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Labiler Vorsitz im Europäischen Rat

Belgien hat von Spanien die EU-Ratspräsidentschaft übernommen

Von Tobias Müller, Amsterdam *

Es ist aus mehreren Gründen eine besondere Konstellation, wenn Belgien jetzt für die kommenden sechs Monate den Vorsitz im Europäischen Rat übernimmt, schließlich sind in der Hauptstadt des Königreichs auch die wichtigsten Institutionen der Union angesiedelt.

Als EU-Gastgeberland eröffnete Belgien 1993 unter Premier Jean- Luc Dehaene einst den halbjährlichen Turnus der EU-Ratspräsidentschaften. 2010 übernimmt Brüssel diese Funktion als erstes Mitgliedsland nach Ausbruch der Eurokrise. Wenig überraschend ist daher, dass finanzielle Stabilität als »Priorität Nummer Eins« gilt, wie der noch im Amt befindliche Übergangspremier Yves Leterme ankündigte. Es kriselt freilich nicht nur in der EU. Durch den Streit zwischen frankofonen und flämischen Sprachgruppen befindet sich das konflikterprobte Belgien selbst in einer der schwersten Krisen seiner 180-jährigen Geschichte. Im April zerbrach daran die Regierung. Der klare Sieg flämischer Separatisten bei den Neuwahlen Mitte Juni zeigt, dass sich die Lage keineswegs entspannt hat.

Regierungsmitglieder versicherten im Frühjahr immer wieder, die interne Zerreißprobe werde Belgiens Vorsitz im Europäischen Rat keineswegs beeinträchtigen. Zu verdanken ist dies vor allem Ex-Premier Herman van Rompuy, der seit Dezember als erster permanenter Präsident des Europäischen Rates fungiert. Gemäß dem Lissabon-Vertrag soll er damit für die Kontinuität bürgen, für die zuvor allein das turnusmäßig vorsitzende Land zuständig war.

»Die Zeiten sind vorbei, in denen ein Land 20 Prioritäten und 30 Aktionspunkte präsentieren konnte«, trug Außenminister Steven Vanackere den neuen Verhältnissen Rechnung, als er dieser Tage das offizielle Programm präsentierte. Die Agenda steht ganz im Zeichen der Wirtschaftskrise: Belgien will sich für eine europäische Aufsichtsstelle für Finanzinstitutionen und die Regulierung von Hedge Fonds einsetzen. Auch die Mitte Juni beschlossene EU-weite Abgabe für Banken zur Mitfinanzierung der Krise soll in den nächsten Monaten Gestalt annehmen. Zudem will man sich einer gemeinsamen EU-Asylpolitik und des Aufbaus eines eigenen Diplomatencorps, des sogenannten EAD (Europäischer Auswärtiger Dienst), annehmen.

Im wesentlichen schließt sich die Agenda jener der »Troika« an. Unter diesem Namen hatten die Regierungen des letzten Ratspräsidenten Spanien, Belgiens und Ungarns, das im Januar das Amt übernimmt, erstmals eine gemeinsame Tagesordnung ausgearbeitet. Belgien will in fünf Kernbereichen Akzente setzen, der sozio-ökonomische Schwerpunkt soll dabei auf »grüner und Wissenschaftswirtschaft« liegen. Dazu gehört auch das Projekt eines europäischen Patents. Auf sozialer Ebene finden sich recht allgemein formulierte Bekenntnisse wie das zur »Stärkung des sozialen Auffangnetzes in allen Lebensphasen«. Ausdrücklich erwähnt wird zudem das Thema Gewalt gegen Frauen, deren Bekämpfung aber nicht näher erläutert wird.

Im Bereich Ökologie will sich Belgien neben dem Ziel der kohlenstoffarmen Wirtschaft der Umweltgesetzgebung widmen und eine »konkrete und ehrgeizige Zielsetzung« für die Klimakonferenz in Cancun fördern. Der Schwerpunkt der Sicherheits- und Justizpolitik liegt, ebenfalls eher vage formuliert, auf der »Bekämpfung von Terrorismus, organisiertem Verbrechen, illegaler Einwanderung und Menschenhandel«. Schließlich sollen in den Außenbeziehungen der EU protektionistische Maßnahmen durch Handelsabkommen ersetzt werden.

Anders als 2001, als Belgien letztmals den Ratsvorsitz innehatte, stellt die Erweiterung der Union diesmal keinen Hauptpunkt mehr dar. Erwartet wird aber, dass die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien bis Jahresende abgeschlossen werden. Eine Aufnahme der Gespräche mit Island gilt im selben Zeitraum als wahrscheinlich. Zugleich hat EU-Staatssekretär Olivier Chastel für die zuletzt stockenden Verhandlungen mit der Türkei die Eröffnung eines neuen Kapitels in Aussicht gestellt.

Regelmäßige Teilnehmer an Treffen des Europäischen Rats müssen sich im kommenden halben Jahr an einige unbekannte Gesichter gewöhnen. Da mit der Vereidigung einer neuen föderalen Regierung in Belgien frühestens im Herbst zu rechnen ist, werden Vertreter der drei Regionalregierungen der Wallonie, Flanderns und Brüssels mehrere Konferenzen leiten. Berichten zufolge will Belgien auch auf das künftige Budget der EU-Regionalpolitik besonderes Augenmerk legen.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Juli 2010


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