Der gespaltene, unsanfte Kontinent
Die EU ist auf dem Weg zu einer Weltmacht - sagen Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf
Von Christian Klemm *
Schon mit seiner Kapitalismuskritik »Das Ende des Kapitalismus, so wie wir ihn kennen« deutete
Elmar Altvater die Abkehr von einer eher konsensorientierten Politikwissenschaft innerhalb der
Linken an -- was ihn zum Liebling der globalisierungskritischen Bewegung werden ließ. Nun legt er
gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Birgit Mahnkopf eine Analyse der europäischen
Imperialpolitik vor.
Europa sei ein »zerrissener und in Klassen gespaltener Kontinent«, dessen Integration
schwerwiegende Folgen für die Migrations- und Flüchtlingspolitik impliziere. Der europäische
Imperialismus Ende des 19. Jahrhunderts, den Lenin, Hilferding und Luxemburg auf so
unterschiedliche Weise erklärten, habe den Grundstock für die Unterentwicklung der heute
peripheren Staaten gelegt. Die Kolonisierung Lateinamerikas, Afrikas und Asiens durch die
verschiedenen Imperialmächte Europas machte die ursprüngliche Kapitalakkumulation, die Marx als
die Grundlage der kapitalistischen Ökonomie erkannte, erst möglich. Die von den Nazis praktizierte
Vernichtungspolitik und ihr Größenwahn von einer weltweiten Eroberung, so die Autoren, stelle den
Tiefpunkt dieses europäischen Imperialismus dar. Ihrer Meinung nach weise Europa mit seiner
Erklärung der universellen Menschenrechte, Gewaltenteilung und Religionsfreiheit aber durchaus
auch positive Charakteristika auf -- Ergebnis eines konfliktreichen Lernprozesses.
Die Ambivalenz europäischer Geschichte ist eine Fortführung der »Dialektik der Aufklärung«.
Adorno und Horkheimer hatten auf die Janusköpfigkeit Europas verwiesen: Modernität und Barbarei.
Altvater und Mahnkopf lösen dieses Interpretationsmodell aus dem ursprünglichen Kontext und
übertragen es auf den europäischen Integrationsprozess. Sie attestieren diesem viel neoliberalnegative
Integration. Unter einer negativen Integration wird der Abbau von Zollgrenzen und
Konvertibilitätsbeschränkungen sowie die Aufweichung festgelegter Wechselkurse der europäischen
Nationalstaaten untereinander verstanden. Ebenso nivelliere die negative Integration wichtige
Regelungen zur Betriebsverfassung und zur Mitbestimmung der Arbeitenden oder baue sie ganz ab.
Altvater und Mahnkopf fassen diesen Prozess mit einer Zunahme von Marktfreiheiten als Kontinuität
zum klassischen Handelskapitalismus des 16. und 17. Jahrhunderts zusammen. Merkmale des
heutigen Neomerkantilismus seien ein grenzenloser Warenaustausch, ein vermehrter
Personenverkehr und die stets zunehmende Kapitalbewegung innerhalb der EU. Nach Vorstellung
der theoretischen Vordenker führe diese Marktliberalität zu einer höheren Effizienz des
Wirtschaftens, zu vermehrtem Wirtschaftswachstum und zu mehr finanzieller Stabilität. Tatsächlich
aber sei das genaue Gegenteil Realität: Die neue Marktfreiheit beinhalte eine massive Erosion
sozialstaatlicher Elemente und betrachte die Menschen als Kostenfaktor, den es zu reduzieren gelte.
Eine Verelendung sei die logische Folge.
Als positive Integration definieren sie das Entstehen eines öffentlichen Raumes »mit gemeinsamer
öffentlicher Infrastruktur«. Beispiele seien u. a. ein öffentliches Gesundheits- und Bildungswesen.
Auch der Wegfall der Grenzkontrollen und das partielle Entstehen einer europäischen Identität
werden unter der Bezeichnung positive Integration gefasst. Altvater und Mahnkopf schlussfolgern:
»Die >positive Integration< durch gemeinsame Institutionen und europäische Politik wird mehr und
mehr durch die >negative Integration<, d. h. durch Liberalisierung von Märkten, Deregulierung der
politischen Regulation, Privatisierung öffentlichen Eigentums, Güter und Dienste ergänzt und z. T.
ersetzt.«
Die Erweiterung der EU, von Altvater und Mahnkopf m. E. irrtümlich als ein »sanfter Imperialismus«
interpretiert, stütze sich auf ein Zusammenspiel von Geoökonomie und Geopolitik. Beides gehe
»eine Symbiose der territorialen Ausdehnung von Kapitalexport, Arbeitsmigration und politischer
Regulation« ein. Der Begriff Geoökonomie meint hier die Dominanz neoliberaler Grundsätze, deren
historischen Bildungsprozess die Autoren im europäischen Kontext beschreiben.
Durch den Zusammenbruch der sozialistischen Staatengemeinschaft sind weitere Beschränkungen
für die Kapitalakkumulation gefallen. Stoße diese aber dennoch auf Hindernisse, so ist der »sanfte
Imperialismus« auf die Geopolitik angewiesen. Dabei bereitet die Union politisch das Feld für
ökonomische Akteure, »um ihnen Gelegenheit zu Anlagen mit hohen Renditen zu verschaffen.«
Praktisch geschieht das durch »Handelsverträge, unterstützende Geld- und Finanzpolitik und durch
Förderung der Finanzplätze in der Union«, so die Einschätzung der Autoren. Gemeint ist also eine
politische Beihilfe, um erwirtschafteten Kapitalüberschüssen »freie Bahn« für weitere Investitionen
zu gewähren. Diesen Prozess, den David Harvey »Akkumulation durch Enteignung« nannte,
impliziere die Abschaffung sozialer Errungenschaften der Lohnabhängigen genauso wie die
Privatisierung öffentlichen Eigentums.
Das Neue am EU-Imperialismus ist nach Mahnkopf und Altvater ein Gemisch aus geoökonomischen
und geopolitischen Diskursen, was der US-Expansion zunehmend Konkurrenz mache. Sie sind aber
ebenfalls weder »sanft« noch »human«, sondern ähnlichen Charakters wie die US-Kriegspolitik. Die
Kriegsbeteiligungen der EU in Jugoslawien, Afghanistan, Irak zeigen das.
Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf: Konkurrenz für das Empire. Die Zukunft der Europäischen Union in der globalisierten Welt. Westfälisches Dampfboot, Münster 2007. 304 S., br., 24,90; ISBN: 978-3-89691-652-5
* Aus: Neues Deutschland, 19. April 2008
Zum selben Thema:Die EU eine imperiale Großmacht? Von Birgit Mahnkopf und Elmar Altvater.
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