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Alternative Charta für ein anderes Europa

Gespräch mit Elisabeth Gauthier, Frankreich, zum EU-Verfassungsprozess*

ND: Sie haben mit Blick auf das nächste Europäische Sozialforum in Athen zusammen mit anderen die Vorlage für eine Europa-Charta erarbeitet und fordern darin nicht nur eine vollständige Rücknahme des neoliberalen EU-Verfassungsentwurfs, sondern eine grundsätzliche Veränderung der EU. Wie ist diese Vorlage zustande gekommen?

Gauthier: In Folge der Kampagne in Frankreich für ein antiliberales Nein zur EU-Verfassung, verstärkt durch die niederländische Abstimmung, gab es die Frage, welches Europa wir denn wollen. Wir hatten die ganze Kampagne um eine These aufgebaut: Wir sind gegen diesen neoliberalen Verfassungsvertrag, weil wir für ein anderes Europa sind. Die nächsten Schritte lagen also auf der Hand. Außerdem gab es viele Anfragen aus anderen europäischen Ländern, was wir denn nun weiter tun wollen nach dem Scheitern des Referendums in Frankreich. Wir haben eine Konferenz in Paris gemacht, da haben sich Vertreterinnen von sozialen Bewegungen, Gewerkschafter, politische Akteure aus ganz Europa getroffen, die sich darin einig waren, dass man nun verstärkt für eine Alternative in Europa arbeiten muss.

Mit welchen Zielen?

Damit wollen wir zum Beispiel auch den Widerstand stärken, der sich jetzt gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie artikuliert. Strategisch wollen wir in mehreren Schritten vorgehen. Zuerst sollen 20 Eckpunkte entwickelt werden, die die wesentlichen Prinzipien eines anderen Europa skizzieren. Sie sollen vor allem zwei Dinge deutlich machen: Erstens dass wir in der Lage sind, uns auf solche Prinzipien zu einigen, dass das Ganze nicht nur eine französische Debatte ist. Zweitens, dass es – dies ist angesichts der Krise der EU besonders bedeutend – auch möglich ist, ein anderes Europa zu konstruieren.

Hierzulande wurde das Nein in Frankreich eher als eine Ablehnung der EU an sich rezipiert. Hat diese Art Propaganda im europäischen Ausland Spuren hinterlassen in den Köpfen der Menschen?

Natürlich kommen sehr viele Fragen. Aber da es in vielen europäischen Ländern Kampagnen zur EU-Verfassung gab, haben einige Leute schon mitbekommen, dass die Auseinandersetzung in Frankreich nicht dieser Karikatur entsprach. 70 Prozent der Lohnabhängigen haben mit Nein gestimmt, 80 Prozent der Arbeiter, mehr als 70 Prozent der Linken. Das macht schon klar, dass das im wesentlichen kein xenophobisches und souveränistisches Nein war.

Sondern?

Die Dynamik war diesmal ganz klar und anderes als beim französischen Referendum zu den Maastrichter Verträgen. In den Ländern, in denen Referenden durchgesetzt werden konnten, in diesen Ländern hat sich die öffentliche Meinung relativ schnell gedreht und es fand eine kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten der Verfassung statt. Aber auch in Deutschland hat die französische Debatte Spuren hinterlassen und einige Leute dazu gebracht, sich mit der Verfassung kritisch zu beschäftigen. In Holland hat anfangs nur eine Minderheit die EU-Verfassung abgelehnt. Doch als darüber öffentlich diskutiert wurde, waren die Nein-Sager bald in der Mehrheit. Man kann also sagen, dort, wo ein Referendum stattgefunden hat, haben viele das Ausmaß der Konfrontation verstanden. Also brauchen wir mehr Referenden und mehr Demokratie in Europa.

Viele schauen derzeit wegen des gescheiterten Referendums und angesichts der aktuellen sozialen Kämpfe nach Frankreich. Hat es, zumindest was die Ebene der sozialen Bewegungen angeht, eine Vorreiterrolle in der EU?

Die soziale Auseinandersetzung ist in allen europäischen Ländern härter geworden. Auch in Deutschland kann man von einer neuen Wut sprechen – ich beziehe mich auf einen Dokumentarfilm, der hier gedreht worden ist. Auch die deutschen Wahlergebnisse sind ein Ausdruck dafür, dass hier etwas passiert und die Menschen nach Wegen suchen, ihre Interessen zu artikulieren. In Frankreich wird die neoliberale Politik jetzt sehr brutal verfolgt. Sie wird begleitet von Diskriminierungen ganzer Bevölkerungsgruppen. Der Konflikt schaukelt sich auf, es gibt auch eine Kombination verschiedener Proteste, zum Beispiel in den Vorstädten. Dort herrscht eine doppelte Diskriminierung, die zu diesen Zornausbrüchen führt: Das ist die soziale Diskriminierung für alle, die dort leben, und die spezielle, aus der kolonialistischen Vergangenheit kommende Diskriminierung einer ganzen Jugendgeneration, die ja französisch ist und ihren Platz einfordert in der Gesellschaft.

Und wie nun weiter?

Am 4. Oktober sind eine Million Menschen gegen die soziale Kahlschlagpolitik der Regierung auf die Straße gegangen, ständig finden Kämpfe in Betrieben statt, und trotzdem zieht die Regierung ihre Politik durch. Der Konflikt spitzt sich so immer weiter zu. Wir stehen jetzt vor einer entscheidenden Situation: Entweder kommt es zu gewagten politischen Abenteuern der Rechten, die heute autoritäre Lösungen vorschlagen, oder die Linken und sozialen Bewegungen entwickeln eine neue Dynamik, die einen Ausweg aus der Krise aufzeigt.

* Elisabeth Gauthier arbeitet in der Vorbereitungsgruppe für das Europäische Sozialforum in Athen mit. Die aus Österreich stammende Pariserin ist Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs. Mit ihr sprach für ND Gerhard Klas.

Aus: Neues Deutschland, 9. Dezember 2005



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