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Die EU ist auf dem Weg zur Militärunion

In der Verfassung sind Aufrüstung und Gewalteinsatz vorgesehen - es findet sich aber kein Wort der Kriegsächtung

Von Dietrich Bäuerle

Die Verfassung der EU macht Friedensfreunden keine Freude. Ausführlich werden Aufrüstung und weltweite Militäreinsätze geregelt und dabei noch das Entscheidungsrecht der nationalen Parlamente ausgehebelt.
Die Möglichkeit, Konflikte gewaltfrei zu lösen, wird nur am Rande erwähnt, rügt Dr. Dietrich Bäuerle, Kassel. Er ist katholischer Theologe und Politologe und aktives Mitglied bei Pax Christi / Internationale Katholische Friedensbewegung.
Der vorliegende Text wurde in der Frankfurter Rundschau vom 29. Juni 2004 unter der Rubrik "Standpunkte" veröffentlicht.


Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) der EU-Verfassung schreibt die EU auf eine Militärunion fest (Artikel I-11,4; I-15,1; I-40,1 und 2). Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten auf eine verstärkte Aufrüstung (Art. I-40,3; III-212,1) und fördert die "Strukturierte Zusammenarbeit" militärisch besonders ambitionierter Staaten (bes. Art. I-40,6; III-213). Dies sind sämtlich Bestimmungen, die für weltweite Militäreinsätze von EU-Mitgliedstaaten gelten (Art. I-40,1 und 5; III-210,1). In dieser Verfassung wird Militarisierung differenziert beschrieben, doch es findet sich kein Wort der Kriegsächtung, kein Hinweis auf eine globale Abrüstung, lediglich einige knappe und allgemeine Erwähnungen ziviler Konfliktregelung.

Eine wesentliche Begründung der ESVP liefert die 2003 verabschiedete Europäische Sicherheitsstrategie (ESS). Diese ähnelt im weitesten Sinne der US-Ideologie des globalen (Präventiv-)Krieges gegen den Terrorismus, die alle Gewaltmittel legitimiert.

Soweit der derzeitige Verfassungsstand, vorbehaltlich der Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten. Er minimiert in drastischer Weise die Chancen für eine demokratische Politik primär ziviler Konfliktregelungen. Dafür gibt es zwei Ursachen.

Zum einen weisen Entstehung und Inhalt der EU-Verfassung gravierende Demokratiedefizite auf:
Die Entscheidungsgewalt über die ESVP liegt nicht etwa beim Europäischen Parlament, sondern beim Europäischen Rat und Ministerrat (Art. I-39,2 und 3; Art. I-40,4 u. a.), und gegen entsprechende Entscheidungen kann vor dem Europäischen Gerichtshof nicht geklagt werden (Art. III-282). Zudem steht die ESVP im Gegensatz zu Art. 87 a (2) des deutschen Grundgesetzes, der den Einsatz deutscher Streitkräfte nur für den Verteidigungsfall vorsieht.

Zum anderen wird mit der Verflechtung nationaler, europäischer und globaler Macht- und Profitinteressen eine neue Qualität des militärisch-industriell-politischen Komplexes auf europäischer Ebene geschaffen. Vielfältige Faktoren stabilisieren militärische Strukturen zumindest in der deutschen, aber auch in anderen europäischen Gesellschaften. Zu diesen Faktoren zählen:
  • die Konkurrenz der EU zu militärischen Ambitionen der USA,
  • der Einfluss der Rüstungslobby auf die Politik, einschließlich der Abhängigkeit politischer Parteien von Spenden der Wirtschaft, auch der Rüstungskonzerne,
  • die zunehmende Verflechtung innenpolitischer Sicherheitsmaßnahmen mit militärischen Ambitionen in den Bereichen Polizei, Verfassungsschutz und Militär - bei gleichzeitiger Einschränkung von Bürgerrechten,
  • feindselige Vorurteile, Abschottungs- und Festungsdenken gegenüber fremden Ethnien und Religionen, Asylbewerbern und politisch Verfolgten, Andersdenkenden und politischen Gegnern,
  • die weit verbreitete unkritische Einstellung gegenüber dem Militär,
  • die systematische Verschleierung und Umdeutung militärischer Gewaltstrukturen als Friedensmaßnahmen durch Politik und Wirtschaft,
  • der Abbau von Sozialstandards, die Beschränkung von Entwicklungshilfe, die Streichung von Subventionen für die Förderung der Friedensforschung zu Gunsten der Aufrüstung.
Um zu verhindern, dass sich die EU von einer friedensorientierten Zivil- hin zu einer weltweit operierenden Interventionsmacht wandelt, müssen die Demokratisierung der Entscheidungsprozesse, zivile gewaltfreie Konfliktregelungen sowie die Sozial- und Entwicklungspolitik gestärkt werden. Das bedeutet vor allem:
  • eine Vernetzung der Friedensbewegung mit Menschenrechts- und Organisationen der Globalisierungskritiker, verstärkte politische Partizipation und Kooperation mit Friedensforschungsinstituten,
  • Aufklärung über die Gefahren der Rüstung, über die Verflechtung von Rüstungsindustrie, Militär und Politik und über die Abhängigkeit politischer Parteien von der Rüstungsindustrie,
  • politische und juristische Schritte gegen Verletzungen der Bestimmungen der ESVP gegen internationales, europäisches und nationales Recht sowie für Änderungen bzw. gegen die ESVP in der EU-Verfassung,
  • politische Aktivitäten gegen Institutionen des militärisch-industriellen Komplexes wie das "Europäische Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten" (Art. I-40,3) und für zivile Friedenseinrichtungen auf europäischer Ebene.
Pax Christi will in der Friedensbewegung gewaltfreie Aktivitäten gegen alle Formen der Militarisierung, gegen den Abbau demokratischer Rechte und für die Förderung gewaltfreier Konfliktprävention und Konfliktregelung anstoßen und unterstützen. Dies ist im Sinne des christlichen Liebesgebotes und der universalen Gültigkeit der Menschenrechte.

Aus: Frankfurter Rundschau, 29. Juni 2004


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