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Alternative vorhanden

Vollbeschäftigung statt Euro-Abschaffung

Von Mohssen Massarrat *

Im Gegensatz zu rechtskonservativen Verfechtern der Wiedereinführung der D-Mark, die die angeblichen Belastungen einer Einheitswährung für Deutschland loswerden wollen, untermauerte Oskar Lafontaine Ende April sein Plädoyer für die Euro-Auflösung mit dem Fehlen einer »unter den beteiligten Staaten aufeinander abgestimmten produktivitätsorientierten Lohnpolitik«. Lafontaine zufolge hätte diese »eine annähernd ausgeglichene Wettbewerbsfähigkeit« unter den EU-Staaten durchaus hervorbringen können. Da eine Korrektur »gegen den neoliberalen Parteienblock« jedoch nicht durchgesetzt werden könne, bliebe aus seiner Sicht nur der Weg, »die einheitliche Währung aufzugeben und zu einem System zurückzukehren, das Auf- und Abwertungen erlaubt«.

Lafontaines Stellungnahme löste über den Kreis der Linkspartei hinaus eine Kontroverse aus, die jedoch rasch in eine politische Positionierung für oder gegen den Euro überging. Übersehen wurde dabei, daß in Lafontaines Analyse zwei unterschiedliche Dimensionen der EU-Krise einfließen, die verschiedene Lösungen erfordern: zum einen die Lohnpolitik und zum anderen das Problem ungleicher Produktivität in den EU-Staaten.

Verzerrter Wettbewerb

Unstrittig ist, daß die produktiveren Nordstaaten, vor allem Deutschland, in der EU in den letzten zwei Dekaden ihre Löhne trotz steigender Produktivität gesenkt, während die weniger produktiven Südstaaten ihre Löhne über die Produktivitätsraten hinaus erhöht haben. Diese Divergenz mußte zu Wettbewerbsverzerrungen zugunsten ersterer führen und ihre Exportexpansion mit dramatischen Folgen, wie Leistungsbilanzdefizite und steigende Verschuldung in den weniger produktiven Südstaaten, beflügeln. Der drohende Staatsbankrott in Griechenland, Portugal, Spanien und demnächst in Italien und Frankreich, wird daher zu Recht auch auf die absurde Lohnentwicklung in Deutschland zurückgeführt. Lafontaines Idee einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik ist insofern schlüssig. Mit dem Lösungsvorschlag einer »Institution der Lohnkoordinierung« greift er aber zu kurz, weil eine derartige Institution im Kapitalismus nicht einfach durch einen »makroökonomischen Dialog« entstehen kann.

30-Stunden-Woche

Divergierende Lohnentwicklungen innerhalb der EU resultieren aus der unterschiedlichen Kampfkraft der nationalen Gewerkschaften. In Deutschland ist die sinkende Lohnquote der Tatsache einer Massenerwerbslosigkeit geschuldet, die faktisch sieben Millionen Menschen umfaßt, drei Millionen nach offizieller Statistik und weitere vier Millionen, die nicht aufgeführt werden, wie die in Weiterbildung stehenden und die krankgeschriebenen Erwerbslosen, oder die unfreiwillig Unterbeschäftigten. Gerade dieser für die Lohnentwicklung so wichtige Aspekt wird in der gesamten Debatte der EU-Krise und Euro-Auflösung nicht nur bei Lafontaine, sondern insgesamt, so gut wie nicht thematisiert. Tatsächlich kann es eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik nur bei Vollbeschäftigung in allen EU-Staaten geben, die einer nationalen Lohndumpingpolitik mit den entsprechenden Wettbewerbsnachteilen und den daraus folgenden Ungleichgewichten einen Riegel vorschieben kann. Des Rätsels Lösung ist insofern nicht die Euro-Auflösung, sondern die Vollbeschäftigung durch die 30-Stunden-Woche für Europa.

Das eigentliche Strukturproblem der EU mit dem Euro als einheitlicher Währung bei unterschiedlicher nationaler Produktivität, das in Lafontaines Bestandsanalyse mit enthalten ist, bleibt selbst bei einer Vollbeschäftigung und einer den Wettbewerb nicht verzerrenden Lohnpolitik bestehen. Dies ist möglicherweise sogar der Hauptgrund dafür, daß die weniger produktiven Südstaaten in der EU mit Leistungsbilanzdefiziten, wachsender Staatsverschuldung und Finanzkrisen solange konfrontiert bleiben, wie es ihnen nicht gelingt, ihre Produktivität und Wettbewerbsbedingungen drastisch zu verbessern. Die Erfahrungen der Deindustrialisierung in den alten Bundesländern nach der Wiedervereinigung mit der D-Mark als Einheitswährung zeigen, daß eine EU mit Ländern von unterschiedlicher Produktivität und dem Euro vor einer permanenten Herausforderung steht. Nicht ohne Grund plädierte Lafontaine schon nach dem Zusammenbruch der DDR für einen deutschen Staatenbund mit zwei Währungen. Auch seine heutige Überlegung, die EU-Südstaaten könnten mit ihren alten Währungen ihre produktivitätsbedingten Wettbewerbsnachteile innerhalb der EU effizienter bewältigen, ist nicht aus der Luft gegriffen. Die Prognose über die Folgen einer Euro-Auflösung ist aber um einiges komplexer und die damit verbundenen Unsicherheiten für alle Mitgliedsstaaten unvergleichbar größer als die damalige Voraussage für ein vereinigtes Deutschland mit einer Einheitswährung. Daß die massiven Ausgleichszahlungen bis heute nicht dazu beitrugen, die Produktivitätsunterschiede zwischen beiden Teilen Deutschlands zu beseitigen, hat ihre Ursache auch in der massiven Ost-West-Abwanderung der Fachkräfte.

Innerhalb der EU hat es derartige Süd-Nord-Abwanderungen trotz dramatischer ökonomischer Krisen nicht gegeben. Kulturelle und sprachliche Hemmnisse spielten dabei vermutlich eine wichtige Rolle. Deshalb kann auch erwartet werden, daß selbst eine in ihren quantitativen Dimensionen deutlich schwächere Transferunion als die in Deutschland durchaus dazu beitragen könnte, die Produktivitätsunterschiede innerhalb der EU annähernd anzugleichen. Ausgleichsmaßnahmen zur Technologie-, Wissenschafts- und Infrastrukturförderung in den Südstaaten der EU sind vorbeugend und daher allemal besser als die Rettungsschirme, die ohnehin nicht der dortigen Produktivitätssteigerung und der Schaffung neuer Arbeitsplätze dienen, sondern mehr oder weniger den Banken der EU-Nordstaaten zugute kommen. Eine Perspektive für eine sozialere und stabilere EU dürfte daher weniger in der rückwärtsgewandten Euro-Auflösung liegen, sondern in ihrer Weiterentwicklung als einer auf Solidarität fußenden EU, in der die 30-Stunden-Woche zur Normalarbeitszeit wird – und dies sowohl wegen der anhaltenden Massenerwerbslosigkeit in Deutschland, aber auch angesichts von 30 Prozent Erwerbslosigkeit und über 50 Prozent Jugenderwerbslosigkeit in Südeuropa.

* Unser Autor ist Wirtschafts- und Politikwissenschaftler. Er lehrte u.a. als Professor im Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück und ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von ATTAC.

Aus: junge Welt, Donnerstag, 25. Juli 2013


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