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Zweidrittel-Mehrheit des Bundestages für Fiskalpakt

LINKE reicht noch in der Nacht Klage ein *

Der Bundestag hat am Freitagabend den europäischen Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin mit Zweidrittel-Mehrheit verabschiedet. Bei 608 abgegebenen Stimmen votierten 491 Abgeordnete mit Ja, 111 votierten dagegen, 6 enthielten sich.

Mit einigen Ausnahmen stimmten sowohl die Koalitionsfraktionen von Union und FDP wie auch die Oppositionsfraktionen von SPD und Grünen für den Pakt. Die Linksfraktion stimmte geschlossen dagegen.

Wegen Eingriffen in Souveränitätsrechte war eine Zweidrittel-Mehrheit nötig. Mit dem Fiskalpakt verpflichten sich die EU-Staaten mit Ausnahme Großbritanniens und Tschechiens, für ausgeglichene Haushalte zu sorgen. Staaten können bei zu hoher Neuverschuldung auf Strafzahlungen verklagt werden.

Auch der Bundesrat hat inzwischen, nach dem höchsten deutschen Parlamemt, den europäische Fiskalpakt und den Euro-Rettungsfonds ESM gebilligt, ebenfalls mit der nötigen Zweidrittel-Mehrheit für beide Verträge. Außer dem rot-rot-regierten Brandenburg stimmten alle Länder mit Ja.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hofft mit dem Instrument auf ein Ende der Schuldenpolitik, die mehrere Euro-Staaten an den Rand der Pleite getrieben hat. Da er aber verfassungsrechtliche Fragen berührt, hat das letzte Wort das Bundesverfassungsgericht. Mehrere Klagen dagegen sind bereits im Vorfeld angekündigt worden.

Die LINKE wird noch in der Nacht zu Samstag die Klage gegen beide Verträge einreichen. Nach der Beschlussfassung im Bundestag am Freitagabend kündigte Fraktionschef Gregor Gysi in Berlin an, die Klageschrift werde nach der für den späten Abend erwarteten Zustimmung des Bundesrates per Fax nach Karlsruhe geschickt.

Auch das vom Verein »Mehr Demokratie« ins Leben gerufene Bündnis »Europa braucht mehr Demokratie« hat eine von bisher 12.000 Bürgerinnen und Bürgern unterstützte Verfassungsbeschwerde gegen Euro-Rettungsschirm und Fiskalvertrag an das Bundesverfassungsgericht übergeben. Vertreten wird die Bürgerklage von dem Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart und Justizministerin a.D. Herta Däubler-Gmelin.

Wegen den von LINKEN, anderen Politikern und einer Bürgerinitiative angekündigten Klagen kann der dauerhafte Euro-Rettungsschirm nicht wie geplant am Sonntag in Kraft treten. Das Bundesverfassungsgericht will die von den LINKEN beantragte Einstweilige Anordnung innerhalb der kommenden Wochen prüfen. Deswegen hatte Bundespräsident Joachim Gauck angekündigt, die Gesetze zum ESM und dem Fiskalpakt zunächst nicht zu unterzeichnen. Beim Fiskalpakt hat die Klage zunächst keine gravierenden Folgen, weil er erst im kommenden Jahr in Kraft treten soll.

Der Bund hatte den Bundesländern zugesichert, etwaige Strafzahlungen für sie zu übernehmen. SPD und Grüne hatten ihre Zustimmung erst zugesichert, nachdem sich Union und FDP zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer bereiterklärt hatten. Zudem soll es ein Milliardenprogramm für Wachstumsimpulse geben. SPD und Grüne argumentieren, mit Sparen allein sei die Krise nicht zu lösen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 30. Juni 2012


Veralberung des Bundestags

Abgeordnete sollten wenige Stunden alte Euro-Kompromisse durchwinken

Von Kurt Stenger **


Begleitet von Protesten und einem Gerangel um das Prozedere sollte im Parlament vor Beginn der Sommerpause über EU-Fiskalpakt und Rettungsfonds ESM abgestimmt werden.

Es war wie häufig bei wichtigen Entscheidungen in der Euro-Krise: Kurz vor Torschluss kam wegen neuer Beschlüsse Hektik auf. Bundestag und Bundesrat sollten nach dem Willen der Regierung am Freitagabend mit Zweidrittelmehrheit den EU-Fiskalpakt und den neuen Euro-Rettungsfonds ESM beschließen. Doch beim EU-Gipfel in Brüssel waren zuvor gelockerte Kriterien bei der ESM-Kreditvergabe beschlossen worden. Der FDP-Politiker Jürgen Koppelin sprach sich zunächst für die Verschiebung der Abstimmung aus. SPD-Haushaltsexperte Carsten Schneider erklärte, seine Partei könne einer »Black Box« nicht ohne weiteres zustimmen. Er sprach von einer »180-Grad-Wende« der Kanzlerin. Die CDU wies die Kritik zurück und beharrte auf dem Zeitplan. Änderungen am ESM müssten vom Bundestag später gesondert beschlossen werden. Die Linksfraktion sprach von einer »Veralberung des Bundestags« und beantragte die Verschiebung der Debatte, was von den anderen Fraktionen abgelehnt wurde.

Aus Union, FDP und SPD verlautete, die meisten ihrer Abgeordneten würden beide Vertragstexte verabschieden. Damit zeichnete sich eine Zweidrittelmehrheit ab.

In ihrer Regierungserklärung sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU), der Fiskalpakt mache den Weg der Haushaltskonsolidierung »unumkehrbar«. Die breite Zustimmung des Bundestags sei »ein Signal, die europäische Staatsschuldenkrise zu überwinden und zwar nachhaltig«. LINKE-Fraktionsvize Sahra Wagenknecht sagte, mit dem Fiskalpakt werde das Katastrophenkonzept für Griechenland und Spanien auf ganz Europa übertragen. SPD und Grüne hätten »nahezu jeder europapolitischen Schandtat der Regierung zugestimmt«. Präsident Joachim Gauck hatte bereits angekündigt, das Gesetz nicht vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu unterzeichnen. Klagen wollen die LINKE, die ihren Antrag noch in der Nacht per Fax losschicken wollte, und der Verein »Mehr Demokratie«, aber auch rechtspopulistische Gruppierungen.

Rund 400 Aktivisten u.a. von Nichtregierungsorganisationen forderten bei einer Kundgebung vor dem Berliner Reichstag die Abgeordneten auf, Fiskalpakt und ESM abzulehnen. Berlins ver.di-Vorsitzende Sonja Staack warnte davor, dass die Löhne »europaweit weiter gedrückt werden sollen«. Uwe Hiksch vom Umweltverband NaturFreunde Deutschlands sprach wegen der Eingriffe in die Haushaltshoheit der Parlamente von einem »Rückfall in die vorparlamentarische Zeit«. Dirk Stegemann von der Antifa-Vereinigung VVN-BdA erklärte, »der Fiskalpakt forciert soziale Ungleichheit und Rassismus«. Der Widerstand dagegen dürfe »nicht zu Lasten einer klaren Abgrenzung zu Nazis, Rassisten und Rechtspopulisten gehen«.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 30. Juni 2012


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