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Niebel im Blindflug

Organisationen kritisieren fehlende Strategien deutscher Entwicklungspolitik

Von Fabian Lambeck *

Welthungerhilfe und das Kinderhilfswerk terre des hommes stellen der deutschen Entwicklungshilfepolitik ein vernichtendes Zeugnis aus. Die Konzepte seien isoliert und würden den neuen globalen Herausforderungen nicht gerecht, heißt es in einer am Dienstag vorgestellten Studie der beiden Organisationen.

Ist Deutschlands Entwicklungshilfe noch zeitgemäß? Die am Dienstag veröffentlichte Studie von Welthungerhilfe und terre des hommes lässt da ernste Zweifel aufkommen. Was fehle, sei »ein stimmiges Gesamtkonzept, das den neuen globalen Herausforderungen gerecht wird«, heißt es dort. Statt nationalstaatlicher Alleingänge bräuchte es globale Kooperationen - etwa mit den aufstrebenden Schwellenländern China, Brasilien oder Indien. Entwicklungsziele für einzelne Länder seien »Schnee von gestern«, betonte die Vorsitzende von terre des hommes, Danuta Sacher, bei der Vorstellung der Studie »Die Wirklichkeit der Entwicklungspolitik«.

Die zunehmenden Konflikte um knapper werdende Rohstoffe bereiten den Autoren ebenso Sorge wie die fragwürdige Praxis der Bundesregierung, Entwicklungshilfe auf Pump anzubieten. Dies treibe die armen Länder tiefer in die Verschuldung. Zudem steige so die Gefahr, dass sich die Zusammenarbeit auf zahlungskräftige, also kreditwürdige Länder konzentriere, erklärte Sacher.

Harsche Kritik erntete Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) auch für die von ihm forcierte Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft. Dabei würden die »Zielkonflikte« zwischen Privatwirtschaft und Entwicklungspolitik ausgeblendet.

Anstatt sich auf Infrastrukturprojekte zu konzentrieren, sollte das Bundesministerium die Zivilgesellschaften vor Ort stärken, empfiehlt der Bericht. Zudem bemängeln die Entwicklungshelfer, dass die ressortübergreifende Kooperation zwischen Niebels Ressort und den Ministerien für Finanzen, Wirtschaft oder Umwelt nicht richtig funktioniere.

Minister Niebel reagierte umgehend, vermied es aber, die strittigen Punkte des Berichtes anzusprechen. Stattdessen verteidigte er sich gegen Vorwürfe, die so gar nicht erhoben worden waren: »Mitnichten haben wir die Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit gekürzt«, ließ Niebel verlauten. So habe man den Etat das dritte Mal in Folge steigern können und investiere mehr Mittel als je zuvor. Das habe ihm die OECD gerade erst bescheinigt, so Niebel. Dabei kritisiert die Organisation regelmäßig das geringe Engagement Deutschlands.

Tatsächlich landet die Bundesregierung unter den reichen Geberländern nur auf Rang vier: Hinter den USA, Großbritannien und Frankreich. Zudem hat die Welthungerhilfe 2011 errechnet, dass die Ausgaben für die Entwicklungshilfe im Verhältnis zur Wirtschaftskraft mit 0,38 Prozent geringer waren als im Gründungsjahr von Niebels Ministerium 1961. Angesichts dieser Zahlen darf bezweifelt werden, dass die Bundesregierung ihr Versprechen aus dem Jahre 2005 einhält, wonach sie bis 2015 mindestens 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe zur Verfügung stellt.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 18. April 2012

Hier geht es zum Bericht:

20. Bericht zur Wirklichkeit der Entwicklungshilfe [externer Link]
Herausgeber: terre des hommes und Welthungerhilfe, 16. April 2012

Presseerklärung zur Vorlage des Berichts:

Welthungerhilfe und terre des hommes: Kohärenz und neue Entwicklungsziele gefordert!

(Bonn/Osnabrück, 17.04.2012) Die Hilfswerke terre des hommes und Welthungerhilfe fordern von der Bundesregierung ein stimmiges Gesamtkonzept der Entwicklungspolitik, das den neuen globalen Anforderungen gerecht wird. Das grundsätzliche Manko: während die globalen Herausforderungen immer größer werden und sich Entwicklungsländer stärker als je zuvor in Arm und Reich spalten, reagiert die deutsche Entwicklungspolitik darauf mit einer Serie von isolierten Konzepten, die bisher den neuen Herausforderungen nicht gerecht werden.

Deutsche Entwicklungspolitik kann aber nur dann erfolgreich zu globaler Strukturpolitik beitragen, wenn alle zuständigen Ressorts ihr Vorgehen intensiver miteinander abstimmen und ein kohärentes Konzept zur nachhaltigen Entwicklung auf den Weg bringen und für dessen konsequente Umsetzung sorgen. Der Bundestag sollte vor diesem Hintergrund eine Entschließung zur Entwicklungspolitik verabschieden, die die Menschenrechte und die Prinzipien internationaler Zusammenarbeit als Grundwerte deutscher Globalpolitik bestätigt.

Dazu gehört auch, dass die Interessenskonflikte innerhalb der verschiedenen Politikbereiche und Ministerien überwunden werden. „Vom BMZ verabschiedete Leitlinien wie z.B. zu den Menschenrechten sollten nicht nur für einzelne Projekte sondern auch ressortübergreifend Gültigkeit haben. Nur dann wird es eine kohärente Entwicklungspolitik geben, die die beabsichtigten Wirkungen erzielt“, fordert Wolfgang Jamann, Generalsekretär der Welthungerhilfe.

„Die Neuausrichtung der Entwicklungspolitik erfordert aber auch neue Entwicklungsziele, die auf die globalen Veränderungen und Herausforderungen besser reagieren, als es die bisherigen Millenniumsentwicklungsziele tun“, erklärt Danuta Sacher, Vorstandsvorsitzende von terre des hommes. „Sie müssen auf globale Nachhaltigkeit zielen und für alle Länder verbindlich sein und sie müssen sich an den Lebenschancen der benachteiligten Bevölkerungsgruppen orientieren, nicht an nationalen Durchschnittswerten wie dem Pro-Kopf-Verdienst.“



Stellungnahme von Heike Hänsel

Entwicklungszusammenarbeit neu ausrichten

Pressemitteilung, 17.04.2012

"Die Bundesregierung instrumentalisiert die deutsche Entwicklungszusammenarbeit (EZ) immer offener für wirtschaftliche und militärische Ziele", so Heike Hänsel, entwicklungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, anlässlich der Vorstellung des 20. Berichts zur ‚Wirklichkeit der deutschen Entwicklungspolitik‘ durch die Welthungerhilfe und terre des hommes. Hänsel weiter:

„Privatisierung und Liberalisierung, sogenannte öffentlich-private Partnerschaften, "innovative" Kredit-Mischfinanzierung zeigen, dass die Bundesregierung nichts aus der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise gelernt hat. Sie will weiterhin ihre neoliberale Politik in alle Welt, insbesondere in die Partnerländer im Süden exportieren. Sie unterwirft die staatliche Zusammenarbeit dem freien Markt, um deutschen Unternehmen Absatzmärkte, Investitionsfelder und den Zugriff auf Ressourcen zu erschließen.

Die Fraktion DIE LINKE fordert eine Neuausrichtung der deutschen EZ. Das heißt: Solidarische Wirtschaftsbeziehungen mit den Ländern des Südens statt weltweiten Freihandel umsetzen. Nahrungsmittelspekulation und Landraub beenden, Armut und Hunger weltweit bekämpfen, das 0,7-Prozent-Ziel gesetzlich festschreiben und eine Finanztransaktionssteuer zur Entwicklungsfinanzierung einführen sowie eine gerechte und entwicklungsförderliche Rohstoffpolitik auch im Sinne des globalen Klimaschutzes umsetzen. Sie muss Entwicklungspolitik an zivile Konfliktprävention, Völkerrecht und Menschenrechte binden: für eine aktive Friedenspolitik statt militärischer Rohstoff- und Wohlstandssicherung."


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