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Europa im Endkampf

Hoffnungslose Krisenpolitik: Nationale Gegensätze verschärfen Desintegrationstendenzen innerhalb des gemeinsamen Währungsraums und der Gesamt-EU

Von Tomasz Konicz *

Die politischen und fiskalpolitischen Konstrukte Europas sind im Zerfall, das Kapital wendet sich ab. Es mehren sich Hinweise, daß vor allem Großkonzerne vermehrt Ressourcen aus dem Währungsraum abziehen. Der britisch-niederländische Ölriese Royal Dutch Shell gab in der vergangenen Woche bekannt, daß er seine gesamten Barreserven (15 Milliarden Euro) in Sicherheit bringen und aus Europa abziehen werde. Ähnliche Absetzbewegungen sind auch auf den Finanzmärkten zu beobachten. Binnen sechs Monaten wurden Gelder im Umfang von rund 41 Milliarden Euro (50 Milliarden US-Dollar) aus dem Währungsraum Richtung Westen transferiert. Dies sei »der größte Kapitalfluß in die USA seit 1999« berichtete der österreichische Kurier.

Zudem würden der britischen Times zufolge die transnationalen Interbankenkredite im europäischen Finanzsektor auf politischen Druck zurückgefahren – was zu einer Reduzierung des Darlehenvolumens zwischen Nord­europa und der südlichen »Peripherie« führe. Dieser Trend, so das Blatt, würde »zum Teil von den nationalen Aufsichtsbehörden vorgegeben«. Diese drängten die »lokalen Banken, Kapital und Liquidität auf Kosten anderer Länder umzuschichten.« Motiv sei die »Angst vor dem Zusammenbruch der Euro-Zone«.

Während Finanz- und Industriekapital bereits Vorkehrungen für den Super-GAU der EU treffen, paralysieren nationale Interessenskonflikte die Krisenpolitik. Einen Kollaps könnten nur noch massive Interventionen der Europäischen Zentralbank (EZB) sowie eine Abkehr des vor allem von Berlin vorangetriebenen sogenannten Sparkurses hinauszögern. Beide Optionen werden jedoch von Bundesregierung und den deutschen Vertretern in der Zentralbank ausgeschlossen.

Der Streit um den Kurs gipfelte in den jüngsten Attacken deutscher Regierungspolitiker auf Italiens Ministerpräsidenten Mario Monti. Der hatte in einem Spiegel-Interview eine »psychologische Auflösung Europas« konstatiert und die deutsche Politik aufgefordert einzulenken, ohne sich vollständig an die »Entscheidungen ihrer Parlamente« zu binden. Koalitionspolitiker antworteten: »Die Gier nach deutschen Steuergeldern treibt bei Herrn Monti undemokratische Blüten«, erklärte beispielsweise CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt gegenüber der Welt: »Herr Monti braucht offenbar die klare Ansage, daß wir Deutsche nicht bereit sein werden, zur Finanzierung der italienischen Schulden unsere Demokratie abzuschaffen.«

Die italienische Presse schießt zurück: »Die Nazideutschen wollen uns Lektionen in Demokratie geben, « titelte die Berlusconi-Zeitung Libero. Sogar die seriöse La Stampa beklagte einen »neuen deutschen Nationalismus«, der auf breiten »nationalistischen und antieuropäischen Ressentiments« gedeihe und sich in einem »gefährlichen Kurzschluß aus Demagogie und Dogmen einer konformistischen akademischen Welt« äußere.

Die Fronten in diesem Machtkampf verlaufen derzeit zwischen dem um die Hegemonie in Europa kämpfenden Berlin und dem Großteil der Euro-Länder. Die Bundesregierung ist etwa in der Frage stärkerer Interventionen der EZB auf europäischer Ebene nahezu vollständig isoliert. Bundesbankpräsident Jens Weidmann war das einzige EZB-Ratsmitglied, das gegen eine Ausweitung der Anleiheaufkäufe durch die Zentralbank stimmte. Selbst Österreich, das als einer der letzten deutschen Verbündeten galt, rückt inzwischen von der Blockadehaltung ab, wie die Zeitung Die Presse bemerkte: »Während sich der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann inzwischen wiederholt für eine Banklizenz für den permanenten Rettungsschirm ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) ausgesprochen hat, blockiert Deutschland auch hier weiterhin.« Mittels einer solchen Lizenz könnte der ESM Staatsanleihen aufkaufen und diese als »Sicherheit« bei der EZB hinterlegen, wodurch die Zinslast der europäischen Krisenländer gesenkt würde.

Tatsächlich bildet diese von Berlin vehement abgelehnte Gelddruckerei eine der wenigen verbliebenen Optionen, um den Crash der Euro-Zone zumindest hinauszuzögern. Die südlichen Krisenländer befinden sich in einer Situation, in der steigende Zinsen und sinkender Wirtschaftsausstoß (Rezession) alle Fortschritte bei den »Sparmaßnahmen« unterminieren. Italiens Bruttoinlandsprodukt (BIP) geht seit einem Jahr zurück, allein die Industrieproduktion brach im Juni um 8,2 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat ein. In Spanien – wo die konservative Regierung ihren Kürzungskurs drastisch verschärfte – ging die Industrieproduktion um 6,9 Prozent zurück. Madrid sieht sich zudem mit einer Zinslast von mehr als sieben Prozent bei zehnjährigen Staatsanleihen konfrontiert – bei einer Arbeitslosigkeit von mehr als 22 Prozent.

Bei Beibehaltung dieser Politik dürfte die Euro-Zone binnen Monaten auseinanderbrechen. Es stellt sich nur noch die Frage, ob die Bundesregierung dies inzwischen ebenso in Erwägung zieht wie europäischen Bank- und Konzernchefs.

* Aus: junge Welt, Samstag, 11. August 2012


Fünf Jahre Finanzkrise

Zu Lust und Risiken des Kapitalverkehrs

Von Lucas Zeise **


Am Donnerstag vor fünf Jahren, am 9. August 2007 brach die internationale Finanzkrise aus. Dieser Geburtstag ist, wie ich finde, in der Öffentlichkeit keineswegs angemessen gewürdigt worden. So will ich die Bürde auf mich nehmen und anstelle von Regierung, Finanzinstitutionen und Rundfunkanstalten einige die Jubilarin würdigende Worte aufschreiben. Schließlich handelt es sich um eine geschichtliche Erscheinung, die die meisten von uns nur einmal erleben.

Was geschah am 9.8.07? Die Finanzwelt kippte von einem Aggregatzustand in einen anderen. Wo es zuvor Überschuß an Kapital, Kredit und Anlage suchendem Geld gab, herrschten nun plötzlich Knappheit an diesen schönen Dingen. Konkret hörte im Zentrum der Finanzwelt der Geldmarkt unter Banken auf zu funktionieren. Die Institute liehen sich gegenseitig kein Geld mehr oder nur zu enormen Zinsaufschlägen. Sie mißtrauten einander, weil sie wußten, daß die Kredite, die sie vergeben hatten, faul waren, faul wurden oder faul zu werden drohten. Gleich am ersten Tag kamen die Zentralbanken zu Hilfe. Die EZB schüttete 90 Milliarden Euro zusätzlich ins System. Der Geldmarkt der Banken ist bis heute von der freundlichen Unterstützung der Zentralbanken abhängig geblieben.

Warum entstand daraus die Weltwirtschaftskrise? Auch das ist schon häufig erzählt worden. Der Kredit- und Spekulationsboom hatte die globale Ökonomie befeuert. In den USA war die effektive Nachfrage nach Waren trotz stagnierender oder sogar sinkender Reallöhne mit Hilfe einer stetig wachsenden Verschuldung der abhängig Beschäftigten angetrieben worden. Die Weltwirtschaft brauchte die Konsumenten in den USA. Ohne Kreditaufnahme wäre sie schon sehr viel früher in eine klassische Überproduktionskrise geraten. Die US-Bürger verschuldeten sich über die Hypotheken auf ihr Eigenheim, die von den US-Banken an das Anlage suchende Kapital in aller Welt locker verkauft wurden.

Nicht jeder Finanzcrash führt zur Wirtschaftskrise. Meist hilft das Gegenmittel einer neuen Spekulationsblase. Die Rezession nach dem Aktienmarktcrash 2000 bis 2003 wurde durch den Immobilienboom in den USA und die Verschuldung ihrer Bürger beendet. Aber der Kreditcrash des Jahres 2007 war zu groß für solche Rezepte. Die Bankenrettung im Herbst 2008 und die Konjunkturprogramme im folgenden Winter in allen Kernländern des Kapitalismus bewirkten lediglich, daß die Abwärtsspirale der Weltwirtschaft unterbrochen wurde, eine Teilerholung stattfand und der in dreißig Jahren Neoliberalismus riesige, aufgeblähte Finanzsektor erhalten blieb. Ein neuer Spekulationsboom ist nicht in Gang gekommen. So leidet die Weltwirtschaft unter dem viel zu großen Finanzvermögen, das laufend Tribut fordert, und dem Mangel an effektiver Nachfrage. Einige Jährchen wird deshalb die Jubilarin noch mit uns sein.

** Der Autor ist Finanzjournalist und Publizist. Er lebt in Frankfurt am Main.

Aus: junge Welt, Samstag, 11. August 2012



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