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Neoliberale Agenda

EU-Kommissionspräsident Barroso wiedergewählt, auch von Sozialdemokraten. Dabei steht er für die Zerstörung des europäischen Sozialmodells und die Militarisierung der Union

Von Sabine Wils *

Mit einer Mehrheit von 382 Stimmen hat sich das Europäische Parlament dafür ausgesprochen, daß der bisherige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso auch der zukünftige sein soll. 219 Abgeordnete, unter ihnen die der Linken, stimmten am Mittwoch gegen ihn. 117 Parlamentarier enthielten sich. Eine wirkliche Wahl hatte das Parlament aber nicht. Es konnte der vorangegangenen Benennung durch den Rat, also das Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU, nur zustimmen oder sie ablehnen. Die Möglichkeit, einen eigenen Kandidaten vorzuschlagen und darüber abzustimmen, hatte es nicht. Mit der Entscheidung des Rats vom 18. Juni 2009 für Barroso war die Weiche längst gestellt. Dieses Verfahren unterstreicht einmal mehr den Mangel an Demokratie in der EU.

Die Festlegung von Rat und Parlament auf Barroso ist ein Bekenntnis für die Fortsetzung des verhängnisvollen Kurses der Liberalisierung und Flexibilisierung des EU-Binnenmarkts. Unter seiner Präsidentschaft war die Europäische Kommission in den letzten fünf Jahren treibende Kraft bei der Zerstörung des europäischen Sozial­modells, der Militarisierung der Union und der Unterordnung ihrer umweltpolitischen Ziele unter die Interessen der Konzerne.

Mit der 2005 erneuerten Lissabon-Strategie wurde der gnadenlose Kostensenkungswettlauf und Standortwettbewerb sowohl innerhalb der EU als auch in der Weltwirtschaft verschärft. Es war die von Barroso geführte Kommission, die die Dienstleistungsrichtlinie gegen alle Widerstände durchpaukte. Mit ihrer Hilfe werden bestehende soziale Standards und arbeitsrechtliche Schutznormen der Mitgliedsstaaten ausgehebelt. In der Arbeitsmarktpolitik verbindet sich das »Flexicurity-Konzept« von Kommission und Rat mit wachsender Unsicherheit, verschlechterten Arbeitsbedingungen, niedrigen Löhnen sowie steigender Lohnkonkurrenz.

Die Barroso-Kommission trägt einen gewichtigen Teil der Schuld am Ausbruch und der Schwere der Finanzmarktkrise. Zahlreiche Initiativen des Europäischen Parlaments zur Stärkung der Aufsichtsgremien wurden von ihr zurückgewiesen. In den besonders von der Krise betroffenen osteuropäischen Mitgliedsländern betätigt sich die Europäische Kommission heute, Arm in Arm mit dem Weltwährungsfonds, als brutaler Haushaltssanierer auf Kosten der sozialen Rechte der Bevölkerung und des verbliebenen Sozialstaats.

Eindeutig negativ ist auch die Entwicklung in der Außen- und Sicherheitspolitik: In den letzten fünf Jahren ging der Aufbau von EU-Battlegroups zügig voran, und die Europäische ­Union beteiligt sich weltweit an zahlreichen militärischen Einsätzen.

Schon allein aufgrund dieser verheerenden Bilanz kam für die Fraktion der Europäischen Linken eine Zustimmung zu Barroso nicht in Frage. Um jeden Zweifel an seinen zukünftigen Absichten zu zerstreuen, hatte der Kandidat »Politische Leitlinien für die nächste Kommission« vorgelegt. Sie sind so nebulös und floskelhaft, daß selbst die Barroso ansonsten wohlgesinnte Frankfurter Allgemeine Zeitung sie als »langatmiges Programm« von »Allgemeinplätzen und Phrasen« verriß.

Sieht man allerdings genauer hin, so finden sich hinter all diesen wolkigen Formulierungen sehr wohl die harten Inhalte einer klassischen neoliberalen Agenda wieder. Ausdrücklich wird das Flexicurity-Konzept gerühmt, das schon bisher für die Deregulierungen in der Arbeitsmarktpolitik stand. Mehr Wohlstand in der EU bedeutet auch zukünftig für Barroso vor allem mehr Binnenmarkt: »Die Kommission wird unnachgiebig für den Binnenmarkt als Eckstein der Verträge eintreten und alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn zu verteidigen, da er die beste Gewähr für lang anhaltenden Wohlstand bietet«, heißt es in den Leitlinien. In der Umweltpolitik bedeutet für Barroso Nachhaltigkeit vor allem, »daß wir den Rhythmus der Reform beibehalten, daß wir unsere Fertigkeiten und Technologien auf die Wettbewerbsfähigkeit und die Märkte von morgen ausrichten, daß wir modernisieren, um mit dem sozialen Wandel Schritt zu halten«. Der Markt soll es also auch hier richten. Ebensowenig wird in der Außen- und Sicherheitspolitik die Richtung gewechselt. Zukünftig soll es nur zügiger bei der Durchsetzung europäischer Weltmachtinteressen vorangehen. Barroso setzt dabei auf neue Abkommen: »Der Vertrag von Lissabon vermittelt uns, wenn er ratifiziert wird, das Instrumentarium, um eine neue Ära der weltweiten Projektion europäischer Interessen einzuleiten. (…)«

Die europäischen Sozialdemokraten enttäuschten bei dieser so wichtigen Richtungsentscheidung über die künftige Kommission auf ganzer Linie. Dem neoliberalen Konzept von Barroso setzten sie keinen ernsthaften Widerstand entgegen. Im Gegenteil: Im Europäischen Rat wurde Barroso auch von den sieben sozialdemokratischen Staats- und Regierungschefs nominiert. Und im Europäischen Parlament stimmte eine Reihe sozialdemokratischer Abgeordneter, vor allem aus Portugal, Spanien und Großbritannien, für ihn. Einige votierten wohl gegen ihn, aber ein Großteil der Fraktion, und hier vor allem die SPD-Abgeordneten, enthielt sich.

Noch im Europawahlkampf waren kämpferische Töne von der SPD zu hören gewesen. Da hieß es in einem gemeinsamen Positionspapier mit dem DGB etwa vollmundig: »Die SPD und der DGB mit seinen Mitgliedsgewerkschaften setzen sich für eine Klarstellung im EU-Primärrecht dergestalt ein, daß weder wirtschaftliche Grundfreiheiten noch Wettbewerbsregeln Vorrang vor sozialen Grundrechten haben. (…) Eine Klarstellung zugunsten sozialer Grundrechte im EU-Primärrecht ist die zentrale Anforderung von SPD und dem DGB mit seinen Mitgliedsgewerkschaften an die neue EU-Kommission und ihren Präsidenten.«

Davon ist jetzt keine Rede mehr, der DGB wird im Regen stehengelassen. Mit Barroso als neuem Kommissionspräsidenten wird es keine Initiative für eine »soziale Fortschrittsklausel« geben.

* Die Autorin ist Mitglied des Europäischen Parlaments und dort Leiterin der Delegation der Partei Die Linke

Aus: junge Welt, 16. September 2009



Ein Votum zwischen zwei Verträgen

Die Brüsseler Kommission und ihr Präsident haben eine Schlüsselstellung in der Union

Von Olaf Standke **

Das Europäische Parlament stimmt heute (16. Sept.) über ein zweites Mandat von José Manuel Barroso ab. Gestern Nachmittag stellte der umstrittene EU-Kommissionspräsident in Straßburg sein Programm für eine neuerliche fünfjährige Amtszeit vor.

High noon im Straßburger Plenarsaal. Heute zwölf Uhr mittags wird das neu gewählte Europäische Parlament über José Manuel Barroso abstimmen. Die Grünen waren am Montag mit ihrem Vorschlag auf Verschiebung der Wahl bis nach dem irischen Referendum über den Vertrag von Lissabon am 2. Oktober gescheitert. Erst dann wisse man, ob Barroso nach dem neuen EU-Vertrag gewählt werden kann, der dem Parlament mehr Rechte zubilligt. »Wir müssen den Willen der Iren respektieren«, rief der grüne Fraktionsvorsitzende Daniel Cohn-Bendit seinen Kollegen zu. Vergeblich. Die Abgeordneten stimmten mit großer Mehrheit gegen den Antrag. Das heutige Votum wird damit auf der Grundlage des 2003 in Kraft getretenen Vertrages von Nizza stattfinden.

Der besagt, dass die Staats- und Regierungschefs der EU im Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, wen sie zum Kommissionspräsidenten ernennen wollen. Sie stehen geschlossen hinter dem Kandidaten Barroso, auch die sozialdemokratischen Regierungschefs -- sehr zum Ärger ihrer Genossen im Parlament.

Zugleich schreibt Artikel 214 des Nizza-Vertrags vor, dass »diese Benennung der Zustimmung des Europäischen Parlaments« bedarf. Interessanterweise geht der Vertrag davon aus, dass die Abgeordneten dem Votum der nationalen Regierungen folgen werden: »Nach Zustimmung des Europäischen Parlaments werden der Präsident und die übrigen Mitglieder der Kommission vom Rat mit qualifizierter Mehrheit ernannt.« Von einem Plan B bei einer ja theoretisch möglichen Ablehnung ist keine Rede.

Der Vertrag von Lissabon belässt zwar das Recht zur Ernennung bei den Staats- und Regierungschefs (Artikel 17). Doch muss der Europäische Rat (EU-Gipfel) ausdrücklich das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament »berücksichtigen«. Zudem trifft der neue Vertrag auch Vorkehrungen für den Fall einer Ablehnung: »Erhält dieser Kandidat nicht die Mehrheit, so schlägt der Europäische Rat dem Europäischen Parlament innerhalb eines Monats mit qualifizierter Mehrheit einen neuen Kandidaten vor, für dessen Wahl das Europäische Parlament dasselbe Verfahren anwendet.«

Die doppelte Legitimierung durch Regierungen und Parlament soll dem Präsidenten der Europäischen Kommission eine starke politische Autorität verleihen. Die Brüsseler Behörde besitzt schließlich eine Schlüsselstellung in der Europäischen Union. Sie sorgt mit ihren 22 500 Mitarbeitern und den Fachverwaltungen dafür, dass der EU-Haushalt sowie jene europäischen Richtlinien, Verordnungen und Entscheidungen umgesetzt werden, die sie selber zuvor initiiert hat. Denn nur die Kommission darf auf vielen wichtigen Gebieten Gesetzentwürfe vorlegen, womit sie Tempo und Ausrichtung der europäischen Integration maßgeblich bestimmt. Zugleich kann sie als »Hüterin der Verträge« Länder, die ihre Pflichten nicht erfüllen, beim Europäischen Gerichtshof verklagen.

Seit der EU-Erweiterung am 1. Januar 2007 besteht das eigentliche Kollegium aus 27 Kommissaren, einer aus jedem Mitgliedsland. Sie sind für jeweils spezielle Bereiche zuständig und üben »ihre Tätigkeit unter der politischen Führung ihres Präsidenten aus«. Er kann seinen Kollegen die Verantwortung für besondere Aufgaben zuweisen und Arbeitsgruppen einrichten. Er beraumt Kommissionssitzungen an und leitet sie. Und er vertritt die Kommission nach außen, etwa bei den EU- und G 8-Gipfeln. Der Kommissionspräsident ist also mehr als ein primus inter pares, er soll die Entwicklung der EU entscheidend vorantreiben -- genau das, meinen viele Kritiker, habe Barroso in seiner ersten Amtszeit versäumt.

Keine Visionen, schlechtes Krisenmanagement, zu sehr Marionette der Staats- und Regierungschefs der großen Mitgliedstaaten, lauten die Vorwürfe. Doch im Brüsseler Personalpoker, bei dem es als nächstes um die Besetzung der Kommission geht, hat niemand ernsthaft eine Alternative anzubieten. Laut Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments (Artikel 105) genügt dem 53-jährigen Portugiesen heute eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen bei der geheimen Wahl in Straßburg. Trotz aller Kritik wird der Konservative sie wohl finden.

** Aus: Neues Deutschland, 16. September 2009

Grüne wollten Wahl verschieben - vergeblich

Die Grünen-Fraktion im EP versuchte vergeblich, die Abstimmung über eine zweite Amtszeit von José Barroso zu verschieben - auf die Zeit nach dem irischen Referendum. Im Folgenden dokumentieren wir eine entsprechende Pressemitteilung der Fraktion vom 1. September 2009.


Brüssel 01.09.2009

Grüne werden in Straßburg Verschiebung der Barroso-Abstimmung beantragen: Barroso

Die Präsidentenkonferenz des Europäischen Parlaments entschied heute, die Abstimmung über eine zweite Amtszeit des Kommissionspräsidenten José Barroso nächste Woche am 16. September in Straßburg abzuhalten. Für diese Entscheidung stimmten die EVP, die Konservativen und die Liberalen, dagegen die Sozialisten, die Grünen und die Linke. Zu dieser Entscheidung erklären die Ko-Vorsitzenden der Fraktion Die Grünen/EFA, Rebecca Harms und Daniel Cohn-Bendit.

"Wir bedauern, dass die liberal-konservative Mehrheit dem Druck der EU-Regierungen und Barrosos gefolgt ist und den Nominierungsprozess für den nächsten Kommissionspräsidenten durchdrücken will. Die Grünen bleiben bei ihrer Forderung zuerst das Ergebnis des irischen Referendums über den Lissabon-Vertrag abzuwarten. Nur dann wissen wir unter welchem Vertrag die neue Kommission bestellt werden wird.

Schockiert sind die Grünen über die 180-Grad-Wendung von Guy Verhofstadt, dem Präsidenten der Liberalen Fraktion, der sich in wenigen Monaten von einem der schärfsten Kritiker zu einem willigen Steigbügelhalter für Barroso gewandelt hat.

Diesen Gesinnungswandel versucht Verhofstadt noch dazu mit Taschenspielertricks zu überspielen, indem er der Präsidentenkonferenz vorschlug, die Abstimmung über Barroso bei Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages zu wiederholen.

Das ist Unsinn. Denn entweder wird Barroso und später im Herbst die gesamte Kommission nach dem Nizza-Vertrag bestellt, dann ist sie für fünf Jahre im Amt. Oder die Kommission als Ganzes ist beim Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages noch nicht bestätigt.Dann muss allen Rechtsgutachten zufolge die Wahl Barrosos ohnehin zwingend nach dem Lissabon-Vertrag wiederholt werden, weil Präsident und Kommission nicht unter zwei verschiedenen Verträgen bestellt werden können. Verhofstadts Vorschlag diente also nur als Nebelwerfer für seine Prinzipienlosigkeit.

Wir halten den heutigen Beschluss der Präsidentenkonferenz für eine Fehlentscheidung. Daher werden die Grünen kommenden Montag in Straßburg eine Plenarabstimmung beantragen, um die Wahl Barrosos wieder von der Tagesordnung abzusetzen. Wir werden unsere Gründe allen 736 Abgeordneten in einem Schreiben ausführlich erläutern."


Quelle: Website der Grünen-Fraktion im EU-Parlament; www.gruene-europa.de






Brüsseler Poker

Von Olaf Standke ***

Der neue Präsident der Europäischen Kommission ist der alte. Am Ende war der zuvor unter den Europaabgeordneten so umstrittene José Manuel Barroso mit überraschend deutlichem Votum wiedergewählt. Als größtes Problem für den Konservativen entpuppte sich noch die peinliche Panne mit den defekten Stimmautomaten im Straßburger EU-Parlament. Dass er - und nur er - zur Abstimmung stand, hat mit den politischen Unvollkommenheiten des EU-Vertrages von Nizza zu tun, nach dem in Straßburg noch einmal gewählt werden musste, weil der Lissabon-Nachfolger in der Warteschleife hängt.

Der Portugiese, wegen seiner Anpassungsfähigkeit und Unverbindlichkeit das »Chamäleon« genannt, ist der Mann der Staats- und Regierungschefs und besonders auch der »lieben Freundin« Angela Merkel loyal verbunden. Eine personelle Alternative gab es ungeachtet der mangelnden politischen Konzepte und Durchsetzungskraft des obersten Brüsseler Beamten gestern im einzig vom Bürger direkt bestimmten EU-Organ nicht. So war Barrosos Wiederwahl den Christdemokraten Voraussetzung, damit der »Motor der EU« weiter störungsfrei brummt. Die Sozialdemokraten klagten zwar vollmundig über eine glatte »Fehlbesetzung«, enthielten sich im Plenum aber brav der Stimme - schließlich ist mit Barrosos Bestätigung nun der Poker um die anderen neu zu vergebenden Brüsseler Posten eröffnet.

*** Aus: Neues Deutschland, 17. September 2009 (Kommentar)


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