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Hilfe ohne Bevormundung

Die Frankfurter Organisation medico international besteht seit 40 Jahren

Von Charlotte Schmitz, Frankfurt am Main *

Keine Gala, kein Buffet - die nicht mehr ganz kleine Hilfsorganisation medico international feierte am Wochenende in Frankfurt ihr 40-jähriges Jubiläum ohne jeden Pomp. Stattdessen diskutierte sie auf einer Tagung die Frage, wie Solidarität in Zeiten des »Monsterkapitalismus« aussieht (Einladungstext siehe Kasten!).

Medico international ist ein Kind der 68er Bewegung, entstanden aus der Empörung über den Krieg in Vietnam und den Hunger in Biafra. Heute ist die Organisation etabliert und hat es trotzdem vermieden, in die Falle des Hilfsbusiness zu tappen. Nach wie vor verzichten die Frankfurter auf einfache Erklärungen und muten ihren Spendern zu, sich mit der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse auseinanderzusetzen. »Wir verfolgen eine Doppelstrategie«, erklärte medico-Geschäftsführer Thomas Gebauer: »Zum einen helfen wir Menschen in Not, zum anderen setzen wir uns dafür ein, die Verhältnisse zu überwinden, die zu dieser Not führten.«

Sozialismus oder Barbarei

Wie die Verhältnisse in einem »entfesselten Kapitalismus« verändert werden können, berieten medico-Unterstützer bei der Jubiläumstagung in Frankfurt. Mehrfach wurde dabei Rosa Luxemburg zitiert, es gebe keine Alternative außer »Sozialismus oder Barbarei«. Wie aber ein zeitgemäßer, nicht auf den Staat zentrierter Sozialismus heute aussehen kann, darüber bestand keine Einigkeit. Die indische Ökofeministin Vandana Shiva, Trägerin des alternativen Nobelpreises, rief dazu auf, Ängste zu überwinden und sich der »Gier der Unternehmen« entschlossen entgegenzustellen. Die Basisbewegungen in Indien hätten gezeigt, dass sozialer Fortschritt möglich sei, wenn sich die Menschen auf ihre Stärken besinnen. So sei es einer kleinen Fraueninitiative im indischen Kerala gelungen, die Ansiedlung eines Coca-Cola-Betriebs zu verhindern, die den Zugang der Bevölkerung zu Trinkwasser erschwert hätte. Shiva hob hervor, dass sich weltweit Menschen gegen die Privatisierung öffentlicher Güter stellen, angefangen von Wasser über Strom bis hin zu Verkehrsmitteln.

Ein Bündnis zwischen solchen Einzelinitiativen und den globalen »Dissidenten«, den kritischen Intellektuellen, beschwor Sozialhistoriker Karl Heinz Roth. Doch in Frankfurt waren weniger Handlungsanleitungen als Reflexion gefragt. Dabei war auch medico international mit einem naiven Verständnis von Hilfe gestartet. 1968, als Bilder von Hungernden aus dem nigerianischen Biafra die Welt erschütterten, hatten einige Frankfurter Studenten mit dem Sammeln von Arzneimustern und Medikamenten begonnen. Bald merkten die »linken Idealisten«, als die sie in der bürgerlichen Presse diffamiert wurden, dass diese Medikamente vor Ort häufig unnütz waren. Heute mischt medico in der Debatte um das Recht auf Zugang zu Medikamenten und die patentfreie Herstellung etwa von Anti-Aids-Medikamenten kräftig mit. Zu den größten Erfolgen der Spendenorganisation gehört es, das weltweite Verbot von Landminen mit auf den Weg gebracht zu haben. Dafür wurde die Organisation als Mitglied der »Kampagne gegen Landminen« 1997 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Die Frankfurter bewegen heute einen Etat von rund zehn Millionen Euro jährlich. Schwerpunkte der Arbeit liegen auf der Unterstützung von Selbstorganisation, auf psychosozialer Arbeit und dem Austausch zwischen Ländern des Südens. So fördert medico etwa ein Zentrum in Südafrika, das Gewaltopfern des Apartheid-Systems beiseite steht. Dabei tauschen sich die südafrikanischen Psychotherapeuten mit Kollegen etwa aus Kolumbien oder Ruanda aus. Ein Schwerpunkt der Arbeit ist auch die Unterstützung von Vernetzung - ein für Hilfsorganisationen schwieriges Thema, weil die Ergebnisse der Arbeit weniger leicht vorzeigbar sind als etwa der Bau von Schulen oder Krankenhäusern. Geschäftsführer Thomas Gebauer hob in Frankfurt den Anspruch hervor, die Würde der Unterstützten zu respektieren. Internationale Hilfe habe von der Sozialarbeit zu lernen, wie man Solidarität üben könne, ohne ausschließlich als Reparaturbetrieb des Systems aufzutreten. »Die solidarische Hilfe ist immer auch janusköpfig und wird ausgenutzt.« »Kritische Selbstreflexion« zeichne Medico international über die Jahre hinweg vor anderen Nothilfeorganisationen aus, lobte ein Unterstützer: So seien »möglichst wenig Fehler« gemacht worden.

Unter den Tagungsteilnehmern - viele von ihnen langjährige Spender - dominierten Mediziner und Angehörige sozialer Berufe. Sie gaben sich mit Schwarz-Weiß-Erklärungen nicht zufrieden und forderten mehrmals ein, auch die Widersprüche des herrschenden Systems wahrzunehmen, anstatt es global zu verdammen. Medico international setzt sich inzwischen damit auseinander, dass heute der »Süden im Norden« und der »Norden im Süden« angekommen ist. Anstelle eines Nord-Süd-Gefälles in Sachen Reichtum verorten linke Theoretiker weltweite Wohlstandsinseln in einem wachsenden Meer von Armut. Neues Handlungsfeld Migration

»Not und Abhängigkeit nachhaltig zu überwinden erfordert politisches Handeln, nicht Hilfe«, formulierte Thomas Gebauer. Aus der Analyse der weltweiten Verflechtung leitet Medico international ein neues Handlungsfeld ab, nämlich die Unterstützung für Migranten. Bei einer ersten Reise nach Senegal, Mali und Mauretanien informierten sich medico-Mitarbeiter über die Situation von Migranten, die aus Europa abgeschoben wurden. »Migration ist ein Indikator für die Ungerechtigkeit der Globalisierung«, betonte medico-Mitarbeiter Martin Glasenapp, der an der Reise teilgenommen hatte. »Der Wunsch, nach Europa einzuwandern, entspricht der Forderung nach einem Recht auf Teilhabe.«

* Aus: Neues Deutschland, 3. Juni 2008

Konferenz "Solidarität - heute!" am 30. und 31. Mai 2008 in Frankfurt am Main

„Seien wir Realisten – Fordern wir das Unmögliche!“ – Angesichts der katastrophalen Bilanz des global entfesselten Kapitalismus wirkt die Parole aus dem Pariser Mai 68 zeitgemäßer denn je. Die Zunahme globaler Katastrophen, die voranschreitende Zerstörung von Lebensgrundlagen, der Hunger, der Klimawandel, die Migration, die wachsende Gewalt, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen etc., all das verdeutlicht, dass die Entwicklung grundsätzlich „daneben zu gehen droht“. Angesichts des heute existierenden Zerstörungspotentials, darf es weder ein selbstzufriedenes „Weiter so!“ geben, noch reicht es, sich mit pragmatischen Anpassungen zu begnügen, die letztlich nur die Katastrophe auf den modernsten Stand anheben würden. Es ist notwendig die Ursachen der Katastrophen zu benennen und zu überwinden.

Die Konferenz „Solidarität heute“ zielt in der Tradition von 1968, dem Gründungsjahr von medico international, auf die Rückgewinnung eines politischen Begriffs von Hilfe und Solidarität. Es geht um die Neubestimmung von Öffentlichkeit und Solidarität im transnationalen Raum — als Voraussetzung für die Überwindung von Not und für die Verwirklichung von sozialen Rechten, die heute nur noch global gelingen kann.

Es ist an der Zeit, die soziale Frage global zu stellen.

Website von medico international; www.medico.de




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