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"Die EU muss demokratisch und sozial sein – oder es wird sie auf Dauer nicht geben"

Europa nach den Referenden über die Verfassung und den Lissabon-Vertrag: Europa braucht eine alternative Wirtschafts- und Sozialverfassung

Von Lothar Bisky und Klaus Busch *

Nach den gescheiterten Referenden über den Verfassungsvertrag der EU in Frankreich und den Niederlanden im Jahre 2005 haben jetzt die Iren in einem Referendum den Vertrag von Lissabon abgelehnt. Bei diesem Vertrag von Lissabon handelt es sich im wirtschafts- und finanzpolitischen Kern um eine nahezu wortgetreue Kopie des EU-Verfassungsvertrages.

Nach dem ersten Schock haben sich die EU-Staaten rasch auf eine eurokratische Lösung dieser »Irland-Krise« verständigt. Der Ratifikationsprozess des Lissabon-Vertrags soll fortgesetzt werden und die Iren sollen im nächsten Jahr – so die weit überwiegende Position unter den EU-Staaten – in einem zweiten Referendum noch einmal abstimmen. Dieses Vorgehen zeigt abermals, dass sich die etablierten Parteien und ihre Regierungen in den Mitgliedstaaten der Tragweite der Krise der EU nicht bewusst sind, sie verleugnen oder verdrängen. Seit den ersten Direktwahlen zum Europaparlament im Jahre 1979, an denen sich im EU-Durchschnitt 63 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten, ist eine kontinuierliche Zunahme der Wahlenthaltung zu beobachten. Bei den letzten Wahlen im Jahre 2004 erreichte die Wahlbeteilung nur noch 45,6 Prozent, in Deutschland und Frankreich nur noch knapp über 40 Prozent. Viele in der etablierten Politik machen es sich zu einfach. Sie führen die wachsende Legitimationskrise der EU darauf zurück, dass Brüssel so weit weg, die EU zu komplex sei und die Bürgerinnen und Bürger deshalb nicht in der Lage seien, die EU zu verstehen. Fazit dieser Haltung ist dann allerdings nur, die EU-Bürger möglichst nicht direkt über die EU-Politik abstimmen zu lassen, Referenden zu vermeiden und die Vorzüge der repräsentativen Demokratie zu betonen. Aufgrund dieses fragwürdigen Demokratieverständnisses wurde den Franzosen und den Niederländern der Lissabon-Vertrag nicht noch einmal zur Abstimmung vorgelegt. Auch in vielen anderen EU-Staaten, in denen Ablehnungen befürchtet wurden – wie Deutschland, Großbritannien, Polen, Dänemark und Schweden – haben die etablierten Parteien die Möglichkeit eines Referendums verworfen. Wenn das Volk nicht so will wie die Herrschenden, reduziert man seine Interventionsmöglichkeiten auf ein Minimum. Die Mehrheitsparteien repräsentieren den hypothetischen Volkswillen, der empirische Volkswille soll da nicht stören! Krise in der EU wird sich zuspitzen

Mit dieser politischen Praxis eines unreflektierten »Weiter so« wird jedoch die Krise der EU nicht überwunden, im Gegenteil, sie wird sich zuspitzen. Das Vertrauen in die europäische Integration wird weiter abnehmen, denn die Legitimationskrise hat tiefer gehende Ursachen, welche in der herrschenden Analyse komplett geleugnet werden. Seitdem mit dem Binnenmarktprojekt und der Wirtschafts- und Währungsunion das neoliberale Wirtschafts- und Sozialmodell herrscht, nehmen die Bürgerinnen und Bürger in vielen Staaten die EU nicht mehr als Synonym für wachsenden Wohlstand, höhere Einkommen und mehr Arbeitsplätze wahr. Im Gegenteil. Sie sehen die EU als Vehikel für Reallohnabbau, Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme, Arbeitsplatzabbau und eine zunehmende soziale Ungleichheit. Die Bürgerinnen und Bürger vieler Mitgliedstaaten erleben die Wirkungen folgender sozialökonomischen Prozesse:
  • eine Stagnation der Reallöhne seit Mitte der 1990er Jahre, vor allem in Deutschland,
  • eine starke Abnahme des Anteils der lohnabhängigen Einkommen am Bruttosozialprodukt in der EU-27, vor allem aber in der Eurozone,
  • eine immer krasser werdende Ungleichheit in der Einkommensverteilung zwischen Arm und Reich in der gesamten EU,
  • die Herausbildung eines Niedriglohnsektors mit einem wachsenden Prekariat überall in der EU,
  • den Abbau von Leistungen für die Arbeitslosen, vor allem die Langzeitarbeitslosen, im Zuge der liberalen Arbeitsmarktreformen in fast allen EU-Staaten,
  • den Abbau des Wohlfahrtsstaates bei den Altersrenten und der Gesundheitsversorgung überall in der EU,
  • eine Umverteilung der Steuerlast zu Gunsten der Unternehmen in allen EU-Staaten,
  • den Abbau von Arbeitsplätzen in Unternehmen, deren Kapitalrenditen gleichzeitig drastisch gestiegen sind.
Für diese Entwicklungen ist die EU nicht allein verantwortlich, doch die unter neoliberaler Regie mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 und dem Maastrichter Vertrag von 1993 geschaffene Wirtschafts- und Sozialverfassung hat diese sozialökonomischen Prozesse deutlich verstärkt. Als deren beide Eckpfeiler sind hier vor allem die Konstruktion der Wirtschaftspolitik sowie das System der Wettbewerbsstaaten in der EU zu nennen. Die Wirtschaftspolitik, die vor allem aus der Geld- und der Fiskalpolitik besteht, hat zwei Systemmängel. Die von der EZB geführte Geldpolitik ist laut EU-Vertrag primär der Geldwertstabilität verpflichtet und nicht gleichrangig Wachstum und Beschäftigung, wie es etwa für die US-amerikanische Zentralbank gilt. Gleichzeitig ist die europäische Fiskalpolitik, die aus einer mühsamen Koordinierung der nationalen Fiskalpolitiken besteht, durch die entscheidenden Vertragsbestimmungen und den Stabilitätspakt vor allem auf eine Haushaltskonsolidierung ausgerichtet. Geld- und Fiskalpolitik dämpfen daher eher das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigungsentwicklung und greifen kaum aktiv in die Bekämpfung von Wirtschaftskrisen ein. Nach dem Platzen der New Economy-Blase im Jahre 2001 waren die Folgen dieser Wirtschaftspolitik im internationalen Vergleich deutlich zu besichtigen. Während die Wirtschaft der Eurozone aufgrund der dämpfenden Geld- und Fiskalpolitik von 2002 bis 2005 stagnierte oder nur schwach wuchs, verzeichneten die USA und Großbritannien aufgrund stimulierender Geld- und Fiskalpolitiken ein hohes Wirtschaftswachstum und einen hohen Beschäftigungsstand.

Sozialkosten als Standortfaktor

Neben der einseitig auf monetäre und fiskalische Stabilität ausgerichteten Wirtschaftspolitik ist als zweiter Grundpfeiler der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialverfassung der EU das System der Wettbewerbsstaaten zu nennen. Im Mehrebenensystem der EU sind einige ökonomische Kompetenzen auf der europäischen Ebene angesiedelt (Binnenmarkt, gemeinsame Währung), andere dagegen auf der nationalen Ebene verblieben (Einkommensteuern, Sozialausgaben, Tariflöhne). Insbesondere in der Eurozone, in der das Instrument der Währungsauf- und -abwertung als Puffer zum Ausgleich von Wettbewerbsverschiebungen zwischen den Staaten entfallen ist, sind damit Löhne, Sozialkosten und Steuern zu wichtigen Standortfaktoren geworden. Indem die Staaten begonnen haben, einseitig diesen Blick einzunehmen und an diesen Stellschrauben zu drehen, versuchen sie, Investitionen des internationalen Kapitals anzulocken. Da im Gebiet der einheitlichen Währung alle Staaten unter diesen Spielregeln zu handeln haben, sind Abwärtsspiralen bei den Lohnstückkosten, den Sozialausgaben und den Unternehmenssteuern die Folge.

Die realen Lohnkosten sind in Relation zur Wirtschaftsleistung in der EU-27, vor allem aber in der Eurozone seit Mitte der 1990er Jahre stark abgesunken. Vor allem Deutschland hat sich durch einen überdurchschnittlichen Abbau seiner realen Lohnstückkosten große Wettbewerbsvorteile gegenüber seinen europäischen Konkurrenten verschafft (Lohndumping). Auch Irland und viele Staaten in Mittel- und Osteuropa haben Dumpingpolitiken betrieben. In etlichen Staaten sind auch die Ausgaben für die sozialen Sicherungssysteme in Relation zu Wirtschaftsleistungen seit Mitte der 1990er Jahre überdurchschnittlich gesunken. Dies gilt im Westen besonders für die Niederlande, Spanien und Irland, im Osten vor allem für die drei baltischen Staaten und die Slowakei. Auch diese Prozesse üben Druck auf die anderen EU-Staaten aus (Sozialdumping), stellen doch die Sozialausgaben mit ca. 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (im europäischen Mittel) einen wichtigen Kostenfaktor dar. Schließlich lässt sich seit Beginn der 1990er Jahre in Europa ein starker Wettbewerb beim Abbau der Unternehmenssteuern registrieren. Viele Staaten versuchen, durch weit unterdurchschnittliche Körperschaftssteuern sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen (Irland, die Niederlande, Estland, Polen und die Slowakei). Sie setzen damit die anderen Staaten unter Zugzwang (Steuerdumping).

EU-Vertrag geht weiter als Verfassungen

Die soeben beschriebene Struktur der Wirtschafts- und Sozialverfassung der EU ist seit 1993 Bestandteil der Verträge. Sie ist auch in dieser Form in den Verfassungsvertrag und den Vertrag von Lissabon aufgenommen worden. Die EU-Verträge gehen damit weit über die nationalen Verfassungen hinaus. Kein Mitgliedstaat der EU kennt eine Verfassung, in der die Orientierung der Geld- und der Fiskalpolitik festgeschrieben ist. Kein Staat basiert – verfassungsrechtlich verankert – auf einem System des Wettbewerbsföderalismus. Man stelle sich vor, in Deutschland könnten die 16 Bundesländer ihre Unternehmenssteuern, Sozialabgaben und Löhne autonom festsetzen! Wir würden die daraus resultierende Zerstörung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse und die Abwärtsspiralen nicht akzeptieren. Genau das aber, was wir in unserem Land nicht erlauben würden, ist seit 1993 Realität in der EU. Die inhaltliche Reichweite der EU-Verträge geht folglich weit über die inhaltlichen Vorgaben der Verfassungen der Mitgliedstaaten hinaus. Statt einen Vertrag zu unterzeichnen, der die Organe der EU festlegt, deren Kompetenzen und Entscheidungsverfahren regelt, schreiben die EU-Verträge darüber hinaus eine neoliberale Ausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik vor, die die EU-Organe und die Mitgliedstaaten durchzuführen haben. Es ist beinahe gleichgültig, welche Mehrheitsverhältnisse in den Mitgliedstaaten und in der EU durch Wahlen entstehen, wenn die Politik, welche durch die Regierungen auszuüben ist, aufgrund der EU-Verträge in den Grundelementen bereits festliegt. Darin besteht das eigentliche Demokratiedefizit der EU! Deren Verträge schränken den Gestaltungsspielraum der demokratisch gewählten Parlamente und Regierungen durch inhaltliche Vorgaben für die Wirtschaftspolitik und strukturelle Spielregeln für die Lohn-, Sozial- und Steuerpolitik so stark ein, dass selbst große politische Verschiebungen in den Mitgliedstaaten für deren Politik weitgehend ohne Belang sind. Auf der Grundlage dieser Verträge stellt der EuGH (Europäischer Gerichtshof) inzwischen die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit über die Koalitionsfreiheit und legalisiert damit Lohndumping im Binnenmarkt (Urteile Laval, Viking und Rüffert). Dieser unsozialen und undemokratischen neoliberalen Politik der EU, welche die Interessen der überwiegenden Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger beeinträchtigt, muss ein alternatives Wirtschafts- und Sozialmodell entgegengestellt werden. Im Kern sollte es folgende fünf Elemente beinhalten:
  1. Eine Wirtschaftspolitik, welche die einseitige Ausrichtung der Geld- und Fiskalpolitik auf Inflationsbekämpfung und Haushaltsdisziplin überwindet und primär auf nachhaltiges Wachstum und Vollbeschäftigung zielt.
  2. Eine europäisch koordinierte solidarische Tarifpolitik, welche die jeweiligen nationalen Verteilungsspielräume ausschöpft und damit Lohndumping vermeidet. Darüber hinaus sind in Europa gesetzliche Mindestlöhne zu vereinbaren, die in den jeweiligen Mitgliedstaaten existenzsichernd sind.
  3. Eine europäische Koordinierung der wohlfahrtsstaatlichen Politiken, welche die Sozialausgaben der Staaten an deren wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ausrichtet. So kann eine Politik des Sozialdumpings unterbunden und auch ein Aufholprozess der ökonomisch schwächeren Mitgliedstaaten ermöglicht werden.
  4. Eine europäische Unternehmenssteuerpolitik, die mit einheitlichen Bemessungsgrundlagen und einheitlichen Steuersätzen die Praxis des Unterbietungswettbewerbs beendet.
  5. Eine Politik der Arbeitsbeziehungen, die durch europäische Regulierungen die Praxis der prekären Arbeitsverhältnisse (Leiharbeit, Befristung, überlange Arbeitszeiten) in allen Mitgliedstaaten effektiv beendet. Darüber hinaus sollte die Wirtschaftsdemokratie durch einen Ausbau der Mitbestimmung in Betrieb und in Unternehmen gestärkt werden. Den Eurobetriebsräten sind echte Mitbestimmungsrechte zu gewähren.
Europaweite Debatte ist notwendig

Die Legitimationskrise der EU offenbart, dass die neoliberale Formierung der Wirtschafts- und Sozialverfassung von den Bürgerinnen und Bürgern in den Mitgliedstaaten immer weniger akzeptiert wird. Nach den gescheiterten Referenden sollte eine europaweite gesellschaftliche Debatte über die Zukunft der Union geführt werden. Diese sollte zu einem neuen EU-Vertrag führen, der die Organe, die Kompetenzverteilung und die Entscheidungsverfahren regelt. Sie sollte aber nicht dazu führen, dass die inhaltliche Ausrichtung der von den demokratisch gewählten Institutionen zu führenden Politiken festgeschrieben wird. Die Geld- und die Fiskalpolitik müssen ihrer Fesseln beraubt werden und Spielraum für eine wachstums- und beschäftigungsorientierte Politik bekommen. In der Lohn-, Sozial- und Steuerpolitik sind durch Regulierungen auf der europäischen Ebene Dumpingpraktiken zu unterbinden. Der Neoliberalismus wird auf Dauer den europäischen Integrationsprozess zerstören und zu einer Rückkehr von Nationalismus und Protektionismus führen. Nur durch die Verwirklichung eines demokratischen und sozialen Europas kann die wachsende Entfremdung der Bürgerinnen und Bürger gegenüber der europäischen Idee überwunden werden und der Integrationsprozess ein dauerhaftes Fundament finden. Die EU sollte demokratisch und sozial sein oder es wird sie auf Dauer nicht geben.

Prof. Dr. Klaus Busch ist Dozent für Europäische Studien an der Universität Osnabrück. Er veröffentlichte zahlreiche Analysen zur europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Prof. Dr. Lothar Bisky ist Vorsitzender der Partei DIE LINKE und der Europäischen Linkspartei.

Aus: Neues Deutschland, 5. Juli 2008



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