Krise der Gemeinschaftswährung zunehmend entzweit, Deutschland gilt vor dem EU-Gipfel Mitte des Monats als der Bremser bei den Themen gemeinsame Euro-Anleihen und Aufstockung des Rettungsfonds. Umstritten bleibt auch die deutsche Forderung, in Zukunft private Gläubiger wie Banken an der Rettung von Staaten zu beteiligen. Auf ihrem Gipfel bemühen sich die 27 EU-Staats- und Regierungschefs jedoch darum, Einigkeit und Entschlossenheit zu demonstrieren. Sie beschließen einen ständigen Krisenfonds für die Euro-Länder und hoffen, die Gemeinschaftswährung so dauerhaft zu stabilisieren. Aber viele Details bleiben offen. Fazit am Ende des Eurokrisenjahres: Die Diskussion geht weiter, die Zukunft des Euro bleibt unsicher.

AFP/ND

Wie weiter mit dem Euro?

Wichtige Streitthemen fürs nächste Jahr

Euro-Bonds: Gemeinsame Anleihen der Euro-Länder sollen Spekulation an den Finanzmärkten gegen kleine Staaten verhindern. Angeschlagene Länder könnten sich zu normalen Zinssätzen refinanzieren. Die Bundesregierung ist strikt dagegen.

Rettungsfonds: Der bis 2013 veranschlagte Rettungsschirm verfügt über 750 Milliarden Euro. Es gibt bereits Forderungen etwa von der Europäischen Zentralbank (EZB), den Fonds aufzustocken. Auch hier tritt Deutschland auf die Bremse.

Ständiger Krisenmechanismus: Er soll 2013 den Rettungsfonds ersetzen. Umstritten ist hier die deutsche Forderung, auch private Gläubiger wie Banken an den Kosten von Rettungsaktionen zu beteiligen. Die dafür nötigen EU-Vertragsänderungen dürften die Mitgliedstaaten noch bis Ende 2012 beschäftigen.

EU-Stabilitätspakt: Die Verschärfung ist im Grundsatz bereits beschlossen. Die einzelnen Vorschläge müssen aber noch in Gesetzesform gegossen werden.

Gemeinsame Wirtschaftspolitik: Die EU-Mitgliedsstaaten sollen ihre Wirtschaftspolitik enger abstimmen. Umstritten ist aber, in welchem Ausmaß dies geschehen soll. Auch hier ist Deutschland Hauptblockierer.

AFP/ND




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