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Feindliche Übernahmen

Jahresrückblick 2010. Heute: Krisen-Europa. Auf dem Weg zu einer von Berlin dominierten EU. Massiver Druck auf "Defizitländer"

Von Andreas Wehr *

Vor einem Jahr stand es noch gut um die Europäische Union. Die Herrschenden feierten sich und das Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags. Nach gut zehn Jahren war endlich die Veränderung der europäischen Verträge unter Dach und Fach gebracht worden. Heute ist von dieser euphorischen Stimmung nichts mehr geblieben, es wird vom Scheitern der gemeinsamen Währung gesprochen: »Wenn wir uns nicht weiter bewegen in Richtung engerer Koordination und engerer wirtschaftlicher Steuerung, dann werden wir den Euro nicht halten«, warnte der Präsident des Europäischen Rats, Van Rompuy. Und: »Wir befinden uns in einer Überlebenskrise.« (European Voice, 18.11.)

Wie konnte es dazu kommen? In der Krise verstärken sich die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der EU. Die Ökonomien Kerneuropas, und hier vor allem die des langjährigen Exportweltmeisters Deutschland, konkurrieren jene der Peripherieländer nieder, erzielen auf ihre Kosten enorme Leistungsbilanzüberschüsse. 65 Prozent der deutschen Exporte gehen in die Länder der EU. Die schwächeren unter ihnen können da nicht mehr mithalten. »Mit dem Eintritt Griechenlands 1981 in die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hat die Deindustrialisierung des Landes eingesetzt. Sie ist nahezu abgeschlossen.« (FAZ, 8.5.). Portugal und Spanien leiden unter der EU-Osterweiterung. Mit den dort gezahlten Löhnen und den sehr viel niedrigeren Sozial- und Umweltstandards können sie nicht mithalten.

Das Geschäft der Banken

Und doch erlebten diese europäischen Peripherieländer in den Jahren vor der Krise einen beispiellosen Aufschwung. Wie ist das zu erklären? Die großen Leistungsbilanzüberschüsse Kerneuropas führten zu hohen Überschüssen. Stagnierende Löhne, Sozialabbau und knappe öffentliche Haushalte blockierten dort aber zugleich die Entwicklung der Binnenmärkte und ließen Investitionen unattraktiv werden. Das Anlage suchende Geld ging in die USA und verstärkte dort den Boom bei Immobilien.

Weit mehr Geld ging an Staat, Banken, Unternehmen und Privatleute in den europäischen Peripherieländern. Nach Irland verliehen ausländische Banken 731 Milliarden Dollar, nach Griechenland 175 und nach Portugal 235. In Spanien wurden 876 Milliarden Dollar angelegt. Auch nach Osteuropa floß viel Geld, immer auf der Suche nach besseren Profitmöglichkeiten. Die Ergebnisse kann man heute besichtigen: In Griechenland und Portugal haben sich der Staat hoch verschuldet. Im Baltikum meldeten Zehntausende Unternehmen und Privatpersonen Insolvenz an. In Irland und in Spanien entstanden riesige Immobilienblasen, die gleich am Beginn der Krise platzten.

Es sind vor allem die Kreditgeber aus Kerneuropa, die Banken, Versicherungen und Pensionsfonds, die heute um die Bedienung dieser Gelder fürchten. Bei der Eintreibung dieser Außenstände stehen ihnen ihre Regierungen zur Seite. Berlin, Paris und London üben mit Hilfe der Europäischen Kommission und des Internationalen Währungsfonds (IWF) massiven Druck auf die Defizitländer aus, eine strenge Austeritätspolitik, das heißt eine strikte Sparpolitik, zu befolgen. Verlangt werden drastische Absenkungen der Sozialleistungen, radikale Kürzungen bei den Löhnen im öffentlichen Sektor, weitere Deregulierungen der Arbeitsmärkte, Anhebungen des Renteneintrittsalters und die Beseitigung jeglicher den Wettbewerb hemmender Beschränkungen.

Am härtesten sind davon Griechenland und Irland betroffen. Beide Länder mußten im Gegenzug zu finanziellen Stützungen mit der Kommission und dem IWF Vereinbarungen abschließen, in denen sie sich zu einer rigiden Austeritätspolitik verpflichten. Griechenland wurde dazu unter Kuratel gestellt und sein Parlament entmachtet, Irland auf den Status eines »Protektorats« (FAZ, 22.11.) degradiert. Die dafür zugesagten Kredite sind für die kerneuropäischen Länder ein glänzendes Geschäft. Griechenland hat für sie fünf Prozent aufzubringen. Da die Bundesrepublik für Anleihen auf den internationalen Kapitalmärkten nur knapp drei Prozent zahlen muß, verdient sie gut daran. Der irischen Regierung werden für Kredite aus dem europäischen »Rettungsschirm« 5,8 Prozent Zinsen berechnet.

Die Kürzungen beschleunigen den weiteren Verfall der nationalen Wirtschaftskraft. In Griechenland schrumpft die Wirtschaft seit 2009. Im dritten Quartal 2010 geht das Bruttoinlandsprodukt erneut, diesmal um 4,6 Prozent, zurück. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 12,6 Prozent. Ähnlich hoch ist sie in Irland. So zeichnet sich jetzt schon ab, daß mit den Kürzungsmaßnahmen Griechenland und Irland nicht mehr aus der Krise finden werden.

»Attraktive Investition«

Trotz ihrer offensichtlichen Erfolglosigkeit sind diese Austeritätsprogramme Vorbild für das weitere Vorgehen der EU. Die vom Chef der Eurogruppe, Jean-Claude Juncker, vorgeschlagenen Euro-Bonds, das heißt die Haftung einer Schuldenagentur der EU für einen Teil der Anleihen der Defizitländer, wären vor allem für die Banken attraktiv. Ihnen werden dadurch neue Anlagemöglichkeiten eröffnet. Es ist daher kein Zufall, daß der Vorschlag ausgerechnet aus Luxemburg kommt, einem Land, das seinen Reichtum den Finanzmärkten verdankt.

Sein Außenminister, Jean Asselborn, brachte es auf den Punkt: Diese Euro-Bonds seien »eine attraktive Investition für Anleger aus Asien und Amerika« (Die Welt, 15.11.). Juncker sieht aber noch andere Vorteile: »Die EU-Schuldenagentur werde viel wirksamer für Haushaltsdisziplin in Euro-Land sorgen, als es die Fiskalregeln des Europäischen Stabilisierungspakts je vermochten. Denn die Behörde könnte sparunwillige Regierungen finanziell empfindlich abstrafen. Die Regierungen würden in Teilen das Budgetrecht verlieren, zumindest de facto, wenn nicht de jure.« (Handelsblatt, 9.11.) Mit anderen Worten: Gegen Geld ist Souveränität herzugeben.

Über dieses Ziel, die Unterminierung der Haushaltssouveränität der defizitären EU-Länder, sind sich Juncker und die deutsche Bundesregierung einig. Gestritten wird nur über das Wie. Berlin lehnt die Euro-Bonds gegenwärtig ab, da es den Zugriff auf die nationale Haushaltspolitik der Defizitländer noch nicht gesichert sieht. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble will weiter gehen als Juncker: »Wer dies (gemeinsame Euro-Bonds, A.W.) wolle, müsse auch bereit sein, nationale Hoheiten an die Gemeinschaft abzugeben – und diese Bereitschaft unmißverständlich kundtun. Ohne das eine sei das andere nicht zu haben. Die Bundesregierung stehe jedenfalls bereit, über alles zu reden.« (Süddeutsche Zeitung, 9.12.)

Eine solche EU-weite Haushaltspolitik würde der deutschen sehr ähneln. Es wäre eine Art Agenda 2010 für die Union: Erhöhung des Renteneintritts­alters auf deutsches Niveau, Absenkung der Sozialleistungen auf Hartz-IV-Sätze, zusammengestrichene Haushalte und eine vertraglich festgesetzte Schuldenbremse. Der Weg zu einer BRD-dominierten EU wäre damit offen. Nur ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags stünden erneut umfangreiche Vertragsänderungen an.

Wer eine solche, deutsche, EU verhindern will, muß den Kampf um die Verteidigung der unter Druck stehenden Defizitstaaten führen. Der muß die griechische Linke, die Kommunistische Partei und die linkssozialistische Synaspismos und die klassenkämpferischen Gewerkschaften dort, der muß die irische Sinn Fein bei der Verteidigung der Souveränität ihrer Länder unterstützen. Nur wenn dieser Kampf erfolgreich ist, kann die Durchsetzung der rigiden Kürzungspolitik blockiert werden. In Griechenland, in Irland und bald wohl auch in Portugal und in Spanien entscheidet sich, ob die Europäische Union endgültig zu einer deutschen EU wird.

Von Andreas Wehr erschien im Oktober 2010 im PapyRossa Verlag: »Griechenland, die Krise und der Euro«, 179 Seiten, 12,90 Euro.

* Aus: junge Welt, 22. Dezember 2010


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