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Mehr Europa und weniger Demokratie

Von Monika Knoche *

Der Europa-Abgeordnete der Grünen, Daniel Cohn-Bendit, fordert eine europäische Verfassung mit großzügigen zentralistischen Elementen, um die Vormachtstellung des Alten Kontinents in der globalisierten Welt vorantreiben zu können. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) ist zusammen mit einigen Kollegen in der EU gleicher Meinung und nimmt für diesen Zweck ein Europa der zwei Geschwindigkeiten in Kauf. Auch der designierte SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück (SPD) sieht die Zukunft Europas darin, die Schranken des Grundgesetzes zu überwinden, damit mehr Souveränität auf die europäische Ebene übertragen werden kann. Kurzum, zur Zeit wird heftig für die Vereinigten Staaten von Europa geworben. Den Werbern ist freilich bewusst, dass damit ein großer Verlust von Mitbestimmungsmöglichkeiten verbunden wäre.

Der neue Superstaat muss zuerst demokratisch legitimiert werden. Dieser supranationalen Neugründung würde es zwingend bedürfen, so die übereinstimmende Begründung, um die Wirtschaftsmacht Deutschland als wettbewerbsfähigsten Standort weltweit zu sichern. Der Schritt sei aber auch deshalb notwendig, weil der Euro unumkehrbar sei. Weil die Globalisierung alternativlos ist, sind es die Vereinigten Staaten von Europa auch. So kann man die Diskussionslage zusammenfassen.

Nach wie vor stellt sich die Frage, für wessen Interessen setzen sich die EU-Mitgliedsstaaten in Brüssel ein. Das kann man daran sehen, wie die aktuelle Krise gelöst werden soll, nämlich zugunsten der Banken und auf Kosten der öffentlichen Hand und der solidarischen Sozialsysteme. Es ist kaum vorstellbar, dass mit noch mehr zentraler Entscheidungsmacht eine andere Politik gemacht würde.

Die Eurokrise ist eine Bankenkrise. Aber ist sie deshalb auch eine Krise Europas? Wenn man sich vor Augen führt, dass der Euro nicht einmal die Einheitswährung aller EU-Mitgliedsstaaten ist, wird schnell klar, dass es sich um zwei verschiedene Paar Schuhe handelt. Da wird eine mit Zentralmacht ausgestattete Durchschlagskraft innerhalb der bisher 17 Eurostaaten zum Zweck der umfassenden Deregulierung und Privatisierung gefordert. Wobei ein Kerneuropa mit europäischer Verfassung entstehen kann, das bis hinein in die militärische Absicherung ihrer wirtschaftlichen Interessen frei von parlamentarischen »Störungen« agieren kann.

Dass die Vereinigten Staaten von Europa samt einer Europäischen Verfassung die alternativlose Antwort auf die aktuellen Folgen der Bankenkrise sei, dieser gedankliche Kurzschluss mag plausibel erscheinen, richtig wird er dadurch aber nicht. Vielmehr stehen nationalstaatliche Schranken, verfassungsrechtliche Vorbehalte und parlamentarische Legitimationsverfahren im Weg. Zweifelsohne sind sie Erfolge emanzipatorischer Selbstbehauptungen oder drücken zu wesentlichen Teilen demokratiepolitische Erkenntnisse aus, die aus der Überwindung von Diktaturen in West- und Osteuropa gewonnen wurden. Aber dem vorherrschenden Politikverständnis folgend sind manche dieser Selbstbindungen in den europäischen Gesellschaften inzwischen ballastartig geworden.

Worin liegt der emanzipatorische Zugewinn eines europäischen Gigaprojektes, abgesehen davon, dass ein basisdemokratisch ausgestalteter Verfassungskonvent in allen 27 Mitgliedsstaaten eröffnet werden müsste, auf EU-Ebene zusammengeführt und mit Volksabstimmungen in allen diesen Staaten zu beenden wäre. Ein Prozess also, der bislang als Wille des Volkes nirgendwo in Europa erkennbar ist. Soll sich die gesellschaftliche Linke darauf kaprizieren, die basisdemokratische Einleitung eines europäischen Zentralismus zu fordern? Oder soll sie sich dafür einsetzen den Staatenbund zu erhalten und statt der Institutionen deren Politik verändern?

Es ist die Idee der Eliten, Europa von Grund auf neu zu formieren. Die Mächtigen in der Finanzwelt und der Wirtschaft sowie ihre Interessenverwalter auf der Ebene der Politik wollen einen demokratisch legitimierten Zentralismus. Den Mitgliedsstaaten soll nur noch die Rolle einer Zweiten Kammer zukommen, das Haushaltsrecht des Parlamentes zur Makulatur werden. Das Europaparlament bekäme Gesetzgebungskompetenz und der direkt gewählte Präsident könnte in wesentlichen Fragen ohne Parlamentsvorbehalt regieren. So lauten die Vorschläge.

Der Wertegehalt des deutschen Grundgesetzes, der einen Großteil des antifaschistischen Erbes in sich trägt, wäre vielleicht dahin. Zu different sind die Rechtstraditionen und die Staatsverständnisse in den Mitgliedsstaaten, als dass alle Europäer einen Zugewinn an Rechten erwarten könnten, wenn alles vereinheitlicht wird, was derzeit national erkämpft ist. Wer sich an den Vorlauf zum Lissabonner Vertrag erinnert, kann nachvollziehen, warum mancher Politiker mit einem Kerneuropa mit Euro als neuer Bundesstaat liebäugelt. Doch ist das das Europa der europäischen Ideale? Will man die Spaltung Europas als Preis für die Vereinigten Staaten riskieren?

* Aus: neues deutschland, Samstag, 03. November 2012


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