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Die seltsame Rede des Manuel B.

Der "Lagebericht" des EU-Kommissionschefs war alles andere als visionär

Von Kay Wagner, Straßburg *

Es war ein merkwürdiges Ereignis am vergangenen Dienstag (7. Sep.) in Straßburg, das mit dem hochtrabenden Titel »Rede zur Lage der Union« belegt worden war. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sprach vor dem Plenum des EU-Parlaments. Das macht er regelmäßig. Doch diesmal sollte es mehr sein als sonst. Kein Kleinklein. Keine Auseinandersetzung mit allzu tagesaktuellen Fragen, die die Parlamentarier oft so wenig interessieren, dass sie gar nicht erst in großer Zahl erscheinen. Wohl deshalb drohte ihnen diesmal Strafe beim Fernbleiben. Die Drohung wurde zwar im letzten Augenblick zurückgenommen. Doch passte sie in ihrer Unbegreiflichkeit zu dem Ereignis, das der Mann, der im Mittelpunkt stand, förmlich zelebrierte.

Mit breitem Lächeln auf dem Gesicht ließ er sich beim Gang ins Plenum vom Kamerateam des ZDF filmen. Das gleiche Lächeln erschien erneut, als er später hinter das Rednerpult trat. Auch abends im US-Nachrichtensender CNN: wieder dieses Lächeln. Ein Zeichen einer bubenhaften, eigenen Freude über die große Bedeutung, die ihm plötzlich widerfuhr. Barroso, ein wichtiger Mann. Der Kopf der EU. So wurde es gesagt, so sieht der Portugiese sich selbst gerne. Als Aushängeschild der Union. Als derjenige, der das Sagen hat: So geht es, und nicht anders.

Leider lag zwischen den Momenten des Lächelns die Rede, die er vor den EU-Abgeordneten in Straßburg hielt. Da wurde der Schein als Fassade entlarvt. Ein Staatsmann, der eine aufrüttelnde Rede schwingen kann, die mitreißt, begeistert, überrascht: Das ist Barroso nicht. Schnell wurde es langweilig, als der Portugiese hinter dem Rednerpult stand. Schnell verfiel er wieder in den Ton des fleißigen Behördenleiters, der Visionen mit Sätzen aus Aktenordnern herunterspult. Langweilig war das auch deshalb, weil man den Inhalt mittlerweile schon so oft gehört hat. Die fünf Herausforderungen für Europa. Die Wirtschaftsregierung, das Wachstum, die Freiheitsrechte, das Finanzsystem, das stärkere Gewicht, dass Europa bekommen soll. Das sollte die Rede zur Lage der Union sein? Nach dem Vorbild des US-amerikanischen Präsidenten, der jedes Jahr eine Rede zur Lage der Nation vor den Kongresskammern hält?

Bis die EU etwas ähnliches auf die Beine gestellt haben wird, muss noch einiges geschehen. Die Union, das zeigte sich am Dienstag, probiert sich erst noch aus. Denn letztlich war das ganze, auch von den Medien aufgebauschte Spektakel kein großer Wurf für die EU, sondern ein neues Kapitel im nickeligen Machtspiel der Institutionen, versteckt hinter netten, manchmal aber auch deutlichen Worten. Parlamentspräsident Jerzy Buzek stellte in seinen Ankündigungsworten der Barroso-Rede die Volksvertretung eindeutig über die Kommission. »Wir haben Barroso bestätigt, auch die Kommissare«, sagte der Pole. Ohne Parlament, so ist das zu übersetzten, gäbe es diese Kommission nicht. »Herr Barroso, wir hoffen, dass die Kommission ihre Rolle als Hüterin der Verträge wahrnimmt«, nahm Buzek dem Portugiesen noch einmal ein wenig Wind aus den staatsmännisch aufgeblähten Segeln.

Die Parlamentarier stimmten nach der Rede in dieses Lied ein. An Kritik in Richtung Barroso mangelte es nicht. Als eine »vertane Chance« wertete Werner Langen, Sprecher der deutschen CDU/CSU-Abgeordneten, den Auftritt. Zu wenig Mut zeige der Kommissionspräsident, wenn es darauf ankäme, den Vertretern der Mitgliedsstaaten die Meinung zu sagen, so Martin Schulz, Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten.

Darin allerdings waren sich Barroso und die Abgeordneten einig. »Mehr Europa« müsse mit geeinten Kräften gegen die Mitgliedsstaaten und deren Einzelinteressen durchgesetzt werden. Als ob die Mitgliedsstaaten nicht selbst zu diesem Europa gehörten, für das Parlament und Kommission sprechen wollen.

Wie unausgegoren das Verhältnis der Institutionen und die jeweiligen Ansprüche auf die Führungsrolle in der EU noch sind, machte nicht zuletzt EU-Ratspräsident Herman van Rompuy deutlich: Er blieb der Straßburger Veranstaltung fern. Übrigens ohne, dass er mit einer Strafe bedroht worden wäre.

* Aus: Neues Deutschland, 10. September 2010


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