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Marine in Personalnot – Minenjagdboot zur Nachwuchsgewinnung

Ein Beitrag von Charlotte Horn in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderator):
Die Bundeswehr hat erhebliche Nachwuchssorgen – weniger bei den Offizieren, vielmehr bei den Unteroffizieren und vor allem bei den Mannschaften - also Posten, die früher einmal mit Wehrpflichtigen besetzt wurden. Besonders betroffen ist die Marine. Bei der kleinsten Teilstreitkraft sind zahlreiche Stellen unbesetzt – vor allem eine Folge der Aussetzung der Wehrpflicht. Mittlerweile hat die Marine eine Personaloffensive gestartet. Und hierzu gehört, dass junge Leuten den Marine-Alltag kennenlernen – an Bord des Minenjagdbootes HERTEN. Doch funktioniert diese Art der Nachwuchswerbung? Charlotte Horn hat junge Männer und Frauen einen Tag lang begleitet:


Manuskript Charlotte Horn

Leichter Regen nieselt den 21 jungen Männern und Frauen ins Gesicht. Als Teilnehmer des Schnupperkurses der Marine stehen sie an diesem Morgen auf dem Oberdeck des Minenjagdboots HERTEN. Gegen die Kälte haben sich Einige die Kapuze der olivgrünen Bundeswehr-Parka übergezogen. Oberbootsmann Sven Hannoschöck, an Bord für die Antriebstechnik zuständig, weist die Teilnehmer ein:

O-Ton Hannoschöck
„Gerade hier oben im Außenbereich: bitte auf euch aufpassen. Da gibt’s nen ganz tollen Marinespruch: eine Hand fürs Schiff, die andere Hand für euch selber.“

Um kurz nach halb neun legt die HERTEN von der Mole im Tirpitzhafen ab.

O-Ton Hannoschöck
„Wir sind ein Minenjagdboot. Normalerweise fahren wir ganz, ganz langsam ein Seegebiet ab, um Seewege freizuräumen. Seeraumüberwachung zu machen… Gut, wir fangen gleich an mit der Brücke. Wenn ihr Fragen habt: haut es raus... Wie gesagt - ist alles für euch!“

In kleinen Gruppen führen Hannoschöck und weitere Mitglieder der Besatzung die Teilnehmer durch das Minenjagdboot. 54 Meter lang, 9 Meter breit bei einem Tiefgang von fast 3 Metern.

Auf der HERTEN sind heute 15 junge Männer und 6 junge Frauen dabei - aus ganz Deutschland sind sie nach Kiel gekommen. Die meisten kennen jemanden, der bei der Bundeswehr ist, und sind neugierig auf die Marine - so wie Marisol Templiner-Sinisterra aus Potsdam. Eigentlich hat sie sich schon beim Heer beworben, für die Feldwebel-Laufbahn und wartet seit drei Monaten auf eine Einladung. Von der Marine hat sie zufällig auf einer Messe erfahren. Dass bei den drei Tagen auch eine echte Seefahrt dabei ist, hatte die 22-Jährige nicht erwartet.

O-Ton Templiner-Sinisterra
„Sonst bekommt man nie die Gelegenheit dazu. Ich finde es schön, dass sie uns die jeweiligen Bereiche, die es auf dem Schiff gibt, darstellen. Und wir haben nachher die Möglichkeit, auf das, was uns stark interessiert, richtig eingehen zu können, nachzuhaken, um sich noch mehr Informationen geben zu lassen – damit man weiß, ob es nichts für einen gewesen ist oder es einem doch total ins Auge springt, dass diese Abteilung etwas für einen ist.“

Ansprechpartner für die jungen Kursteilnehmer ist Kapitänleutnant Klaus-Uwe Haber, der Leiter des Truppenbesuchszentrums. In drei Tagen soll den jungen Frauen und Männern die Marine vermittelt werden - theoretisch und ganz praktisch auf der HERTEN. Das sei zumindest ein Einblick, sagt Haber.

O-Ton Haber
„Mehr als wenn mir in Mannheim oder wo auch immer ein Karriereberater von Heer oder Luftwaffe gegenüber sitzt. Da denke ich, dass man in diesen drei Tagen mehr erleben kann am eigenen Leibe - zumal wir alle Marinesoldaten sind, die selbst zur See gefahren sind.“

In den letzten Jahren seien solche Seefahrten auch mal ausgefallen, aber jetzt sei die HERTEN genau dafür abgestellt und eine solche Seefahrt sei beim Schnupperkurs garantiert. Im vergangenen Jahr organisierte Haber die erste große Personaloffensive der Marine. Die Resonanz: Über 1000 Bewerber für 790 Plätze. Am Ende kamen rund 580. Davon haben sich nach Habers Aussage dann 330 für die Marine beworben, also über die Hälfte. Ein messbarer Erfolg - anders als bei den normalen, wöchentlichen Truppenbesuchen mit bis zu 30 Teilnehmern.

O-Ton Haber
„Weil die Jugendlichen wieder nach Hause geschickt werden, sich dann dort bei den örtlichen Karriereberatern bewerben müssen und es dann zu lange Wartezeiten sind, bis es zum Bewerbungsgespräch kommen kann. Da müssen wir noch dran arbeiten.“

Insgesamt müsse die Marine in der Fläche präsenter werden, auch südlich der Küsten - mit mehr Werbung in den Medien und Informations-Ständen auf Messen. An einem solchen Konzept werde gearbeitet, so Haber.

Trotz Werbung im Fernsehen und Internet bemängelt Marine-Inspekteur Axel Schimpf, dass die Marine für viele ein - Zitat - „Unbekanntes Wesen“ sei. Die Personal-Lage mache ihm Sorge. Den Hauptgrund sieht Schimpf in der so zügig ausgesetzten Wehrpflicht.

O-Ton Schimpf
„Wir haben früher weit mehr als 40 Prozent unseres Nachwuchses über die Wehrpflicht gewonnen. Das schafft uns hier und da Probleme, vor allem, weil auch die schwimmenden Einheiten - Schiffe, Boote - nicht vollständig ausgestattet sind und damit viel Springertum und damit Unwägbarkeit entsteht.“

Für die Soldaten bedeute das lange Einsatzzeiten und eine hohe Belastung. Das kritisiert auch der Bundeswehrverband, die Interessenvertretung der Soldaten. Fregattenkapitän Marco Thiele ist dort stellvertretender Vorsitzender Marine:

O-Ton Thiele
„Das ist eine einfache Folge. Das sind Techniker, das sind Operateure, Radartechniker - da passiert es schon: der kommt nach Hause und dem wird gesagt: Pass mal auf, in drei Wochen geht die nächste Reise los. Wir haben keinen. Wir brauchen dich. Und dann geht das in die Richtung, dass der Kamerad, die Kameradin wieder los muss. Das sorgt für gewisse Unzufriedenheit. Das sind Kameraden, die Multiplikatoren sind. Nicht nur die, die Positives berichten, auch die, die Negatives berichten, sind leider Multiplikatoren.“

Heinz-Dieter Jopp war vor seiner Pensionierung an der Führungsakademie der Bundeswehr für Sicherheitspolitik zuständig. Für den ehemaligen Marineoffizier liegt das Grundproblem des Personalmangels in der fehlenden familienfreundlichen Politik. Das gelte aber insgesamt für die Bundeswehr.

O-Ton Jopp
„Die Marine müsste mehr tun. Aber die Rahmenbedingungen können nur verändert werden durch politische Entscheidungen. Wobei, nur ein paar Kitaplätze werbewirksam über die Medien zu verkaufen: ‚Dann machen wir mal eine Kita im Verteidigungsministerium auf oder auf dem Stützpunkt.‘ – das ist nicht die Lösung, sondern die Lösung ist vielfältig, wenn es um Besatzungsangehörige und Familien geht.“

Zurück an Bord der HERTEN. Die Kursteilnehmerin Marisol Templiner-Sinisterra reizt an der Bundeswehr die abwechslungsreiche Arbeit. Sie kann verstehen, warum sich viele gegen die Marine entscheiden.

O-Ton Templiner-Sinisterra
„Die meisten sind abgeneigt, weil wenn man als Marinesoldat eingestellt wird, man in der Regel nicht heimatnah stationiert ist. Das ist, glaube ich, der größte Grund, warum die meisten sagen: nee, wäre nichts für mich, dass man bis zu 200 Tage unterwegs sein kann. Das ist auch für die meisten nichts, weil dann das Boot dein Zuhause ist, die Besatzung die Familie – damit muss man sich arrangieren können.“

Zudem findet sie, würde man von der Marine nicht so viel in der Öffentlichkeit mitbekommen.

O-Ton Templiner-Sinisterra
„Also es war bei mir Zufall gewesen durch diesen Infostand, der bei dieser Messe aufgestellt worden war. Ansonsten kriegt man leider nicht so viele Informationen. Außer man sagt, man geht ins Internet und googelt mal. Aber wo kriegt man sonst die Informationen her? Nirgendwo, finde ich.“

Nach dem Einblick auf der Brücke geht Marisol mit ihrer Gruppe eine Treppe runter in die Operationszentrale des Bootes.

Oberbootsmann Hannoschöck führt die jungen Leute gerne durch die HERTEN - nicht das erste Mal.

O-Ton Hannoschöck
„Lustigerweise sind die meisten Fragen zu meiner Freundin, nicht, weil die alle meine Freundin werden wollen, aber weil die halt alle fragen, wie mein persönliches Umfeld ist, wie man hier lebt. Da kann ich immer nur positive Sachen erzählen. Weil ich super viel Urlaub habe, eigentlich fast jedes Wochenende nach Hause komme. Die häufigsten Fragen sind, wie man mit seinem Umfeld klarkommt, wo ich überall gewesen bin, wieviel Kohle ich verdiene, was man so macht und so.“

Nach dem Essen will Tobias Flick hoch zur Brücke. Der 19-Jährige macht gerade sein Abitur. Bis zum 1. März will er sich als Offizier bei der Marine bewerben. Sein Traum sei der Arbeitsplatz auf der Brücke, aber auf einem größeren Schiff, sagt er und geht zu einem der Offiziere:

O-Ton Flick / Offizier
„Ich hätte mal ein paar Fragen. Ich wollte die Offizierslaufbahn einschlagen. Wie schätzen sie die zukünftigen Plätze hier ein? Generell bei der Marine als Offiziersanwärter?“ / „Es gibt einige Bewerbungen, wobei sich in der Vergangenheit gezeigt hat, dass diejenigen, die es wirklich wollen, die sich auch im Klaren darüber sind, was für Risiken, Chancen und Möglichkeiten sich bieten, in der Regel positiv bedacht worden sind, was Zusagen angeht.“ / „Das hört sich ja erstmal ganz gut an.“

Die 17-jährige Schülerin Katharina aus Braunschweig hat von dem Schnupperkurs an ihrer Schule erfahren. Im Moment ist sie verunsichert.

O-Ton Katharina
„Naja, erstmal drei Wochen auf so einem Schiff zu leben. Beengt auf, ich weiß nicht wieviel Quadratmeter das sind. In einem kleinen Bett zu schlafen. Keine geregelten Zeiten. Bei Wind und Wetter da zu sein. Wenn man beim Heer ist, kann man seinen Abstand haben, Zeit für sich haben. Hier ist man drei oder vier Wochen wirklich aufeinander, hat immer die gleichen Leute um sich, und man hat hier nie so wirklich seine Privatsphäre.“

Nach etwa sieben Stunden läuft die HERTEN wieder in den Hafen ein. An Deck verabschiedet Kommandant Olaf Hoffmann die Kurs-Teilnehmer.

O-Ton Hoffmann
„So, wie war’s? Daumen hoch, Daumen runter? Wenn wir irgendwas besser machen können, wenn ihr gerne was gesehen hättet, sagt es bitte. Ich hoffe, euch hat‘s Spaß gemacht und Ihr habt eure Fragen beantwortet gekriegt. Vielleicht irgendwann mal in dieser Marine. Das war kein Schnack. Die ersten haben wir schon, die im September hier mitgefahren sind. Jetzt laufen ein oder zwei hier im Geschwader rum, die sich beworben haben und eingestellt worden sind.“

Über die Gangway geht die junge Besatzung auf Zeit wieder an Land. Jetzt liegt die Entscheidung bei jedem selbst: Marine - ja oder nein.

* Aus: NDR Info: Das Forum STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 22. Februar 2014; www.ndr.de/info


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