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"Es geht nur mit den Männern"

15 Jahre nach der Konferenz von Kairo halten sich die Fortschritte für Frauen in Grenzen

Von Kai Walter *

Jede Minute stirbt auf der Erde eine Frau an den Folgen einer Geburt. In vielen Ländern haben Frauen keinen Zugang zu medizinischer Vor- und Nachsorge und Familienplanung. Und das, obwohl bereits 1994 auf der Internationalen Weltbevölkerungskonferenz in Kairo ein umfangreiches Aktionsprogramm beschlossen wurde.

»Es ist eine Ehre und eine Freude für mich als alter Mann, hier eingeladen zu sein«, sagte Fred Sai aus Ghana, der als einziger Mann auf dem ersten Podium saß. Um den Stand der Dinge in Sachen sexueller und reproduktiver Gesundheit zu diskutieren und die aktuelle Bedeutung für die Entwicklung zu bekräftigen, hatten Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul und die Exekutivdirektorin des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA), Thoraya Ahmed Obaid, ein Forum für Nichtregierungsorganisationen angeregt. Der Ghanaer Sai drückte dort seine Sorge um die geringe Präsenz von Männern beim Forum und in der Bewegung aus. Es freue ihn, die vielen engagierten Frauen aus aller Welt zu sehen. Als Teilnehmer der Kairoer Bevölkerungskonferenz 1994 und jahrelanger Kämpfer für die Umsetzung des Aktionsprogramms sehe er jedoch ein großes Problem. Besonders in den afrikanischen Ländern gebe es zu viele, meist männliche Entscheidungsträger, welche die Botschaft von Kairo noch immer nicht hören oder verstehen wollen.

Damals wie heute sind es vor allem Nichtregierungsorganisationen (NRO), die für Frauenrechte und Verbesserungen der reproduktiven Gesundheit kämpfen. 15 Jahre nach der Kairoer Konferenz trafen sich in Berlin mehr als 400 Teilnehmer aus 131 Ländern zu einem Mammutprogramm von Workshops und Plenarsitzungen. Reproduktive Gesundheit nennt sich der Teil des Gesundheitswesens, der sich mit der medizinischen Versorgung rund um die Fortpflanzung des Menschen, und somit vor allem mit der Gesundheit von Frauen, beschäftigt. In vielen Ländern haben Frauen keine Rechte oder keinen Zugang zu medizinischer Vor- und Nachsorge und Familienplanung. Gründe gibt es viele: schlechte Gesetze, Traditionen, Religionen, fehlende medizinische Einrichtungen oder mangelhafte Bildung.

40 Millionen Abtreibungen werden jährlich durchgeführt, 20 Millionen davon unter unsicheren Bedingungen, weil Gesetze eine legale Durchführung untersagen. Viel zu viele Frauen sterben bei der Geburt, nach der Geburt oder leiden ihr Leben lang an den Folgen zu häufiger und problematischer Schwangerschaften. Sie leiden und sterben, weil sie nicht selbst entscheiden, ob, wann und wie häufig sie gebären. Und es sind überwiegend Männer, die für schlechte Gesetze und schlechte Bedingungen in der medizinischen Versorgung verantwortlich sind.

Die Fortpflanzung steht im Spannungsfeld zwischen Persönlichem und Öffentlichem. Die gesellschaftlichen Diskussionen und politischen Entscheidungen werden in vielen Ländern ohne die Frauen erledigt. Die Frauen tragen die Kinder aus und die Männer die Politik. »In Kairo und danach begannen wir, offener über Sex und Sexualität zu sprechen, doch viele fühlen sich bis heute nicht wohl dabei«, sagte Fred Sai. Der offene Dialog über Sexualität sei gar als Grund für Ehebruch und sexuelle Auswüchse diskreditiert worden.

Bei der Kairoer Konferenz 1994 wurde die Bedeutung des Themas sexuelle und reproduktive Gesundheit erstmals auf hoher internationaler Ebene besprochen. In den Millenniumsentwicklungszielen (MDG) jedoch spiegelt sich reproduktive Gesundheit nur zwischen den Zeilen und als Nachtrag wider. Ein wesentlicher Grund für Ausreden und fehlende Umsetzungsfreude des Kairoer Aktionsprogramms. »Das Millenniumsprojekt wurde der Fokus, und unser Thema geriet in Vergessenheit«, sagte Jacqueline Sharp, Präsidentin der Internationalen Vereinigung geplanter Elternschaft. Durch die verstärkte Hinwendung zur ungebundenen Budgethilfe in der Entwicklungsfinanzierung trage die Gebergemeinschaft indirekt zur Vernachlässigung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit in nationalen Strategien der Entwicklungsländer bei.

Was in kurzer Zeit möglich war, um die Finanz- und Wirtschaftsmärkte zu stabilisieren, sollte laut Wieczorek-Zeul auch möglich sein, um die Ziele in der Entwicklungszusammenarbeit zu erreichen. Obwohl Deutschland in den letzten Jahren die Aufwendungen für den Bereich reproduktive Gesundheit erhöht habe, mahnte sie in einem persönlichen Aufruf eine Erhöhung der Mittel an. Wenigstens ein Prozent der derzeit in Industriestaaten fließenden Konjunkturmittel sollten für Entwicklungshilfe bereitgestellt werden.

»Es würde die Welt nur 23 Milliarden Dollar kosten, Frauen vor ungewollten Schwangerschaften zu bewahren und dafür zu sorgen, dass keine Frau bei der Geburt ihres Kindes stirbt«, sagte Thoraya Ahmed Obaid. Diese Summe entspräche den globalen Rüstungsausgaben von nicht einmal zehn Tagen. Obaid sieht Investitionen in die Gesundheit von Frauen als kluge, ökonomische und nachhaltige Investitionen. Studien zum volkswirtschaftlichen Schaden durch die Vernachlässigung der reproduktiven Gesundheit und der Familienplanung stützen diese Einschätzung.

»Die Zukunft gehört den engagierten Frauen«, sagte Heidemarie Wieczorek-Zeul. In einem Workshop zum Thema sexuelle Gewalt betonten die Referentinnen aus Gambia und Uganda jedoch die wichtige Rolle der Männer. Diese dürften nicht nur als Täter oder schlechte Politiker gesehen werden. Männer müssten stärker in die Präventions- und Lobbyarbeit einbezogen werden, um ihre Geschlechtsgenossen zu überzeugen.

Als Ergebnis des Forums liegt der »Berlin Call to Action« vor, der Forderungen zum Handeln ausdrückt. Betont wird darin die notwendige Einbeziehung und Beachtung der Jugend, um deren Zukunft es geht. Neben der Forderung nach einer formalisierten Integration der Zivilgesellschaft in Entscheidungsprozesse werden verlässliche Zusagen zur Finanzierung der reproduktiven Gesundheit durch Regierungen und Geber gefordert.

Fred Sai gab den NRO-Vertretern eine Anleitung zu ihrem Handeln mit auf den Weg, die er aus seiner Kindheit erinnerte: »Verlange, was du willst! Nimm, was du bekommst! Nutze was du bekommen hast, um zu bekommen was du willst.«

* Aus: Neues Deutschland, 15. September 2009

D o k u m e n t i e r t

"Berliner Appell"

Weltweites NRO-Forum Kairo+15 vom 2. bis 4. September in Berlin
Berliner Appell: Kairo lebt
verfasst vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)


15 Jahre nach der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo ziehen UNFPA und BMZ mit Nichtregierungsorganisationen aus über 120 Ländern vom 2. bis 4. September in Berlin über das Erreichte Bilanz und suchen Antworten auf neue Herausforderungen wie den Klimawandel und die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise. Vor allem wollen sie sich auf eine Vision und Strategie einigen, um den Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheit weltweit zu verwirklichen und so elementar zu nachhaltiger sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung, zur Beseitigung der Armut und zu sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit beizutragen.

Deshalb richten wir uns mit dem "Berliner Appell" an die Vertreterinnen und Vertreter von Regierungen im Norden wie im Süden, der Vereinten Nationen, der Weltbank und regionaler Entwicklungsbanken, der Religionsgemeinschaften, der Parlamente, der Nichtregierungsorganisationen, der Unternehmen und Gewerkschaften.
  1. Wir fordern, die Selbstbestimmung und die Verwirklichung der Menschenrechte der Frauen als zentralen Schlüssel für nachhaltige Fortschritte in der Bevölkerungsentwicklung und Gesundheitsversorgung zu begreifen und zu fördern. Alle Formen der Gewalt gegen Frauen, insbesondere die weibliche Genitalverstümmelung und Vergewaltigung, müssen entschlossen bekämpft werden.
  2. Wir fordern, den universellen Zugang zu Informationen und Diensten sexueller und reproduktiver Gesundheit bis spätestens 2015 zu verwirklichen. Hierzu gehört die Versorgung mit modernen Methoden der Familienplanung, finanzierbare qualitativ sichere Medikamente wie auch sichere Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs in Übereinstimmung mit international vereinbarten Verpflichtungen und Menschenrechtsinstrumenten.
  3. Wir fordern, gemäß den Zielen der "Universal Access Initiative" umfassenden Zugang zu Maßnahmen zur Vorbeugung von HIV und Aids sowie zur Behandlung und Pflege von Menschen, die mit HIV leben, zu erreichen. Hierzu gehört auch die Förderung der Verzahnung von Konzepten, Programmen und Dienstleistungen im Bereich HIV/Aids und sexuelle und reproduktive Gesundheit.
  4. Wir fordern, jede Form von Diskriminierung beim Zugang zu oder der Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen zu beenden. Hierzu zählen Diskriminierungen aufgrund von Alter, Geschlecht, Herkunft und ethnischer Zugehörigkeit, religiöser Überzeugung, Behinderung, wirtschaftlichem und sozialem Stand wie auch der sexuellen Orientierung.
  5. Wir fordern, den Zugang zu Gesundheitsdiensten frei von finanziellen Risiken zu gestalten. Die dafür benötigten sozialen Sicherungssysteme sollten insbesondere auch benachteiligten Bevölkerungsgruppen die Nutzung dieser Dienste ermöglichen. Nationale Regierungen müssen dabei unterstützt werden, ihre finanziellen Möglichkeiten für die soziale Sicherung armer Bevölkerungsgruppen zu erweitern.
  6. Wir unterstützen den "Global Consensus for Maternal and Newborn Health" und fordern, das politische und finanzielle Engagement für Kinder- und Müttergesundheit zu intensivieren, um auch diese Millenniumsentwicklungsziele zu erreichen.
  7. Wir fordern gestärkte Partnerschaften mit der Zivilgesellschaft bei der Bereitstellung von Gesundheitsdiensten, Aufklärung und Informationen insbesondere für die ärmsten und am stärksten gefährdeten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen.
  8. Wir fordern gerade in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise einen besonderen Schutz der Ärmsten und Schwächsten. Die ODA-Verpflichtungen müssen eingehalten werden. Die Konjunkturprogramme der Geberländer sollten vor diesem Hintergrund 1 % der Mittel für entwicklungspolitische Maßnahmen vorsehen.
  9. Wir fordern, der Bevölkerungsdynamik dringend mehr Aufmerksamkeit zu widmen; das Bevölkerungswachstum muss auch als wichtiger Faktor bei Entwicklungen wie dem Klimawandel oder der globalen Ernährungskrise begriffen werden.
  10. Wir fordern, die Millenniumsentwicklungsziele über das Jahr 2015 hinaus weiterzuentwickeln und sie noch stärker mit den Menschenrechten zu verzahnen.
Quelle: Website des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ); www.bmz.de




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